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Die München XXL-Verschwörung

Nein, ich habe nichts gegen München. Ich hege wirklich keine Vorbehalte gegen die Hauptstadt aller Bayern, und würde sogar den Umzug an die Isar erwägen, würde nächste Woche Berlin von einem Meteorit pulverisiert. Heute allerdings …

Aber beginnen wir von vorn.

Gegen 14.00 Uhr breche ich in der Münchner Innenstadt auf. Ein nur kleines Köfferchen und eine noch kleinere Handtasche ermöglichen den weiteren Transport per U-Bahn, die zu nutzen, wie Münchener mir versichern, unbedenklich sei. Der Flughafen sei – so einheimische Experten – auch nicht zu verfehlen. Den Weg schreibt man mir auf.

Nicht aufgeschrieben hat man mir allerdings den richtigen Tarif. Vor dem Automaten stehe ich also recht ratlos. Eine Zone, denke ich mir, ist sicherlich zu wenig, schließlich liegt der Münchener Flughafen bekannt weit weg, und aus den Transrapid-Plänen ist – wie die Welt weiß – nichts geworden. Zwei Zonen erscheinen mir auch ziemlich riskant, man will ja sicher gehen, denke ich mir, und so schiebe ich zehn Euro in den für Banknoten vorgesehenen Spalt und drücke auf die Taste „München XXL“. Dann steige ich auf die Rolltreppe und fahre los.

Neben mir zieht ein junges Mädchen die ganze Zeit an einem Kaugummi. Auf der anderen Seite des Ganges unterhalten sich zwei junge Männer im Anzug über eine dritten, der ein ziemliches Rindvieh sein muss, oder zumindest im Kollegenkreis als solches gilt. Wie andere Leute wohl über mich sprechen, überlege ich, und male mir aus, was man wohl über mich sagen könnte, wenn man mich nicht mag.

„Ihr Fahrschein bitte.“, unterbricht ein älterer, grauhaariger Mann meine Gedanken. Knollig sieht er aus, überzogen mit roten Äderchen, und auf der Stelle regt sich in mir eine kräftige Antipathie. Wortlos strecke ich ihm mein München XXL-Ticket entgegen. Zehn oder zwölf Sekunden starrt der Schaffner unverwandt auf den kleinen Fetzen Papier. Dann schaut er auf. „Sie haben kein gültiges Ticket.“, behauptet er, so laut, dass die Anzugmänner aufsehen und ihre Suada über das abwesende Rindvieh stockt.

Das Ticket, erfahre ich, reiche nicht aus. München XXL umfasse keineswegs auch den Flughafen. Vielmehr sei München XXL kurz vor dem Flughafen zu Ende. Und nein, nachlösen ginge nicht. Und einfach bezahlen könne er mir nicht raten, denn mit einem gelösten, wenn auch unzureichenden Ticket habe man Einspruch einzulegen, Nachweise zu führen, und dann könne man, wenn die Einspruchsstelle gnädig sei, mit einer geringeren Strafe rechnen.

„Das ist mir egal. Ich habe keine Lust auf Scherereien.“, verkneife ich mir nur knapp und zücke mein Portemonnaie. Nein, verweigert der Kontrolleur die Zahlung. Karten nehme er nicht. Meine Adresse möchte er haben, meine Visitenkarte reicht ihm nicht einmal, wenn ich ihm den Personalausweis danebenhalte, und so stehe ich auf dem windigen S-Bahngleis am Flughafen, während mein Boarding schließt, und lasse mir aufschreiben, wohin ich mich zu wenden habe, um sodann am anderen Ende des Flughafens mein Ticket nach Berlin umbuchen zu lassen, ziemlich viel Geld zu bezahlen für den nächsten Flug nach Hause und eine Stunde auf den ziemlich unbequemen Stühlen im Terminal herumzusitzen, Kaffee zu trinken, ein bisschen vor mich hin zu schäumen und darüber nachzudenken, ob die Verkehrsbetriebe der Stadt München ein Ticket, dass den Großraum München offenbar in wesentlichen Aspekten nicht abdeckt, eigentlich absichtlich München XXL genannt haben, um Reisende zu verwirren.

Verlieren, Verlaufen

Beispielsweise könnte man übermorgen um acht den falschen Zug besteigen. Statt neben dem Brezelbäcker zur Treppe abzubiegen, würde man zehn Meter weiter laufen und erst beim Blumenstand die Rolltreppe nehmen. Statt des ICE stiege man in einen EC und führe los.

Sehr lange könnte man so tun, als hätte man die Verwechslung nicht bemerkt. Vielleicht beharrt man sogar gegenüber dem Schaffner auf einer Reservierung, die man nicht hat, und ließe sich nur widerstrebend überzeugen, im falschen Zug zu sitzen. „Sie können erst in *** aussteigen.“, würde einen der Schaffner belehren. Man müsste unglücklich aussehen und fragen, ob sich das nicht ändern lässt, und über der Antwort verzweifelt den Kopf schütteln, bis der Schaffner geht. Dass man im falschen Zug säße, teilt man dann mit und schaltet das Telephon aus.

Am nächsten Bahnhof verließe man den Zug. Es sollte ein kleiner Bahnhof sein, ein Fachwerkhaus, zugig und verloren, und mit einem einzigen Schalter, hinter dem zwar Licht brennt, aber niemand sitzt. Der Zeitungsstand hätte geschlossen, die Scheiben wären staubig und blind, und in den Schmutz der Glastür hätte jemand mit dem Finger seinen Namen geschrieben.

Ein paar Minuten müsste man schon auf der Bank auf dem Bahnsteig sitzen bleiben und warten, ob nicht ein Zug kommt, der einen zurückbringt. Wenn es kalt würde (und es wird kalt sein), dann darf man gehen. Auf der Rückseite des Bahnhofs stünde man noch einen Moment, sähe sich unschlüssig um, schlüge dann langsam die Straße ein, die vom Bahnhof ortsauswärts führt, und verlöre sich auf der Bundesstraße, noch hinter der Tankstelle, dort, wo die Raiffeisensilos stehen im Nichts wie Spuren in fließendem Wasser.

Vom Winter

Ein weiteres Jahr den Winter zu verpassen: Das Knacken der Bäume, wenn das Holz vor Kälte splittert, Eiszapfen an der Regenrinne und die ganz und gar unglaubliche, leuchtende Dunkelheit einer Schneelandschaft auf dem Weg nach Haus. Die Stille zwischen Wald und Feldern, Krähenschwärme am Morgen um sechs zwischen der Landstraße und den ersten Häusern der Stadt. Der bleigraue Himmel, zart wie Haut, mit einem Rand von Silber und Taube.

Heimgekehrt am Abend auf dem Ofen mit dem Sprung in der dritten Kachel von rechts, vierte Reihe von oben, Äpfel braten, weil es so gut riecht. Ein Punsch aus Rotwein und Zimt, Orangen und Mandeln, zu Bett in langen Nachthemden aus Flanell, karierte Plumeaus und die Nacht vor den Fenstern, schwärzer und blitzender als alle Lichter Berlins.

Der Gefangenentransport von Bad Doberan

Wir alle, oh verehrte Leserinnen und Leser, kennen das Internet als einen Ort der Aufklärung, denn im Schatten der elektronischen Säulen unserer digitalen Welt bleibt den Wandelnden keine Wahrheit lange verborgen, und so will auch ich als eine bescheidene Dienerin im Garten dieses Herrn mitwirken an dem stetigen virtuellen Diskurs, welcher sich mit der Deutung dieser Wahrheit beschäftigt, derweil es in den Augen aller Verständigen auf der Hand liegt, dass gestern abend um acht keineswegs ein Meteorit in der Nähe von Bad Doberan eingeschlagen sein kann, sondern vielmehr außerirdische Mächte am Werk gewesen sein müssen.

Nun gibt es wenig Ursache, an die Ammenmärchen zu glauben, die über extraterrestrisches Leben seit Jahrzehnten verbreitet werden. Was, fragt sich der kritische Geist, sollen Außerirdische mit irgendwelchen halbverrückten Leuten anfangen, die sich von jenen entführt und dann wieder – abzüglich irgendwelcher Organe – ausgesetzt fühlen? Würde nicht ein vernünftiger Außerirdischer sein Opfer einfach zur Gänze mitnehmen, falls es später noch etwas zu erforschen gibt? Wieso zudem sich der Gefahr indiskreter Plaudereien der Entkommenen aussetzen, wenn man die einmal Eingefangenen ebenso gut einfach wegschmeißen kann? Es verschwinden schließlich ständig Leute, da macht einer mehr oder weniger auch nichts mehr aus. Eine Forschungsvisite außerirdischer Mächte gestern abend in Mecklenburg ist aus diesen Gründen mit großer Sicherheit auszuschließen.

Dies aber wirft die Frage auf, was die Außerirdischen dann gestern abend in diesem gottverlassenen Winkel der Republik wollten. Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen versichern: In der ganzen Ecke ist nichts außer einem allerdings sehr angenehmen Hotel, und dort kann man als Außerirdischer schlecht auftauchen ohne Aufsehen zu erregen. Sie sehen also, meine Damen und Herren: So kommen wir nicht weiter. Anknüpfungspunkt unserer weiteren Überlegungen kann daher nicht die Motivationslage der uns diesbezüglich ja eher fremden Außerirdischen sein. Fragen müssen wir uns, welche mit einiger Wahrscheinlichkeit mit außerirdischen Existenzen vertrauten Person oder Personenmehrheit ein Interesse haben könnte, in diesen Tagen seine Geschäftspartner auf der Erde zu sehen. Wer, so fragen wir uns also, hat große Erfahrungen in der Raumfahrt und derzeit möglicherweise Zeitdruck bei der Erledigung anstehender Geschäfte? Wer muss möglicherweise noch etwas wegräumen, irgendwohin verbringen, wo niemand anders es findet und es so rückstandslos von der Erdoberfläche verschwunden ist, wie etwas überhaupt verschwinden kann? – Wir alle, geschätzte Leserinnen und Leser, denken angesichts dieser Fragen an niemand anderen als den amerikanischen Präsidenten George W. Bush, der es zur Zeit eilig haben dürfte, zu beseitigen, was auf keinem Fall seinem Nachfolger in die Hände fallen soll.

Nun wird selbst der scheidende Präsident kaum im Weltraum anrufen, nur um ein paar Akten wegzuschaffen. Vielmehr ist anzunehmen, dass nur für wirklich sehr relevante Dinge oder Personen der wahrscheinlich erhebliche Aufwand ihrer Verbringung in den Weltraum sich lohnt. Was aber kann der amerikanische Präsident derzeit seinem Nachfolger unter den Händen weg in den Weltraum schaffen wollen? Doch nur etwas, von deren Gefährlichkeit der Präsident überzeugt ist, und das Obama gleichwohl freisetzen will. Gegenstände kommen hierbei kaum in Betracht, denn diese könnte man ja einfach vernichten. Es muss also um Personen gehen – und niemand anders als die Gefangenen von Guantanamo fällt uns ein, wenn es um Personen geht, über deren weiteres Schicksal Bush und Obama bekanntlich erheblich unterschiedlicher Ansicht sind. Die Insassen aus Guantanamo sind, kombinieren wir, also seit gestern abend weg.

Aber wieso ausgerechnet, fragt sich die kritische Öffentlichkeit, Bad Doberan? Dieses Nest, das die Welt nur als den Bahnhof kennt, von dem aus man das Kempinski in Heiligendamm erreicht? Wo nichts ist außer der Ostsee und viel Landschaft? – Nun, mag man sich denken: Schließlich schuldet die Kanzlerin unseren transantlantischen Partnern bestimmt noch einen Gefallen. Ist das vielleicht vom Nato-Vertrag mitumfasst? Und die Gegend da oben bei Heiligendamm kennt George W. Bush von dem G 8-Gipfel von vor ein paar Jahren bestimmt als menschenleer und ganz schön abgelegen.

(q.e.d.)

Tagesfragen

Immer wieder gern klicke ich durch die Referrals dieses Blogs und stelle mir vor, wer und was sich dahinter wohl verbirgt. Was für ein Mensch beispielsweise sucht ausgerechnet im Internet eine Antwort auf die Frage „Januar 2009 kalt„? Oder geht es hier schlicht um die Bestätigung der eigenen, noch unsicheren Wahrnehmung? Viele Menschen trauen ihren Sinnen ja nicht.

Wer aber sucht im Internet nach „Dr. Adam Soboczynski Termine„? Hat der Herr Dr. Adam Soboczynski – dem die Welt ein außerordentlich amüsantes Buch verdankt – etwa einen hartnäckigen Verehrer, der dem Autor auflauern möchten und im Netz immer mal wieder die Antwort auf die Frage sucht, wo er sich befindet? Schließlich, wie ich meinen Referrern entnehme, erreicht mich diese Google-Anfrage schon zum zweitenmal. Oder sind das zwei verschiedene Leute, und der Herr Dr. Soboczynski hat ein Problem mit gleich mehreren Internetmänaden? Oder verliert seine Sekretärin beständig seinen Kalender und sucht verzweifelt im Web, wo ihr Chef hinfahren soll? Dies immerhin würde auch die Titelnennung erklären, denn auch mich bezeichnet auf Erden nur mein Sekretariat mit akademischem Titel.

Dass „Osama Bin Laden Bart“ da schon von ganz anderem Interesse ist, liegt natürlich auf der Hand, denn was ist ein deutscher Autor gegen den bekannten muslimischen Abrisspezialisten, den Teile der Welt nicht nur für seine vergangenen surrealen Auftritte in internationalen Medien, sondern auch für sein gutes Aussehen schätzen. In diesen Kreisen, so vermute ich, kursiert sicherlich die stehende Wendung „Beim Barte Osama Bin Ladens“, und die Anfrage per Google stammt von einem unbedarften Gast eines solchen Haushalts, der heimgekehrt endlich wissen möchte, was es mit diesem Bart auf sich hat.

Wie sieht Augustinus die Welt?„, frage ich mich natürlich auch des Öfteren, erhalte aber ebenso wenig wie der Fragende heute morgen um zehn eine befriedigende Antwort. Ich tippe auf den Schulunterricht. – „Sehr alte dicke Frauen“ gibt es hier nur an ganz schlechten Tagen. Überhaupt versanden die meisten Suchanfragen hier wohl durchaus frustrierend, irgendwelche Leute wühlen sich zähneknirschend durch große Mengen für ihre Zwecke unbrauchbaren Text, und nur diejenigen, die nach „Modeste“ suchen, sind hier, nehme ich an, richtig und am Ziel. Willkommen. Fencheltee steht in der Küche. Stecken Sie sich nicht an.

Heute nicht so

Morgens um acht kann ich leider nicht sprechen und huste wie – nun, eben wie jemand der seit fast zwanzig Jahren raucht mit einer kräftigen Infektion. Im Bad stelle ich mich auf die Waage und habe wieder 500 gr. zugenommen, trotz Sport und Ernährungsumstellung. Ungefähr im Mai, nehme ich an, werde ich platzen. Traurig verlasse ich erst das Bad und dann meine Wohnung.

Als ich vom Bäcker komme, macht der Zeitungsmann gerade Pause. Etwas anderes zum Lesen habe ich nicht dabei. Dafür röchelt mein Gegenüber in der U 6 auf äußerst eindrucksvolle Weise. Zum Glück stirbt er nicht während der Bahnfahrt.

Weil die Kollegin, die mich morgens um viertel nach neun an einer U-Bahnhaltestelle ziemlich weit weg abholen soll, zu spät kommt, bekomme ich beim Warten eiskalte Füße und werde den ganzen Tag nicht mehr warm. Mittags vergesse ich kurzzeitig meine guten Vorsätze und esse einige Calamares. Sie schmecken scheußlich. Heute abend also nur Obst.

Zu allem Überfluss wird mir gegen acht Uhr abends wahnsinnig übel. In regelmäßigen Abständen von vier bis fünf Minuten zieht sich mein Magen zusammen. Huste ich in der Zwischenzeit, kontraktiert mein Magen aus Solidarität mit meinen Bronchien zusätzlich jedesmal mit. Immerhin hat sich weitere Nahrungsaufnahme damit erledigt.

Jammern – etwa telefonisch – geht gerade nicht, denn stimmlos bin ich schon seit heute morgen. Der J. ist beruflich bedingt nicht da und kommt erst Freitag wieder. Im Interesse schneller Linderung meines Allgemeinzustandes einen Arzt aufzusuchen, beispielsweise morgen früh, ist angesichts der vorhersehbaren Diagnose, ich sei erkältet, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit obsolet. Bleibt nur, zu Hause zu bleiben, Musik zu hören, Mails zu schreiben, und darauf zu warten, dass die Magenkrämpfe nachlassen.

Gegen zehn fällt mir der Duschkopf auf den rechten Fuß. Gegen halb elf gehe ich schlafen. Die ganze Welt, fällt mir auf, riecht nach Eukalyptus.

Der Herrlichste von Allen

Einfach liegenbleiben und die Augen geschlossen halten, als sei die Nacht nicht vorbei. Auf dem Rücken liegen, die Beine anziehen und mit den Händen über die Beckenknochen fahren und sich vorstellen, noch einmal 50 Kilo zu wiegen, und wie toll das wäre und wozu und was der J. wohl dazu sagen würde. Immer wieder ein bißchen schlafen.

Für Sekunden träumen (Haut, Himmel und Meer), erwachen und wieder versinken. Die gleißende Helle des Schlafs. Sich halbblind in die Küche tasten. Eiskaltes Wasser und Tee, die Rückkehr ins Bett, und Lotte Lehmann singen lassen von dem Herrlichsten von Allen. 1928 in Berlin.

Eis

So kalt, so zehenzerstörend eisig, so kalt, dass auch nach einer Viertelstunde in einem warmen Raum die Hände noch en bißchen schmerzen, war es zuletzt in dem Winter, als ich nach Berlin kam. In Friedrichshain wohnte ich damals, Hinterhaus und praktisch unbeheizbar. Es war den ganzen Tag dunkel in meiner Wohnung und Berlin generell, und jedes zweite Haus sah aus, als sei der zweite Weltkrieg gestern zuende gegangen.

Jeden Morgen verließ ich als wahrscheinlich einzige Hausbewohnerin die Wohnung, und jeden Morgen prosteten mir drei, vier heruntergekommene Männer um die vierzig mit roten Gesichtern und dicken, billigen Steppjacken zu. Doppelkorn und Bier. „Hey, Mädchen!“, brüllten sie und boten unermüdlich, jeden Morgen wieder, Getränke an, während ich versuchte, auf dem Weg zur U-Bahn nicht auszurutschen. Gestreut wird in Berlin aus Prinzip nur ganz selten.

Nach einer Weile hasste ich die Männer. Ich hasste ihre alkoholischen Atemwolken, ihre bunten Jacken, ihre roten Gesichter mit den aufgesprungenen Adern. Ihre Hunde hasste ich sowieso. Abends amüsierte ich Menschen, die ich kenne, mit langen Ausführungen über allzu exzessiv vergebene Sozialleistungen, die es Leuten erlauben, den ganzen Tag am Kiosk zu trinken und Passanten Bier und Korn anzubieten. Am Morgen fühlte ich mich manchmal wie Margaret Thatcher. Bevor es schlimmer wurde, zog ich weg.

Hier, wo ich jetzt wohne, seit mehr als fünf Jahren, gibt es keine Leute mehr, die Bier und Korn trinken. Wer sich hier betrinkt, wählt mit Sorgfalt. Wer hier verzweifelt, bleibt zuhause, und sogar der Kiosk um die Ecke führt Biomarmelade und dunkle Schokoladen mit Salz. Schön ist es hier, und weg will ich so schnell nicht. Doch wenn es kalt wird, wenn der Schnee auf den Gehwegen gefriert und buckelig wird, wenn die Füße in den Stiefeln blau werden und dick, wenn die Hände schmerzen: Wenn es wirklich Winter ist in Berlin, dann frage ich mich, was aus den Männern am Kiosk wohl geworden sein mag. Ob sie noch leben. Und ob es ihnen gutgeht, mit Bier und Korn und in billigen Jacken. In Friedrichshain oder wo auch immer.

De Mortuis …

Man solle ein Gedicht vorstellen, hatte Frau H. aufgegeben, und eine ganze Woche hatte ich an meinem Referat gefeilt, war in die Bibliothek gefahren, hatte Lexika gewälzt und eine kluge Germanistin, Freundin meiner Mutter, angerufen, die ich meistens vermied, weil sie sich immer betrank und dann alle Kinder küsste. Am Schreibtisch meines Vaters, den ich nachmittags nutzte, weil ich mir erwachsener vorkam als in meinem Kinderzimmer, hatte ich gesessen und mir ausgemalt, wie mir die ganze Klasse applaudieren würde und alle den Dichter genauso lieben würden wie ich. Ich war dreizehn.

In der Nacht vor meinem Referat hatte ich kaum geschlafen. Vier oder fünf erste Sätze hatte ich mir überlegt und aufgeschrieben. Um fünf Uhr morgens war ich aufgestanden, hatte meinen Vater geweckt und vor ihm, der blinzelnd auf dem Rücken lag, den ganzen Vortrag noch einmal gehalten. Dann fuhr ich zur Schule.

So früh morgens waren die Flure noch leer und still. Im Klassenraum war es staubig, an der Tafel sah man Kreideschlieren vom vorigen Tag, und aus irgendeinem Pult roch es durchdringend nach saurem, alten Brot, das dort vergessen worden war und in der Wärme gärte. Die nächsten zwei Stunden kam keiner.

Als Frau H. kam, verschluckte ich mich fast vor Eifer. Ewigkeiten brauchte Frau H. für ihre Begrüßung. Noch länger blätterte sie im Klassenbuch. Dann setzte sie sich in die erste Reihe. Es ging los. Ich sprach. Ich sprach und sprach. Ich hörte nicht auf zu reden, gestikulierte, wurde lauter und leiser, und sprach immer weiter. Ich hörte auch nicht auf vorzutragen, als die Ersten unruhig wurden und leise lachten. Als in den hinteren Reihen geschwätzt wurde, sah ich hilfesuchend zur Frau H., aber die sah an mir vorbei aus dem Fenster, wo die Kastanien in voller Blüte standen, weiß und rosa und unverletzlich, als würde nicht die ganze Pracht zwei Wochen später auf dem Hof zertreten.

Als jemand eine Papierkugel nach mir warf, wich ich aus. Frau H. sah weiter an mir vorbei. „Frau H., jemand hat …“, begann ich, auf einmal unsicher geworden. Frau H. drehte sich unwillig zu mir um. Ich fuhr fort. Von Frau H. sah ich wiederum nur den glatten, blonden Kopf. Frau H. sah auf den Hof.

Als die zweite Papierkugel flog, blickte Frau H. auf und fing an zu lächeln. Frau H. lächelte nicht nur, sie grinste, sie fing an laut zu lachen, und die ganze Klasse lachte mit. Sogar meine Freunde. Vor Scham und Verlegenheit lachte auch ich ein bisschen, und knüllte mein Referat in den Händen zusammen. Dann unterbrach mich Frau H. Sie hätte genug gehört, stand sie auf und setzte sich wieder an ihr Pult. Ich möge mich setzen. Ziemlich pubertär sei das alles, beschied mir Frau H. und reichlich überspannt. Das müsse ich mir abgewöhnen für die Zukunft. Langweilig sei mein Referat außerdem. Fast eingeschlafen sei sie, und allen anderen sei es genauso gegangen, und dann fragte Frau H. ausgerechnet meine Freunde, bis sogar die N. und die S. und der M. zugaben, mein Vortrag sei schlecht.

Wegelaufen bin ich, noch während der Stunde. Eine 3- habe ich bekommen, das war nicht so schlimm, aber Frau H. zog mich im ganzen nächsten Jahr gelegentlich auf mit dem misslungenen Vortrag. Was ich denn mal werde wolle, fragte sie irgendwann einfach so vor lauter Leuten aus dem Nichts. Als ich etwas vom Schreiben stotterte, lachte sie mich noch einmal aus. Mich sehe sie ja noch nicht einmal an der Uni, brüllte Frau H. vor Lachen. Dann ging sie in Mutterschutz und verschwand.

Ich weiß bis heute nicht, was Frau H. gegen mich hatte. Mein Vater hat sich bei Frau H. beschwert, aber es hat nichts genützt. Ich habe bei Frau H. keinen Schaden genommen, denn Kinder sind robust. Ich habe Frau H. gehasst, aber wen interessiert, ob man seine Deutschlehrerin mag oder nicht. Ich habe mir ausgemalt, manchmal in ganz besonders öden Schulstunden, wie Frau H. bei einem Unfall der Kopf abgerissen wird. Ich habe mir ausgemalt, wie ein Arzt ihr erzählt, sie habe Krebs. Ich bin noch vier, fünf Jahre später rot angelaufen vor Wut, wenn die Rede auf Frau H. kam, und als mein Vater mir erzählte, ein paar Wochen ist es her, Frau H. sei tot, nicht einmal fünfzig Jahre alt, sah ich mich stehen, dreizehnjährig vor der Tafel, und hatte nichts, nichts vergessen und vergeben, wie lächerlich auch immer das sei.

2008 revisited

Zugenommen oder abgenommen? Drastisch zugenommen. 3 Kilo. Und das bei meiner Größe. Je nach Tagesform nun stets schwankend zwischen dem Vorsatz, nie wieder etwas zu essen, und der Annahme, mit 33 sei das nun auch egal.

In diesem Zusammenhang: Hat hier jemand Erfahrung mit Weight Watchers online?

Haare länger oder kürzer? Gegen Ende des Sommers trotz mehrfacher Versuche einmal keinen Termin beim Ponyclub bekommen und dann woanders angerufen. Fast 70 Euro fürs Haareschneiden in Mitte bezahlt, vor Scham und Trauer über das Ergebnis fast gestorben und dann monatelang nur noch mit hochgesteckten Haaren vor die Tür gegangen.

Nachdem die Haare nachgewachsen waren, wieder nach Friedrichshain, wo Superfriseur Manuel zwischen zwei leicht angewidert abgespreizten Fingern die herausgewachsene Katastrophe begutachtete und seither versucht, zu retten, was zu retten ist.

Mehr Kohle oder weniger? Mehr.

Mehr ausgegeben oder weniger? Mehr.

Der hirnrissigste Plan? Pfingsten mit dem J. nach Heiligendamm. Das ganze, an sich sehr nette Hotel ist gesteckt voller Kleinfamilien aus Hamburg und Berlin mit ausnehmend schönen Müttern, die Wellness-Wochenenden mit der ganzen Familie offenbar massenhaft zum Muttertag geschenkt bekommen.

Alle Frauen sind dünner, gepflegter und blonder als ich. Alle Kinder sind sehr, sehr laut. Zwei Tage extrem schlechter Laune.

Die gefährlichste Unternehmung? Mit dem J. ohne Navigationshilfe auf Kreta Auto fahren.

Mehr Sport oder weniger? Nichts. Irgendwo müssen die drei Kilo ja her kommen. Morgens und abends mit dem Fahrrad ins Büro. Ansonsten fiele es gar nicht auf, fielen mir morgen die Beine ab.

Die teuerste Anschaffung? Zwei Fahrräder, diebstahlsbedingt. Und noch eine Komplettreparatur vor zwei Wochen, nachdem mir das neue Rad unter den Linden von irgendsoeinem Kretin auseinandergeschraubt worden ist: Ein neues Vorderrad. Ein neuer Sattel. Die komplette Lichtanlage. Und ein bisschen Kleinkram.

Das leckerste Essen? Oh. Das war nicht wenig. (Irgendwo müssen die drei …) Vielleicht die Törtchen in der Werkstatt der Süße (bitte durchs Sortiment klicken!), die es fast verschmerzen lassen, dass der skandinavische Laden dichtgemacht hat, der da vorher war? Oder ganz rustikal Blutwurst mit Äpfeln und Zwiebeln? Möglicherweise im Hartmanns, wo es mir besser schmeckt als in vielen höher dekorierten Läden?

Das beeindruckendste Buch? Kein Jahr der reichen Beute, so literarisch. An Neuerscheinungen fällt mir nur des formidablen Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ein. Eine surreale, vollkommen mit schwarzen, ausgebrannten Träumen ausgeschlagene Reise in die Unterwelt, die – dies beiseite – werkimmanent zu steigern kaum mehr möglich erscheint: Christian Krachts drei Romane handeln alle von Reisen, doch wo in Faserland noch eine – zugegeben subjektiv gespiegelte – Bundesrepublik bereist wird, steht in 1979 nurmehr ein medial-mythologisch überformtes Setting zur Verfügung, das mit dem realen Persien rein gar nichts zu tun hat, und in dem neuesten Buch gibt es nur noch Traumfetzen, eine kalte, filigrane, sehr, sehr perfekte Agonie.

Ansonsten aus dem Vorjahr – bei mir kommt ja alles immer leicht verspätet an: Thomas Glavinic. Das bin doch ich. Sehr amüsant, ein Buch wie ein Baiser. Das richtige für eine fette Grippe. Vom selben Stapel, aber aus diesem Jahr: Adam Soboczynski, Die schonende Abwehr verliebter Frauen, eine lose verbundene Reihe kurzer, in der Manier eines Ratgebers scheinbar illustrativ angeführter hintergründiger Geschichten über den richtigen Gebrauch der Lüge, und älter, aber gut Nicolaus Sombart, Journal Intime, und Doderers Strudlhofstiege, die ich vor Jahren angefangen, aber erst jetzt fertiggelesen habe.

Das enttäuschendste Buch? Jonathan Littell. Die Wohlgesinnten. Und natürlich Uwe Tellkamp.

Der ergreifendste Film? Waltz with Bashir. Am meisten gelacht, wenn auch dem Genre entsprechend nicht im engeren Sinne ergriffen: Burn After Reading.

Die beste CD? Ich habe einen guten Freund, den M., welcher einmal in einer Kanzlei angestellt war. Als diese umzog und auch die Mitarbeiter angeben sollten, was sie gern an den neuen, noch kahlen Wänden sehen würden (Kunst, wie sich versteht), antwortete der M. auf die Frage nach seinen diesbezüglichen Vorlieben mit den legendären Worten: „Mich dürfen sie nicht fragen, ich hab’ keinen Geschmack.“

So ähnlich geht’s mir mit Musik …

Die meiste Zeit verbracht mit…? Kollegen.

Die schönste Zeit verbracht mit… ? Freunden.

Vorherrschendes Gefühl 2008? Eine Zwischenzeit zu durchleben. Abgeflogen zu sein, und nicht zu wissen, wo und wann die Landung stattfindet.

2008 zum ersten Mal getan? Einen Makler beauftragt, mir eine Wohnung zu vermitteln.

2008 nach langer Zeit wieder getan? Ein Musical besucht. Vor inzwischen zwei Jahrzehnten, als meine Großmutter noch lebte, habe ich sie öfter in die Operette begleitet. Die lustige Witwe. Der Vetter aus Dingsda. Im Weißen Rössl. Da war auch das eine oder andere Musical dabei. An die West Side Story erinnere ich mich. Seither habe ich diese Kunstform 20 Jahre gemieden. Wie ich in der Komischen Oper feststellen musste: Offenbar zu Unrecht. Kiss me Kate war bezaubernd.

3 Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen? Drei Kilo mehr, siehe oben.

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte? Nicht einfach, seinen Doktorvater davon abzubringen, aus einer ordentlichen Diss eine viel, viel bessere Diss zu machen und zu diesem Zweck noch ein weiteres Jährchen dranzuhängen.

Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe? Zeit.

Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat? Zeit.

Der folgenreichste Satz, den jemand zu mir gesagt hat? „Sie bekommen das schon hin.“

Der folgenreichste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe? „Aber klar.“

2008 war mit 1 Wort…? In Ordnung.

Vorsätze für 2009? Reiterferien. Vielleicht am Meer, mal sehen. Schreiben, hier und anderswo, egal, ob das, was dabei rauskommt, etwas taugt. Glücklich sein. Sich und sein Leben bewohnen und nicht nur dabeisein. Intensität, wenn es das gibt. Tja, und drei Kilo abnehmen

(Via Frau Wortschnittchen und Frau Kaltmamsell)