Am Abend werfe ich die letzten Erdbeeren weg. Süß und vergoren steigt es aus der halbvollen Schüssel auf und trägt mich zurück, zwanzig Jahre und einige hundert Kilometer an den Rand des Erdbeerfeldes, wo die M. damals in einer Bretterbude saß. Wir waren eng befreundet.
Die Eltern der M. hatten Erdbeerfelder, und jeden Morgen kamen Türkinnen mit bunten Kopftüchern, ernsthafte, oft ältere Frauen, die die Erdbeeren pflückten. Die M. musste dann wiegen, die Frauen bezahlen, und dann saß sie die halben Sommerferien in der Bretterbude und verkaufte. Die ganze Welt roch nach Erdbeeren, und die M. trug eine braune Schürze mit dunkelbraunen Flecken vom Erdbeersaft.
Jeden Nachmittag fuhr ich an der Erdbeerbretterbude vorbei, meistens vor oder nach dem Reiten. Eine halbe oder ganze Stunde saß ich bei der M., aber was wir uns erzählten, was wir hofften oder erwarteten damals, ist so weit weg wie die M., von der ich nichts mehr gehört habe, seit ich wegzog, erst noch schrieb, und dann wurden die Briefe weniger, seltener und blieben aus. Ich weiß nicht, wie es ihr geht. Vielleicht hat sie die Erdbeerfelder übernommen. Vielleicht aber sitzt auch sie Tag für Tag in einem Büro, trägt einen Hosenanzug statt der braunen Schürze und kommt am Abend spät nach Hause.
So spät wie ich aber kommen wenige heim. 22.45 Uhr war es heute. Die Mittagspause abgezogen habe ich ziemlich genau zwölf Stunden gearbeitet.
Ich möchte ein Handgelenkstäschchen haben. Ich will ein Handgelenkstäschchen in einem sehr, sehr pastelligen Pistazienton, ähnlich einem Macaron von Ladurée. Das Täschchen soll länglich sein, etwa doppelt so lang wie hoch, am besten aus Straußenleder, und zwischen dem Täschchen und der Schlaufe, an der das Täschchen an meinem Handgelenk hängt, soll sich ein goldfarbener Messingring befinden. Den Reißverschluss wünsche ich mir gleichfalls in Gold.
Mit dem Täschchen ums Handgelenk würde ich im Prenzlauer Berg spazieren gehen. Ich würde dazu meine neuen Jeans tragen, heute erstanden im Lafayette, das fabelhaft menschenleer war, weil außer mir nur ganz wenige Leute wahnsinnig genug sind, am Sonntag ins Lafayette zu gehen. Diese neuen Hosen werde ich überhaupt sehr, sehr viel tragen, Handgelenkstäschchen hin oder her, weil es sich zweifellos um die Hosen des Glücks handelt, die mir in nur ungefähr zehn Minuten einfach so entgegenflogen. Ich habe nur zwei Paar anprobiert – 29/32, normaler Schnitt, normale Farbe – und beide passten. Ich habe dann die bequemere Hose gekauft, obwohl Bequemlichkeit eigentlich kein Argument sein darf, wenn es um Kleidung geht, denn fängt man mit bequemer Kleidung erst einmal an, steht man eines Morgens auf und schlurft in Trainingshosen einkaufen.
Zu den Jeans und dem Handgelenkstäschchen würde ich eine weiße Bluse tragen. Mein neuer Shawl dagegen passt wahrscheinlich nicht zu dem zarten Pistazienpastell, denn er ist violett, sehr violett, und gleicht dem Shawl meiner Freundin I., den ich mir kürzlich geliehen habe, der mir fabelhaft stand, und den ich so ungern wieder zurückgegeben habe, dass ich mir heute gleich einen sehr ähnlichen, wenn nicht sogar identischen Shawl im Erdgeschoss des Lafayette kaufen musste, das leider zwar viele Taschen führt, auch einige Handgelenkstäschchen feilbietet, aber keins davon pistaziengrün, straußengenoppt, göttlich anzuschauen und (ach!) perfekt.
(Ansonsten viel geschlafen. Abends Maispoularde mit Reis und Salat. Evelyn Waugh zum Frühstück.)
Ich glaube nicht an innere Werte, aber an innenliegende Muskulatur. Zumindest bei anderen. Weil aber auch ich dieses Jahr – endlich, nur einmal, nur einen Sommer – einen Bikini tragen will, stehe ich um 9.00 Uhr auf, dusche, packe meine frisch erworbenen Sportsachen in eine große Tasche und fahre los. Um 10.15 geht es los.
Außer mir ist noch ein weiterer Kursteilnehmer erschienen, der Pilates wohl schon etwas länger macht. Er schnauft furchterregend. Muss man das so machen, frage ich mich? Mache ich etwas falsch? Indes korrigiert der Trainer die ganze Zeit meine Körperhaltung, schiebt Knie, Arme, Schultern und Hüften hin und her, weil ich nicht so schnell nachkomme mit den Anweisungen, aber zu meiner Atmung sagt er nichts.
Der Anstrengungsgrad ist etwas enttäuschend. Ich hatte mir ein wenig mehr Fettverbrennung vorgestellt, aber komme nicht ein einziges Mal außer Atem. Da muss wohl doch gelaufen werden oder Rad gefahren, denke ich mir, und ziehe ein weiteres Mal die Knie nach oben, die Schultern nach unten, die Hände nach vorn, und dann ist es vorbei. Nächsten Samstag wieder.
11.30 Uhr. Kollwitzmarkt
„Zwei Pfund Spargel und zwei Pfund von den Frühkartoffeln bitte!“ brülle ich an einem Kleinkind vorbei über einen Brokkoliberg. 10 Euro soll das Ganze kosten. Tomaten habe ich noch, Hüftsteaks werden gekauft, Maishähnchen, Salat, Gurken, ein Großeinkauf bei Butter Lindner und dann nach Hause. Nichts wie weg hier. Zunehmend füllt sich der Markt, wenn das überhaupt noch möglich sein sollte, mit schlendernden Menschen, die umhergehen, winzige Mengen kaltgepresster Öle erwerben, sich nicht entscheiden können zwischen dem Pata Negra und dem Serrano-Schinken, und ihre Kinder fest an der Hand durch das Gedränge bugsieren.
Neben mir in der Butter-Lindner-Schlange diskutieren zwei Frauen, ob S*x mit dem Prozessvertreter einer Partei ein Befangenheitsgrund für eine Richterin sei. Ein großer, hübscher Vierzigjähriger zwinkert mir zu, und ich überlege, ob ich den Mann von irgendwoher kenne. Ich erkenne Anzugträger in Jeans oft nicht wieder. Verlegen lächele ich zurück.
Bei Lautz angekommen starre ich ganz fest auf die andere Seite. Ich kann unmöglich Kuchen essen, denn dann werde ich demnächst platzen, präge ich mir ein. Auch den Lakritzverkäufer lasse ich links liegen, kette schnell mein Fahrrad los und fahre weiter. Drei Flaschen Wein lasse ich mir einpacken, zwei habe ich noch, Bier kommt. Das müsste reichen.
„Da bist du ja.“, sagt der J. und trägt fröhlich und frisch geduscht den träge blinzelnden Kater durch die Wohnung.
19.00 Uhr: Spargel
Mit dem Sparschäler in der Hand auf dem Sofa. Spargel schälen, ein bißchen plaudern. Sich fragen, ob man eigentlich fünf oder zehn Leute zum Wein eingeladen hat, und sich dann sagen, das sei doch auch egal. Es werde schon reichen.
Dem J. gegenüber sitzen, Spargel essen, sich über die schlechten Hüftsteaks ärgern, die irgendwie zäh sind, ganz und gar unzerkaubar, und am Ende noch zwei, drei Kartoffeln aus dem Topf essen, mit Hollandaise und grobem Salz dazu.
1.42 Uhr: Zu Bett
Gäste zum Digestif. Einfach im Sessel sitzen, erst Bionade, dann Sekt und schließlich Rotwein trinken, ab und zu etwas sagen, und sich wohl fühlen, weil man umgeben ist von angenehmen Menschen. Am Ende mit dem J. im Wohmzimmer, ihn fragen, ob man noch irgendwohin will, ausgehen, tanzen vielleicht, wie ursprünglich erwogen, und als er abwinkt, zu Bett gehen, weil es allein keine Freude macht, nun ein Taxi zu rufen, vor Türen zu stehen, den Anschluss zu finden an eine fremde Stimmung, ein anderes Tempo, und stattdessen im Bett liegen, den Rechner auf den Knien, und mit den Katzen zu sprechen, als verstünden sie, worum es geht.
Weil mir gestern abend um halb neun der Fahrradsattel abkippt, schreibe ich um zwanzig vor neun eine Mail an alle. Weil mir zehn vor neun ein Kollege einen Inbusschlüssel bringt, kann ich um fünf nach neun tatsächlich aufbrechen, aber da bin ich schon fünf Minuten zu spät. Weil ich nicht weiß, wer schon eingetroffen ist im Mao Thai, fahre ich direkt los, um die Reservierung nicht zu verlieren, und mache keinen Zwischenstopp mehr in der LPG. Heute morgen ist also nichts zu essen im Haus. Nicht einmal Brot und Milch. Gefrühstückt wird deswegen auswärts. Auf der Holzterrasse des Café Fleury sitzen der J. und ich unter Straßenbäumen, alle Welt und wir tragen riesige Sonnenbrillen, es gibt Joghurt und Obst und Baguette und Café au lait für den J. und schwarzen Kaffee für mich.
Weil die Nachbarn alle total laut sprechen, und ab und zu rattert die Tram vorbei, muss ich selber noch viel lauter sprechen, damit die C. am Telephon mich versteht. Nervös und etwas unglücklich schaut der J. betreten umher. Er hasse es, zischt er mir in eine Gesprächspause, wenn Leute öffentlich laut telephonieren. Indes sei das nicht zu ändern, zische ich zurück. Die C., höre ich, fährt noch heute nach Dessau und kommt erst Sonntag zurück.
Der J. und ich spazieren ein bißchen herum, sehen den Ausflugsschiffen zu, und kaufen an der Museumsinsel ein paar alte Inselbändchen. Mitte ist schwarz vor Menschen, vorm Pergamon-Museum stehen die Busse aus der Provinz in einer langen Reihe, und aufgeregte Menschen in der seltsamen Kluft, die manche Menschen tragen, wenn sie woanders sind, schießen viele, viele Photos. Auf der Spreepromenade am Bode-Museum, wo sich bis letzten Sommer die Strandbar Mitte befand, stehen nun Tische und Stühle. Sand scheint es nicht mehr zu geben.
Weil es vier Stunden später immer noch nichts zu essen gibt, taue ich auf, was in der Tiefkühltruhe ist. Es soll also Fischcurry geben, Heilbutt, Spinat, Möhren und Reis. Leider gibt es weder Kokosmilch noch Joghurt, ich vermische Madras-Curry, Tomatenmark, Apfelmus und Gemüsebrühe für eine Sauce, die scheußlich schmeckt. Der Heilbutt wirkt schleimig. Nach dem Essen sehe ich den J. auf dem Sofa im Arbeitszimmer liegen und auf den Speisekarten von Restaurants Menüs zusammenstellen, die er bestellen würde, wäre er da. Der J., vernehme ich, möchte gern ins Vau. „Dreierlei vom Lamm“, höre ich noch, als ich den Raum verlasse.
Im Lassunsfreundebleiben gegen zehn trinke ich eine Weinschorle. „Willst du noch irgendwohin?“, frage ich den J., der verneint. Statt auszugehen sehen wir daher eine DVD, Margaret Rutherford spielt Miss Marple, und ich fühle mich gut, aber sehr, sehr alt. Der Kühlschrank ist immer noch leer.
Es scheint – aber da mag ich mich täuschen – einen gewissen Rückgang von Tagebüchern und Briefwechseln in Buchform zu geben. Während kaum eine Korrespondenz von Thomas Mann zu existieren scheint, der sich das Verlagswesen nicht angenommen hat, und die Flohmärkte voll sind mit Briefen von Menschen, die zugegeben mittelmäßig gebildete Menschen wie ich lediglich als Fußnote der Politik- oder Literaturgeschichte kennen, ist derlei von Zeitgenossen weniger bekannt: Rainald Goetz fällt mir ein, natürlich Helmut Krausser; ansonsten aber scheint das Alltagsleben zeitgenössischer Autoren wenig publiziert zu werden. Es mag da die generelle Beschleunigung des Alltags eine Rolle spielen, die solchen Publikationen möglicherweise den Käuferkreis nimmt.
Was der Kunst recht zu sein scheint, ist den Nicht-Künstlern offenbar billig. Es gibt kaum echte Tagebücher von Allerweltspersonen auf den Litfasssäulen der elektronischen Welt. Mir zumindest ist kaum ein solches Projekt bekannt, und gelegentlich bedaure ich das Fehlen dieser Fenster in das Leben anderer Leute. Um so lieber liest man ein Experiment wie den geblogten April des geschätzten Herrn Mek, und denkt sich, dass dies eine interessante Sache sei. Wenn nicht für andere (mein Leben ist von durchaus überschaubarem Interesse), so doch für mich.
In Schweden war ich ja sozusagen zweimal. Beim ersten Besuch war ich schätzungsweise sieben, es war Sommer, und alles, woran ich mich erinnere, ist ein Sturz vom Küchentisch, spektakulär und ziemlich blutig. Es muss trotzdem lustig gewesen sein, denn auf den wenigen Photos dieses Urlaubs strahle ich mit einem Mund voller Milchzahnlücken vor einer Kulisse aus Strandhafer und blaublitzendem Himmel in einem roten Badeanzug in die Kamera. In diesem Urlaub waren wir – aber das habe ich alles vergessen – auch in Stockholm. Für einen Tag.
Beim zweiten Schwedenbesuch war ich 17. Mein damaliger Freund wollte angeln, er wollte nach Schweden, er hatte alles organisiert, und weil ich den Plänen von Leuten, die alles organisieren, aus schierer Faulheit nur selten widerstehen kann, fuhr ich mit. Wir waren – das war mir im Vorfeld irgendwie entgangen – vom Meer bestürzend weit weg. Wir saßen zu zweit in einem kleinen Holzhaus, das wirklich aussah wie Bullerbü, nur ohne Nachbarn, und neben dem Haus war ein sehr, sehr großer See, aus dem mein Freund grüne, schleimige Fische zog, tötete und grillte. Sie waren alle exorbitant trocken und schmeckten nach Holzkohle und Ketchup.
Weil sich am See außer dem Haus und meinem angelnden Freund noch sehr viel Wald befand, war alles voller Mücken. Ich las mit Insektenstichen dicht gesprenkelt von morgens bis abends, unter anderem sehr viel Strindberg und Tucholskys Gripsholm, weil das so schwedisch war, aber in der Einöde mit meinem Freund und den Fischen erinnerte leider nichts an die sexy Sommerfrische des dicken Dichters aus Berlin. Es hat dann auch nicht mehr lange gedauert mit meinem Freund und mir.
Im Juni – also in so circa acht Wochen – versuche ich es noch einmal mit Schweden. Geangelt wird diesmal nicht. Zahnlücken habe ich derzeit keine. Einen Flug habe ich immerhin. Ein Hotelzimmer in Stockholm, fünf Freunde kommen mit, und niemand von uns weiß mehr von Schweden als das, was man so landläufig über Skandinavien denkt: Teurer Wein denkt man. Riesige, blonde Menschen. Weiße Nächte Ende Juni (oder war das Russland?). Ikea, H&M, Astrid Lindgren, skandinavisches Design, aber ob es da etwas zu sehen gibt, was man so macht, tagsüber und abends, wenn man drei Tage in Stockholm ist, was es zu essen gibt und wo man das essen sollte – das wissen wir alle nicht.
Manche Traumata sind ja eines Tages einfach da, und dann braucht man Jahre beim Therapeuten, um sich zu erinnern, wie alles so kommen konnte, wie es gekommen ist. In manchen anderen Fällen – etwa meinem ganz persönlichen Bikiniproblem – dagegen ist der Sachverhalt klar:
Man stelle sich also eine dreizehnjährige Modeste vor. Mittelgroß, mittelschlank, langhaarig, aufs Scheußlichste bebrillt, und das ganze Wochenende allein zu Haus. Es ist Juni. Vor dem Fenster des Kinderzimmers (orangefarbener Teppichboden, Kiefermöbel) schwanken die Äste eines Obstbaums hin und her. Im Garten, ein Stockwerk tiefer, läuft der Hund durch die Beete und schnappt vergeblich nach Insekten. In der Küche stehen Erdbeeren im Kühlschrank, in der Obstschale liegt ein bisschen Geld für etwas zu Essen, und neben meinem Bett liegt ein Haufen Zeitschriften, die meiner Mutter gehören. Brigitte war, glaube ich, dabei. Madame, Cosmopolitan und die Vogue.
Auf die Idee, man könne ähnlich aussehen wie die Frauen in der Zeitung, bin ich, glaube ich, gar nicht ernsthaft gekommen. Nicht einmal die ausgestellten Kleidungsstücke wollte ich haben, aber dass die Frauen in der Zeitung richtig aussehen, voll und ganz und unerreichbar regelgerecht, das war mir klar, und so stand ich auf, wühlte in dem Rucksack neben meinem Schreibtisch nach einem Lineal und dem Taschenrechner, und vermaß die abgebildeten Damen vertikal wie horizontal, setzte die Länge der Hochglanzfrauen in Relation zur eigenen Größe und setzte anhand der abgebildeten Schönheiten den Maßstab der eigenen Schönheit fest. Dann stand ich auf und ging zu meinen Eltern. Genauer gesagt: In ihr Schlafzimmer. Da stellte ich mir vor den Spiegel.
Was ich sah, gefiel mir nicht. Noch schlimmer: Es stimmte – nachgemessen mit einem Zentimetermaß – auch in keiner Weise mit dem Maßstab der Schönheit überein, den ich mir aufgeschrieben hatte. Zum einen beruhte das auf einem schon damals bedauerlichen Übergewicht, zumindest gemessen an der Sollvorstellung, welche für Frauen gilt, die in Zeitschriften abgebildet werden. Zum anderen aber waren auch die grundsätzlichen Proportionen meines Körpers verhältnismäßig weit weg von dem Zustand, wie er hätte sein sollen. Die Beine waren zu kurz, die Arme etwas zu lang, und mein Bauchnabel war zu hoch. Deutlich zu hoch: Anstatt mittig knapp oberhalb der Hüftknochen, saß und sitzt mein Nabel circa fünf bis sieben Zentimeter näher am Brustkorb. Ich war erschüttert.
Eine operative Verlegung des Bauchnabels kam schon aus Kostengründen keineswegs in Betracht. Einen Freund, vor dem es sich unbekleidet zu präsentieren gelten würde, würde ich mit diesen Proportionen, nahm ich an, ohnehin nicht einmal angezogen von mir überzeugen können. Die einzig bedenkliche Situation war damit der Strand, oder zumindest die Badestelle um die Ecke. Ziemlich belämmert und mit hängendem Kopf begab ich mich also wieder in mein Kinderzimmer und knüllte meinen ersten, vor wenigen Wochen erstandenen roten Bikini mit den weißen Punkten in der Sportbekleidungsschublade ganz nach hinten. Im folgenden Sommer trug ich also wieder Badeanzug.
Berlin leuchtet. Schräg hinter meinem Begleiter spiegeln sich Sonne und Spree in den Fensterfronten des Jakob-Kaiser-Hauses, und jeder, dem ich schon einmal die Hand geschüttelt habe in den letzten Jahren, strahlt und winkt mir im Vorbeilaufen zu, als überbringe er mir und dem Rest der Welt eine ganz besonders freudige Botschaft. Mit vollem Mund, vor mir einen Teller Tagliatelle mit Lamm und Kirschtomaten, winke und lache ich zurück. Das Leben ist schön am Freitagmittag, und Berlin ist es besonders. Mein Gegenüber jedoch sieht das grundlegend anders.
„Das Wetter. Der Dreck Und diese Unfreundlichkeit“, mäkelt er mit einem ganz, ganz langen „U“ an der nun auch schon wieder seit mehr als zehn Jahren neuen Heimat herum und vergleicht wortreich Berlin und Bonn: Berlin verliert immer. – In Bonn, so höre ich, habe sich noch jeder gekannt. Berlin dagegen sei viel zu groß, und zudem seien die Berliner heillose Fälle: Die Kellner schweißstinkend und ruppig, die Verkäuferinnen barsch, fett und ungepflegt, und das Fräulein auf dem Amt langsamer als eine fußkranke Weinbergschnecke. Außerdem sei das Berliner Essen notorisch schlecht.
„Man muss ja nicht im Eisbein-Eck essen.“, verkneife ich mir meine Meinung über die insgesamt ganz gute Berliner Gastronomie, denn die Freunde des ehemaligen rheinländischen Regierungssitzes von den Vorteilen ihrer Umsiedlung an die Spree zu überzeugen, ist – wie vielfach erfahren – von vornherein sinnlos. Wozu also, denke ich mir, die Berliner Sommer loben, die die langen, grauen, widerlich kalten Winter doch mehr als wettmachen. Warum darauf hinweisen, dass Metropolen stets dazu neigen, lauter, chaotischer und dreckiger zu sein als ein niedliches Universitätsstädtchen in der Provinz, in dem sich ganz bestimmt gut leben lässt, wenn man sich auf Erden in erster Linie für den Bau eines Eigenheims und die Vorgartenpflege interessiert? Und dass es nutzlos ist, diesem Herrn vorzuhalten, dass die Berliner Unfreundlichkeit ein Mythos ist, ein nie real gesichteter Wolpertinger des Stadtlebens, liegt dermaßen auf der Hand: Ich schweige also und esse.
Tatsächlich verhält es sich nämlich so: Die Berliner sind charmant. Die Taxifahrer der Stadt machen ihren Kundinnen überraschend poetische Komplimente zu schönen Haaren, Augen und Zähnen, verschenken türkisches Konfekt oder Mozartkugeln, schalten Taxameter aus, wenn sie sich verfahren haben, und selbst wenn sie kein Wort deutsch sprechen, weil sie mit der Lizenz von sonst wem unterwegs sind, sind sie zum Ausgleich fast ausnahmslos sehr, sehr nett. Wenn sie komische Ansichten über Gott und die Welt haben, äußern sie sie wenigstens ziemlich putzig.
Die Berliner Verkäuferinnen sind so gut wie alle wahnsinnig freundlich. Ziemlich oft haben sie zwar keine Ahnung, weil gerade die hübschen Mädchen in vielen Boutiquen verkleidete Studentinnen sind, die weder das Sortiment kennen noch wissen, wo irgendwas ist, aber nett und gutartig und mit einem Sack guter Laune zwischen den Waren stehen. Manchmal hat man sogar Glück wie gestern auf der Sonnenbrillenjagd am Hackeschen Markt, wo die blonde, freundliche, sehr gepflegte und ausnahmsweise wirklich kompetente Verkäuferin mir eine Sonnenbrille hinhielt, auf die ich selber nie gekommen wäre: Die Brille sah großartig aus. „Die sind diese Woche alle runtergesetzt!“, pries die Verkäuferin die sehr, sehr überzeugende Preisgestaltung für das gute Stück, verkaufte dem J. noch eine braune Ray-Ban und applizierte meinem ziemlich kurzsichtigen geschätzten Gefährten als Draufgabe ein paar Dailies.
Sogar beim Bäcker, wo am Sonntagmorgen der ganze Prenzlauer Berg in der Backstube neben dem Café seine Semmeln kauft, bleiben die Verkäuferinnen nett. Selbst wenn man zum wiederholten Mal in Folge Bargeld vergisst und deswegen versucht, € 2,30 mit Karte zu zahlen, gibt es keine bösen Blicke, sondern nur den Vorschlag, den Kuchen des nächsten Kunden mit der Karte mitzubezahlen, und der gäbe einem dann das Geld. Der nächste Kunde, ein mittelalter Pseudobrite in Cord und Tweed wiederum offeriert, mir die Semmeln zu schenken, und nach einigem Hin und Her nehme ich an. Als Dankeschön gebe ich ihm den Lolli, den mir der Fischmann vom Kollwitzmarkt allwöchentlich in die Hand drückt.
Aus dem KaDeWe komme ich vor zwei Wochen mit genug Pröbchen für eine ausführliche, zur Stunde noch nicht abgeschlossene La Prairie vs. Elizabeth Arden-Testreihe. – im Schuhgeschäft Orlando nimmt die Schuhverkäuferin eine ganze Schaufensterpuppe auseinander, weil mir ein Rock mit Satinpasse in taupe noch besser gefällt als die dieses Jahr leider total unüberzeugenden Schuhe, und er anders von der Puppe irgendwie nicht abgeht. – Weinhandlungen verlässt man oft mehr als nur ein bisschen angetrunken, weil die Händler einem außer den Weinen, von denen man einen kaufen will, einen Cava einschenken, um auf das Wochenende anzustoßen, oder einen Eiswein, damit man sich mit ihnen an diesem großartigen und nach Ansicht von Weinhändlern vielfach unterschätzten Produkt freut.
Ganz generell: An Berliner Türen klopft man eigentlich nie vergebens. Ich weiß nicht, wie man beschaffen sein muss, um irgendwo nicht reinzukommen, gleichgültig, ob man da etwas zu suchen hat oder nicht. Die Berliner Clubs sind die demokratischsten der Welt, und völlig egal, in welchem Restaurant man anruft, nie sind die Mädchen am Telefon überheblich, und selbst ein so wahnsinniges Unterfangen, wie am Samstag um fünf zu versuchen, im Grill Royal um acht einen Tisch zu bekommen, funktioniert entweder, oder es tut der Frau am anderen Ende des Telefons wirklich leid. Nächstes Mal wieder, Frau Modeste.
Überhaupt sind die Berliner Kellner super. Die meisten haben keinen Schimmer, ob man von rechts oder links serviert, ab und zu schwappen Cocktails beim Versuch, das Glas abzustellen, überraschend einfach über, sie duzen die konsternierte, steinalte Oma des J., vergessen manche Bestellungen oder bringen einem irgendetwas, was man garantiert nicht haben wollte, verzählen sich bei der Anzahl bestellter Austern („verdammt – das sind ja echt nur elf!“), aber man käme sich kleinlich vor, nähme man übel. Tatsächlich ärgert man sich nur ganz, ganz selten. Ich habe keine Ahnung, wie es zu den Testberichten im Netz oder im Gault Millau kommt, in denen diesem oder jenem Laden die Arroganz seiner Kellner vorgeworfen wird: Ich habe in sieben Jahren nichts am 103 auszusetzen gehabt. Ich bin weder rund um den Gendarmenmarkt noch vor und hinter der Weidendammbrücke jemals anders als herzlich bedient worden, und die Reaktion auf jede Panne, vergessene Bestellungen oder ausgegangene Getränke war stets ehrliches Bedauern und meist ein Versuch der Kompensation: Der Whiskey in der Bebel-Bar, von dem nur noch so wenig da war, dass mein Begleiter einen zweiten, anderen dazu bekam. Der falsche Champagner meiner Freundin C., die als Ausgleich (das richtige Getränk war nicht mehr da) drei Schälchen mit Finger Food erhielt. Die vermeintliche Störung in der Victoria Bar durch eine Veranstaltung, die dem J. und mir ein paar Teller mit irgendwas Leckerem drauf bescherte, und ab und zu die schiere und anlasslose Nettigkeit, wie der völlig überdimensionierte Lammfleischberg des J. im Paris Moskau letzte Woche, als der geschätzte Gefährte beschloss, das – wirklich empfehlenswerte – Jubiläumsmenü um einen weiteren, mehrfach an uns vorbeigetragenen Gang zu erweitern.
„Ich mag die Stadt.“, sage ich daher und lege die Gabel auf den Teller. Sofort kommt der Kellner und räumt ab. „Ich lebe lieber in meiner Stadt als in ihrer.“, hätte ich sagen können, aber schweige und rauche, und sehe der Stadt zu, wie sie rechts und links der funkelnden Spree atmet und lächelt und glänzt.
Zu mir aber käme er ganz bestimmt nicht als ein deutscher Philosoph und noch nicht einmal als Pudel. Ein ganz normaler Mann säße, komme ich heim, auf dem Sofa, rauchte starke, scharfe Zigaretten und deutete, stünde ich in der Tür, auf meinen Sessel, als sei er hier daheim und nicht ich. Da säßen wir dann, und ich sähe ihn an.
Ich wisse schon, was er von mir wolle, würde er sagen und füllte sein Glas mit meinem Wein, und obwohl er recht hätte, schüttelte ich den Kopf. Er würde lachen. Sehr aufgeregt wäre ich, weil man derlei Besuch nicht oft bekommt, und würde ihn genau betrachten, um später aller Welt erzählen zu können, wie er aussieht. Dunkel stelle ich ihn mir vor, zartgliedrig und hübsch, mit blauen Schatten unter den Augen und langen, wächsernen Fingern. Einen Anzug hätte er an, italienisches Fabrikat, einen Ring am rechten, kleinen Finger, und seine Schuhe glänzten so sehr, als sei er nicht zu Fuß gekommen, und das würde wohl auch so sein.
Dann aber sprächen wir von Geschäften. Dass man es ja eh nicht richtig machen könnte, würde er werben, und dass jeder schuldig würde, ausnahmslos und immer. – Vor dem Fenster aber leuchtete der Abend, als gebe es ihn nicht, und auf dem Tisch verströmte ein Strauß Tuberosen die ganze süße, betäubende Fäulnis des Sommers. Heiß wäre mir, und mein Blut schlüge mir hart an die Schläfen.
Dass nichts vollkommen sei, und die Vollkommenheit selbst unerträglich, würde er wispern. Dass jedes System fehlschlüge, weil der Fehler älter sei als alle Logik. Dass die Marktwirtschaft etwa, würde er sagen, an der Gier kranke, und der Sozialismus an der Trägheit. Dass die Schönheit zum Hochmut verführe, die Hässlichkeit zur Larmoyanz, dass man den einen Mann verlasse, weil er zu langweilig sei, und den anderen, weil man ihn nicht aushielte, und nur der sei zu beneiden, der die Fehler einbaue, annehme, der selbst zum Fehler würde und tanzte lachend, den Preis des Fehlers in den vollen Händen. Dass doch ohnehin, wie es sei, alle Mühe vergeblich sei, und die Mühe selbst daher zu verwerfen. Dass am Ende doch gleich sei, ob das Scheitern trotz der guten Vorsätze oder wegen der schlechten eingetreten sei, und nur derjenige wahrhaft klug zu nennen, der im richtigen Moment die Augen zu schließen imstande sei und dies auch tue.
Fast vernünftig erschiene mir seine Rede. Die Katzen aber maunzten ängstlich im Bad. Die Blumen welkten von seinem Anhauch, und vor dem Fenster triebe ein plötzlicher Windstoß alte Blätter durch die Straßen, und ich schlänge erschauernd die Arme um meinen Leib, als gelte es, mich zu schützen. Er aber würde lachen. Dass jede Ziererei vergeblich sei und ganz und gar ridikül, würde er brüllen, ausgelassen, mit aufgerissenem Mund und spitzen, schadhaften Zähnen. Dass ich, wir alle, das alles Leben vor und hinter der Tür, sein längst sei, dass nur der Preis, der Lohn noch Verhandlungssache, dass ich es mir überlegen könne oder auch nicht, und in einer Welt aus Falschheit das Richtige nichts weiter sein könne als dumm.
Wütend würde ich werden, und wiese ihm die Tür. Bebend vor Lachen bliebe er sitzen, streckte die Hand nach mir aus, sekunden- ach: minutenlang und vielleicht, möglicherweise, ich weiß es nicht genau, griffe ich zu und würde es bedauern im selben Moment.
Warum nicht gleich so, würde er sagen, und ich läge, klopfenden Herzens, an seiner Brust.
Sich auf der Treppe, auf dem roten Sisal zwischen der Haustür und dem vierten Stock ausmalen, wie das wäre, wenn man klingelt, und es würde aufgetan. Was ich sagen würde, stünde man mit offenen Armen in der Tür, strahlte man mich an, und die Kerzen würden brennen und warmes Brot mit Salz und Kümmel stünde auf dem Tisch.
Wie das wäre, wäre ein Bad eingelassen und Blumen stünden in der leeren Vase auf dem Bord. Der Duft nach deinem schwarzen, lockigen Haar, und der Geruch am Morgen, in der kleinen Kuhle zwischen Schulter und Hals. Liefe Musik. Spräche jemand mit mir über die wundgerissene Schönheit der Stadt, des wiedergeborenen Winters, vielleicht vom wehenden Schnee und striche mir sanft, mit warmen, offenen Händen über das Haar, über den Rücken, und zählte meine frierenden Finger bis zehn, bis ich fast sicher wäre, dass alles noch da und alles in Ordnung wäre, was es auch sei.
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