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Was es ist

Nein, sage ich, der Sommer ist es nicht. Nicht die Hitze am Abend, die auf dem Asphalt liegt wie eine Decke aus feuchter, ungesponnener Wolle. Auch nicht, dass es diesen Sommer schon wieder nichts geworden ist mit der Ostsee, und vielleicht nicht einmal die Sehnsucht nach Früchten, nach riesengroßen Litschis, dem klebrigen Saft von Mangos, eine eiskalte Melone, nein, nichts von alledem.

Auch die Nächte sind es nicht, der Rausch, sich durch die Dunkelheit tragen zu lassen, weitergeweht von einer Bar zur nächsten, tanzen, bis die Musik nicht mehr aufhört, auch wenn man schon längst im Taxi sitzt, betäubt von Nacht und Himmel. Auch keine Stimme ist es, keine Haut, kein fremder Geruch, keine Haare zwischen meinen Fingern, und nicht die ungewisse Vorfreude, wenn in meiner Tasche, unsichtbar noch die Nummer, das Telephon beginnt zu klingeln.

Paris ist es nicht. Stille ist es nicht, denn Stille halte ich nicht aus. Stille drückt mich am Rand des Nichts zusammen und quetscht mir das Blut aus den Poren, weil sie größer wird mit jedem Moment und presst mich gegen die Wand der Welt. – Wind ist es nicht, nicht der Geruch von Salz, nicht das Meer, nicht Bäume, Waldboden, nichts von alledem.

Aber des Nachts, wenn ich erwache, und stehe ein paar Minuten mit meiner Zigarette am Fenster: Nachts zieht es mich hinaus, etwas ruft nach mir, und ich hebe fast die Hand, um zu winken, dass es mich sieht. Etwas steht auf, nach mir zu schicken, damit es wieder wird, wie es war. Etwas lockt und singt, ein Schiff legt ab, aber wohin es geht, dass weiß ich nicht mehr, noch ob es gut wäre da, oder auch nur etwas besser.

Die Enthaarung

Auch: Vom Glück, Metzger zu sein

Nun stellen Sie sich einfach einmal vor, Sie wären Metzger. Metzger, ganz recht. Jeden Tag stehen Sie auf, schleppen sich in den Schlachthof, und machen Kühe tot, weiden die Leichname aus und zerlegen sie in küchengerechte Teile. Auf einem Schemel in der Ecke des Schlachthofes aber liegt ihr Telephon. Dann ruft ein Bekannter an, Sie melden sich, und dann dröhnt es doch tatsächlich aus dem Hörer: „Hör mal zu, ich habe hier gerade so ein Problem, mein Hund ist so alt geworden, der macht’s eh nicht mehr lang – kannst du dich heute abend vielleicht einmal darum kümmern?“ – Korrigieren Sie mich, wenn Sie Metzger sind, aber ich wette: Das kommt eher selten vor im Leben der Metzger.

Auch als Sachbearbeiter im Rathaus verlangen wohl schwerlich Ihre Freunde, dass Sie Ihnen abends doch einmal schnell einen neuen Perso… also, wenn Sie einmal einen Moment Zeit hätten… – Aber kaum studieren Sie ein paar Jahre Jura, dann sitzen Sie nichtsahnend in Ihrem Büro, rechts und links klingeln Telephone, die Schriftstücke auf Ihrem Schreibtisch sind länger als die Frankfurter Anthologie, und wenn es einmal privat klingelt, dann möchte Sie niemand zu Braten und Knödeln einladen oder Ihnen einen Kuchen backen, nein, statt dessen meldet sich nur die A.

„Modeste!“, unterbricht Sie die A. in wirklich sehr schwerwiegenden Tätigkeiten und ihre Stimme überschlägt sich fast vor lauter Aufregung. „Modeste, hast du einen Moment Zeit?“ – „Ganz kurz!“, versuchen Sie, die Unterbrechung möglichst kurz zu halten, schauen auf die Uhr, und nicht eben kurz, aber mit außerordentlich hoher Frequenz an gesprochenen Worten pro Gesprächsminute erläutert die A. ein Problem, das wahrlich seinesgleichen sucht: Es geht um ihre Enthaarung.

Die meisten Leute, wie man weiß, enthaaren sich ja sozusagen auf eigene Faust, einige Leute sind sogar von Natur aus schon nicht so besonders haarig, die A. aber begab sich vor einigen Tagen in ein Geschäft, das der Enthaarung von Personen dient, die diese glücklicherweise heute allgemeinübliche Verrichtung durch bezahltes Personal ausführen lassen. Man legt sich also auf so eine Liege – hörst du mir auch zu, Modeste? – die Leute machen so Wachs auf die Haut – also so Wachs, na, weißt schon, Wachs eben, und dann ziehen sie das Wachs wieder ab.

Interessant, sage ich, schaue wieder auf die Uhr, und höre der A. zu. Als die A. fertig enthaart war jedenfalls, wurde sie eingeölt, legte sich auf eine andere Liege, wartete ab, bis das Öl eingezogen war und fuhr nach Hause. Daheim legte sie sich hin.

Als sie wieder erwachte, so gegen vier Uhr nachmittags, kribbelte ihre Haut. Verschlafen rieb sie sich erst die Augen und begann sich dann zu kratzen. Das Jucken jedoch ging nicht weg. Vor dem Spiegel überkam die A. ein gewaltiger Schreck: Wo vorher Haare waren, waren nun lauter kleine, rote Punkte, ganz gepunktet war die A., und so duschte sie, um die heiße, kribbelnde Haut zu kühlen, und beschloss dann, Schritte zu unternehmen, um sich das jedenfalls – gell, Modeste, da bezahlt man viel Geld, und dann sowas – nicht gefallen zu lassen.

„Du, ich muss jetzt mal wieder was tun.“, bellen Sie also etwas ungehalten in den Hörer, und versuchen, das Gespräch zu beenden. „Du bist doch Juristin…“, beharrt aber die A. – Sie dagegen denken an den Metzger und den Sachbearbeiter aus dem Rathaus, und dann werden Sie auch noch um ein Schreiben gebeten. Ganz kurz. Nur Geld zurück. Und Sie verstehen doch mehr davon, als….

Und dann legen Sie auf. Sie fühlen sich irgendwie verkannt, die Welt scheint irgendwie nicht ganz so zu sein, wie sie zu sein hat, wenn andere Leute sich für Geld enthaaren lassen, und Sie sollen sich darum kümmern, wenn diese Leute davon rote Punkte bekommen. Sie denken für noch einen Moment an den Metzger, und dann an die Beile und so, und dass es eigentlich ganz nett wäre… aber für so etwas haben Sie zum Glück keine Zeit.

Nur die Nerven

„Nicht gut.“, sagt sie, und ich schäme mich ein bißchen für mein wochenlanges Schweigen. Krank geschrieben sei sie. Nein, nichts Ernstes, auch eher nichts – Körperliches, wenn ich verstehe, was sie meint. Ich nicke etwas unsicher, überlege einen Moment, bevor ich frage, aber sie schüttelt den Kopf und lächelt ein wenig verlegen das Törtchen an, das halbgegessen auf ihrem Teller liegt. Nein, sagt sie, krank sei sie eigentlich nicht, ihr Arzt hätte gemeint, es sei vielleicht besser. Vielleicht sei sie nur erschöpft, und wenn sie ein wenig schliefe, einfach mehr schliefe, acht Stunden jede Nacht oder mehr, füge sich vielleicht alles wieder von selbst.

Eine Ursache könne sie so konkret gar nicht benennen. Vielleicht der Abend im Kollegenkreis, als sechs Paare auf der Terrasse des neugekauften Hauses saßen, dass sich ihr Kollege D. gekauft hatte, in den sie ja einmal sehr verliebt gewesen sei, und nur sie war allein gekommen. „Ist sicher nicht leicht, die meisten Männer haben Vorurteile gegen Karrierefrauen.“, hatte die Frau des D. das Fehlen einer männlichen Begleitung mitfühlend kommentiert, nach dem Essen in der Küche, und sie hätte genickt und geschwiegen, weil die Frau wahrscheinlich recht hatte. Die Frau war Erzieherin gewesen, und der D. hatte am Ende die Frau geheiratet, und für sie hatte es nur zu einer Affäre gereicht, damals vor drei Jahren.

Vielleicht war es aber auch das Wochenende, an dem ihre Mutter nach Berlin kam. Sehr klein stand ihre Mutter auf dem Bahnsteig am Ostbahnhof, und fror die ganze Zeit, obwohl es Juni war. Von den Enkeln der Nachbarn hatte ihre Mutter gesprochen, und die jüngste Tochter der Nachbarn habe das Haus gegenüber gekauft und sei Apothekerin am Ort. – Dass es schwierig sei mit Kindern in ihrem Job, hatte sie der Mutter entgegnet, und dass ihr Job ihr wichtig sei. So viele Absolventen würden von ihrem Job träumen, die keine Kinder hätten und viel Zeit. – „Ist dein Job dir wichtiger als Familie?“, hatte ihre Mutter sie gefragt, in einem Ton, als sei sie krank, und sie hatte gelogen und gesagt, so sei das nun einmal. Am Abend schlief ihre Mutter in ihrem Bett, ihres Rückens wegen, und sie lag auf der zu kurzen Couch im Wohnzimmer und sah an die Decke. Von allen vier Ecken des Raumes lächelten dicke Puttenköpfe, und sie dachte daran, dass sie niemals geglaubt hatte, einmal allein zu bleiben.

Oder es war der Abend, an dem sie fast ihren Job hingeworfen hätte. Ob’s ein Fehler von ihr war, oder ihr Chef einfach nur glaubte, es sei ihr Fehler gewesen – spät am Abend kam sie weinend heim, und stolperte in ihrer dunklen Küche über ein paar herumstehende Glasflaschen, schnitt sich an den Scherben den Fuß und musste ins Krankenhaus. Der herbeigerufene Taxifahrer wollte sie nicht fahren wegen der Blutflecken, und anrufen mochte sie niemanden mehr um diese Zeit. Mit einem Handtuch um den Fuß ging sie zu Bett.

An einem Morgen vor zwei Wochen konnte sie nicht mehr aufstehen. Nur noch liegenbleiben wollte sie, die Augen schließen, eine große, weiche Abwesenheit, und selbst zum Weinen reichte die Energie nicht mehr aus, die sie bis ins Büro hätte tragen müssen. Auch im Büro anrufen konnte sie nicht mehr, nicht zum Arzt gehen, damit sie irgendwelche Tabletten bekäme, und so lag sie stundenlang einfach auf dem Rücken, vollkommen leergeräumt, und ab und zu klingelte das Telefon, weil ihr Chef wissen wollte, wo sie blieb.

Am Abend stand kein Mann vor der Tür und keine Freunde. Nur ihr Chef klingelte so lange, bis sie öffnete. Er habe sich Sorgen gemacht, sagte er. Alleinstehende könnten ja leicht einmal in der Badewanne ausrutschen, Beckenbruch, und dann fände sie ewig keiner. Schwankend stand sie im Türrahmen, so bleich, dass ihr Chef sie ins Bett schickte, und verschwand mit den Worten, bis zum Wochenende wolle er sie im Büro nicht mehr sehen.

Zwei Tage blieb sie einfach im Bett, duschte nicht und aß nichts, und schließlich hatte sie genug Energie angespart für einen Telefonanruf. Auf den Anruf kam eine Freundin, die brachte sie zum Arzt. Die Freundin lachte viel, um sie aufzumuntern, sprach von ihrer Hochzeit und legte, als sie ging, einen Stapel Frauenzeitschriften aufs Bett. Zur Zerstreuung. „Wie sie IHN verrückt machen“, stand auf einem der Cover.

Es seien bloß die Nerven, hatte der Arzt ihren Zustand kommentiert. Sie arbeite wahrscheinlich zuviel, sagte er, maß ihr den Puls und leuchtete ihr in die Augen. Dann schickte er sie heim und verschrieb ein paar Medikamente. „Haben sie jemanden, der auf sie aufpasst?“, fragte der Arzt. Es sei nicht gut, allein zu sein, wenn es wieder schlimmer würde.

„Und was raten sie mir, wenn da keiner ist?“, fragte sie fast, aber dann nickte sie doch und ging nach Hause.

Der esoterische Zahn der I.

„Na, ein zweiter Zahn halt. Also ein eigentlich ein dritter, wenn man die Milchzähne mitzählt.“ berichtet die I. über die Zustände in ihrem Kiefer, und versenkt den Löffel in den zerlaufenden Resten einer Eisbombe. „Jedenfalls hat meine Zahnärztin mir dann geraten, mal untersuchen zu lassen, wie das ausschaut, wie sich der Zahn im Kiefer auswirkt, also eine Muskel…jedenfalls, irgendwas mit den Muskeln. Ich also hin, so ein Heilpraktiker.“ – Bei der Erwähnung des Heilpraktikers zieht der B., I.‘s Verlobter, ein wenig missbilligend die Augenbrauen zusammen, und der J. stößt ein komisches Geräusch aus, ähnlich dem, mit dem Luftballons ihren Inhalt in die Atmosphäre freisetzen, öffnet man den Knoten.

Ein Heilpraktiker also. „Ja, mir war auch nicht so klar, dass die Methode mit den Muskeln – dass das also ziemlich umstritten ist. Eher so Humbug, aber jedenfalls klopft der Mann an mir so herum, ich also keinen Schatten Misstrauen, und dann meint er, der Zahn im Kiefer würde also schon stören, liegt ja auch direkt an der Wurzel von dem Zahn darüber, und ich sollte ihn wirklich entfernen lassen. – Gut, sage ich, ich würde mich also bei der Zahnärztin melden, die mich dahingeschickt hatte, und einen Termin machen lassen.“

„Und ist der Zahn jetzt weg?“, frage ich und stürze ein weiteres Glas Wasser hinunter, denn für Wein ist viel zu heiß, und der schwere, spanische Wein zum Roastbeef liegt wie Leim auf meiner Zunge. „Nein, habe ich noch nicht geschafft.“, schüttelt die I. den Kopf. „Aber als ich so sage, ich würde die OP dann mal vereinbaren, da schaut mich der Heilpraktiker also an, und sagt ganz ernsthaft, also als ob das das Selbstverständlichste auf Erden sei, also so ganz normal ‚Frau S.‘, sagt er also, ‚lassen sie die OP aber nur bei abnehmendem Mond machen.‘ – Junge, Junge, habe ich da gedacht. Da bist du schön wo hingeraten.“ – Der B. schaut noch etwas gequälter drein, und der J. hebt kurz, aber missbilligend seinen Löffel.

„Aber wenn ich den Heilpraktiker jetzt wechsele, oder die OP einfach machen lassen, wenn es mir am besten passt, dann muss ich die Zahnärztin wechseln. Die ist da schon sehr überzeugt. Und meinen Orthopäden. Und Zahnärzte gibt es viele, aber gute Orthopäden?“ –„Was hat denn der Orthopäde damit zu tun?“, frage ich und rekapituliere den Bericht der I., in dem meiner Erinnerung nach bisher kein Orthopäde Erwähnung gefunden hat.

„Die hänge da alle irgendwie zusammen.“, deutet die I. ungefähr in die Weite über Berlin, und einen Moment stelle ich mir eine berlinweite Verschwörung von Ärzten vor, die denjenigen Studienfreunden, die das Physikum nicht bestanden haben und sich nun als Heilpraktiker durchschlagen, falls so etwas geht, ab und zu Aufträge zuschanzen.

„Und homöopathisch vor- und nachbereiten lassen soll ich den Eingriff auch.“, fährt die I. fort. „Jedenfalls habe ich mir gedacht, was kann’s schaden. Bis zum 15. August also, oder dann im September nach dem Urlaub.“

„Und du bist dir sicher, dass…“, beendet der J. seinen Satz nicht. „Ich glaube ohnehin nur an Antibiotika und Schneiden.“, gebe ich, nur leicht simplifizierend zum Besten, sammele die Teller ein und verteile den restlichen Wein auf die Gläser.

Azur

Ganz durchtränkt von Hitze, mit Sonne vollgesogen auf dem Balkon, und die Hand wird nass, wenn man die Wange darein stützt. Der Abend noch hüllt mich ein in lauter warme, klebrige Luft, und ermattet lächeln mir die Nachbarn zu, denen die Gläser fast zu schwer werden mit Wasser und Zitronen und Eiswürfeln darin. – Leg dich zu mir, flüstere ich des Nachts, aber komm‘ nicht zu nah, und die Luft selbst scheint schwerer zu sein, dichter und ganz, als presse die Hitze sie zusammen, bis man sie greifen könnte und hätte am Ende etwas Festes in der Hand. Langsam, träge, beschwert vom glutvollen Sommer schleppt ein Hund in dickem Pelz sich durch den Hinterhof, während die Sonne selbst, betäubt von der eigenen Hitze, zur Ruhe geht, abgelöst von einem reifen, gelben Mond.

Ein wenig betrunken scheint die Stadt, schwankend taumeln die Tage einher, und ganz von fern, aus der Weite hinter Berlin singt das Meer von Wind und Salz, von Kühle, Flut und Wassereis aus Plastikschläuchen. Noch einmal, denke ich, einen ganzen Sommer am See sitzen, nochmal ein paar Wochen mit zwei Taschen und einem Zugticket umherfahren, Penne mit gebratenem Gemüse auf einer nächtlichen Piazza, und die Jugendherberge in Lucca, eine Absteige in Marseille nahe dem Hafen, Florenz und am Morgen vorbei an San Lorenzo, wo die Medici begraben liegen. – Noch einmal schon morgens im Badeanzug den Hügel herabrollen, im Garten des B., der K., der S., deren Eltern am See gebaut hatten, liegen. Stege ins Wasser, Schwimmen, und mit dem Boot am Abend in die Mitte des Sees. Heimkommen am Abend, mein Vater am Grill, und die großen, getöpferten Schalen voll mit Salat, und die Terrasse voll mit den Freunden meiner Mutter. Tomaten aus dem Garten, Bellini und Prosecco auf Eis. Der betäubende Geruch nach Lavendel und der Kletterrose am Giebel, mit Blüten dichtbesetzt.

Leg dich zu mir, flüstere ich dem Sommer ins Ohr. Bleib, solange du kannst. Komm wieder mit Rosen und Booten, Lampions und nächtlichen Bädern. Schenk‘ die Gläser voll mit kaltem Hibiskustee am Tage und Weinschorle nachts. Leg‘ mir Forellen auf den Grill und lass mir Tomaten reifen, denen fast die Haut platzt vor lauter Duft, und die riechen, wie nur die Tomanten riechen, die man nicht kaufen kann.

Um eine zweite Sonne

Dein Büro, hell, sonnig, und benachbart die Kollegen, die du schätzt, und eine Arbeit, die du nicht missen magst. Unglücklich wärst du doch, würde dieses Band dir abgeschnitten, das klingelnde Telephon, der stete Glockenschlag der Fristen, eins – zwei – drei, ein sachliches Stakkato, und die schnellen Besprechungen, als sei all das ernst, was du tust, und es ginge nicht nur um Geld. Am Morgen früh durch den sich langsam erwärmenden Tag, die Schlagzeilen der Zeitung, und am Abend erst beruhigt sich der Puls des Tages über einem späten Glas Wein, beim Visite ma tente vor der Tür, oder irgendwo auf dem Weg, ein schnelles Essen, und die Zeit legt sich nieder, seufzt und legt den Kopf zwischen die Pfoten wie ein müdgelaufener Hund.

Dann aber gehst du nach Hause, und möchtest doch gern noch bleiben, aber in sechs Stunden klingelt der Wecker und treibt dich aus dem Schlaf. Und die C. hast du ja die ganze Woche nicht gesehen, am Wochenende ist Hochzeit außerdem, drei Stunden weit entfernt im Westen der Republik, und du hast kein Kleid. Die J. wolltest du noch anrufen, der J.² wartet auf Rückruf, und schreiben möchtest du seit Wochen, etwas Längeres vielleicht, einen Essay, eine kurze, kuriose Geschichte, und die Worte und Wendungen sitzen dir schon sperrig und schwer in der Brust, wollen heraus und würgen dir von innen den Hals. Wenn du nach Hause kommst, ist es Mitternacht, vielleicht eins, vielleicht später. Gehst du stracks nach Hause, kehrst nicht mehr ein, dann wird, so fürchtest du, nächstes Jahr keiner mehr fragen, wo du bleibst, und du fühlst dich sehr einsam daheim, weil du den Betrieb brauchst, täglich, stündlich, Geräusche, die dich umgeben, ein schnelles Wort im Vorübergehen, eine Tasse Tee, dir auf den Schreibtisch gestellt, ein Glas Wein an den gläsernen Tischen der Bar, in der du zu Hause bist. Ein wenig Klatsch, den du zwei Tage behältst, um ihn wieder zu vergessen, ein paar Sottisen, ein paar wohlfrisierte Traurigkeiten, und immer wird’s zu spät.

Zu kurz ist der Tag, zu gezählt deine Stunden, und immer, immer bist du müde. Säßest du nur da, ein paar Minuten, und schautest aus dem Fenster, die Augen fielen dir zu, aber du wirbelst, du rufst an, du läufst von der Bahn ins nächste Café und weiter, wohin dich die Telephone rufen, und wünscht dir manchmal auf dem Wege, die Sonne jeden Tages ginge zweimal auf, dreimal, für jedes Leben, das du führst ein neuer Morgen, und es verschlinge nicht dein eines Leben alle anderen, und du littest Mangel, welches Leben dies auch sei.

Obdachlosenzeitschriften

Sie alle, sofern Sie in zumindest mittelgroßen Städten leben, kennen das Phänomen der Obdachlosenzeitschriften, die von ein wenig herabgekommenen Personen an öffentlichen Orten angeboten werden, um diesen, so sagt man, ein würdigeres Auskommen als die Bettelei zu ermöglichen. Ein ehrenwertes Projekt sei das, hört man allerorten, auch wenn die Zeitschriften leider qualitativ meist wenig überzeugend seien, und so kaufen Sie alle ab und zu von diesen Produkten und werfen sie dann auf der Stelle weg. Dass es eine Schande sei, dass die Gesellschaft so gestrickt sei, dass Menschen auf der Straße vegetieren müssten, derlei hört man auch anlässlich der Verkaufskampagnen, aber was man viel zu selten hört – wie soll ich sagen… Es ist aber, glaube ich, kein wirklich rationales Argument:

Der Glaube an einen und allmächtigen Gott, sagt man, gehöre ja schon einer recht fortgeschrittenen Kulturstufe an, setze ein ganz ordentliches Abstraktionsvermögen voraus, und zu recht sei die Theologie deswegen ein vielsemestriges Studium und nicht jeder Dahergelaufene dürfe daherkommen und die Riten der römisch-katholischen Kirche einfach so wirksam vollziehen. Weil aber die Wissenschaft der Gotteserkenntnis in den letzten par Jahrtausenden schöne Fortschritte gemacht hat, weiß der rechte Gottesgelahrte wie auch sein gläubiger Adept heute eigentlich ganz genau, dass das Opfer selbst dem Allgewaltigen eigentlich recht egal sei, und die Gabe an die Armen etwa nur Zeichen einer ordnungsgemäßen Wesensart, der Milde, der Barmherzigkeit und so weiter.

Bei mir aber, bemerke ich leider stets aufs Neue, hat dieser Fortschritt gegenüber der plumpen Erpressung göttlicher Gewalt noch keinen rechten Niederschlag gefunden, und vielleicht steht auch individuelle Bequemlichkeit dem gottgefälligen Wohlverhalten zugunsten eines simplen Kaufs des göttlichen Segens entgegen. Indes sind die rauchenden Altäre in Berlin ja ein leider seltenes Phänomen, und ein Opfer privatissime etwa in der heimischen Badewanne würde wohl schneller, als es mir recht ist, mein Mietverhältnis beenden. Auch Sie, verehrte Leserinnen und Leser würden sich ja angewidert abwenden von einer Dame, welche in einem Fischgeschäft einen lebenden Karpfen um billiges Geld erwerben würde, um ihn daheim mit einem Filetiermesser abzustechen, auf dass der nächste Prozess gewonnen werde, oder meine Diät möglichst erfolgreich sei. Auch ein pflanzliches Brandopfer findet aus gutem Grund wenig Anklang bei meinen Mitberlinern, und sogar im Tiergarten, wo das öffentliche Rösten ungeschlachter Hammelstücke und ganzer Schweine kein unübliches Phänomen darstellt, wäre eine Person, die zugunsten einer Dissertation „summa cum laude“ einen Rosenstrauß verbrennen würde, und unter beschwörenden Huldigungen dunkler Mächte um das Feuer tanzte, eine ungewöhnliche Erscheinung, die auch von hartgesottenen Berlinern als wenig comme il faut wahrgenommen würde.

Das wirkungsvolle, aber geschmackvolle Opfer muss also dezentere Formen annehmen, und so würden auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, den Opfercharakter derjenigen Handlungen, von denen ich mir günstiges Fahrwasser meines Tuns und Treibens erhoffe, teilweise gar nicht erkennen. Einem der nervenzerfetzenden U-Bahnbettler eine Münze in die Hand zu drücken, etwa, und auf einen erfolgreichen Ausgang einer Verhandlung zu hoffen. Einer steinalten, russischen Blumenverkäuferin einen ihrer mickerigen Sträuße abzukaufen und ihn auf einem Stein im Mauerpark liegenzulassen auf dem Weg zu einer Verabredung. Einen Euro in das Ausgabefach eines Kaugummiautomaten zu schieben, damit irgendein Kollwitzkind sich gleich zehn weitere Kaugummikugeln kaufen kann.

Manchmal klappt’s. Aber wenn einer der beschenkten Bettler mir seine mistigen Zeitschriften aufzunötigen sucht, ärgere ich mich ein wenig über den unwissentlichen Versuch, mir statt des göttlichen Wohlwollens nur eine schlechte Zeitung aufzudrängen.

Das aber, sagen Sie sicherlich, sei kein vernünftiges Argument gegen diese wohltätigen Projekte, die schon vielen Menschen einen Absprung aus der Obdachlosigkeit und ein Leben in Würde ermöglicht hätten. Und derlei egoistische Opfer seien an höherer Stelle ohnehin nicht gern gesehen.

Die äußerst unbefriedigende Abweichung zwischen Sein und Sollen

Morgen zum Beispiel sollte ich bis so ungefähr zehn schlafen. Dann sollte ich langsam aufstehen, eine Tasse Kaffee ans Bett geliefert bekommen, in Ruhe frühstücken und die Zeitung lesen, zumindest die wenig ärgerlichen Teile. Dann sollte ich ein bißchen arbeiten, vielleicht im „Lass uns Freunde bleiben“ einen frischen Pfefferminztee trinken und lauter interessante Gespräche mit lauter reizenden Leuten führen, wieder ein bißchen arbeiten, Kuchen essen, der sich nicht auf der Stelle ringförmig um meinen Bauch lagert, und abends kochen. Hähnchen vielleicht, mit Rosmarin und Knoblauch und Chili und Honig gewürzt, gebackene Kartoffeln dazu und einen Salat aus lauter reifen, roten Tomaten, die nach Sonne schmecken über einem weiten, offenen Land. Später irgendwann sollte ich ausgehen, lange schlafen, nicht aufwachen des Nachts mit Steinen auf der Brust, von denen ich nicht sagen kann, aus welchen Höhen sie auf mich niederfallen, und so schreiben, wie ich es können möchte und doch nicht kann.

Von dem Stapel Bücher, die ich mir am Samstag gekauft habe, möchte ich lesen, einen ganzen Nachmittag im Weinbergspark liegen auf einer Bastmatte, ab und zu eine Flasche Bionade holen, rauchen und de, Rauch hinterschauen, der sich langsam auflöst in der warmen, streichelnden Luft. Am Abend würde ich Freundinnen treffen, die mir lauter amüsante Geschichten erzählen, lachende, perlende Geschichten, und nichts, was schwer aufs Herz drückt, keine Lieblosigkeiten und keine Gleichgültigkeit, Geschichten von mühelosen, eleganten Siegen, Geschichten vom Lieben und Geliebtwerden, und nichts von Männern, die nicht anrufen, wenn sie sollen, und einer zähen, muffigen Langeweile. Nicht nur die A. sollte von ihrem Freund einen Smart Roadster geschenkt bekommen, und nicht nur die Orchideen meiner kleinen Schwester blühen.

Den Doktortitel, um den ich eine sagenhaft langweilige Dissertation geschrieben habe, möchte ich schon besitzen. Der Job, den ich mag, sollte morgens um 11.00 Uhr anfangen. Der Mann, den ich liebe, sollte mir eine Überraschung bereiten, eine Blume, ein Schächtelchen Konfekt, ein Brief, in dem lauter Sachen stehen, die so schön sind, wie ich mir sie nicht ausdenken kann. Mein schwarzer Anzug, den ich vor fünf Jahren gekauft habe, sollte wieder locker über meine Hüften fallen, meine Leserzahlen sollten steigen, und die Stadt sollte mir zulächeln, mit lauter Lachfältchen um die grau-grünen Augen.

Lass es dir gutgehen, Prinzessin, soll die Stadt mir zurufen, und ich winke zurück, und der Sommer zieht mich an seine glatte, feste Brust und streicht mir mit den Händen über den Bauch, und ich schnurre wie eine Katze in der Sonne.

Von Wäldern

Vorbei fährt der ICE an offenen Feldern, ein einsamer Hochsitz markiert die Grenze zum Wald, und dicht, verschlungen, zugewuchert vom Unterholz bis in die Wipfel quillt der Laubwald den Schienen entgegen. Schon sind wir weiter, vorbei ein baumumstandener, schattiger See, ein abgeerntetes Feld, eine ausgebrannte Scheune, von der nur noch Balken und Streben stehen, und in der Ferne ein paar Windräder. Windmüller sei er, fällt mir ein, sagte mir vor ein paar Tagen ein Fremder am Telefon, und sagte dies so selbstverständlich, als lägen keine russischen, bunten Märchen in diesem Wort von einem einäugigen Müller vielleicht, der des Nachts den Wind drischt, und die Hexen tanzen geschüttelt von Stürmen um seine Mühle auf einem Hügel abseits vom Dorf.

Rotbraun und kahl streckt ein Nadelwald sich der Sonne entgegen, und ich überlege, wie die Bäume wohl heißen, aber es fällt mir nicht ein. Ein Dorf, schon vorbei, eine geweißte Kirche, der Silo am Ortsausgang, und weiter, weiter, gleichmütig, eine gekühlte Dose, fährt der ICE über Land. Einen Moment nur in der lichten Traurigkeit der Birken, Tschechow, eine slawische Melancholie, und ich fahre heim in meine Stadt aus rohen, geborstenen, scheckigen Traurigkeiten, die östlichste Stadt der Republik, die östlichste Stadt des Westens.

Wie lange, überlege ich und ziehe die Beine eng an den Leib, war ich in keinem Wald. In Stahnsdorf, auf dem Waldfriedhof, im letzten Jahr, der schwarze Wein über den Gräbern, und ich lächele einem Abwesenden zu. Am Ufer des Wannsees wohl, letztes Jahr im August, aber ein wirklicher Wald, Bäume, die harzigen, geschlagenen Stämme, und ich muss lange überlegen. Letztes Jahr im Mai vielleicht, grübele ich, und für einen Moment sehne ich mich nach einem federnden Waldboden, nach dem Geruch nach einer guten Fäule und Chlorophyll, nach der Sauberkeit der Bäume am frühen Morgen, und hielte der Zug, ich stiege aus, nur für eine halbe Stunde.

Dann aber beginnen langsam, nach und nach erst und vereinzelt, die Häuser. Schallschutzwände versperren den Blick, und in einigen Minuten, dröhnt es aus den Lautsprechern, werden wir Berlin Hauptbahnhof erreichen. Zwischen den Bögen der gespannten Röhre aus Glas aber und dem Treiben der Passanten ist der Wald so weit, so unwirklich, als gäbe es ihn nicht, und die Bäume an der Schwedter Straße stehen leblos und stumm, als seien sie von allem Anfang an dazu bestimmt, die Fahrbahn zu markieren und Fahrräder anzuschließen, und Wälder, Wälder seien gar nicht wahr, ein Märchen nur oder eine bunte, phantastische Erfindung der Dichter.

Fremde Frauen

Nun aber, meine Damen, hier in der Anonymität des Internets, heraus mit der Sprache: Wie machen Sie das eigentlich? Wie schaffen Sie es, neben einem Mann zu sitzen, der ein saftiges Steak verzehrt, und an Salatblättern zu kauen? Überkommt sie da wirklich kein Fünkchen des Futterneides? Mögen Sie den Salat wirklich? So einen grünen Salat mit Pinienkernen und getrockneten Tomaten, eine feine Sache, aber kein Fetzchen Fleisch dazu, kein Bröckchen Käse? Und mögen Sie eigentlich wirklich kein Bier oder tun Sie nur so?

Und interessieren Sie sich eigentlich wirklich jeden Monat aufs Neue für Stoffe, Schnitte oder Schuhe? Ich gehe ja auch ganz gern einmal einkaufen, aber immerzu Taschen, irgendwelche Designer, schwarz-weiß und geblümt, Sechziger und Achtziger, Pfennigabsätze und Ballerinas? Und warum lesen Sie Frauenzeitschriften? Und warum finden Sie Karriere nicht so wichtig? Ich finde das großartig, wenn die Steine, die rollen, wenn ich beruflich dagegentrete, möglichst groß sind und viel Geld kosten. Und bestimme lieber über andere Leute, als dass ich über mich bestimmen lasse. Und etwas „mit Menschen machen“, fand ich angesichts der Beschaffenheit der meisten anderen Leute schon mit so ungefähr 12 insgesamt eher nicht so. Den meisten Menschen, im Vertrauen gesagt, ist ohnehin nicht zu helfen, hoffnungslose Fälle, alle miteinander, und da soll ich…? Aber Sie machen das ja angeblich gerne.

Kinder, auch so ein Thema. Sie kriechen in jeden Kinderwagen und sprechen die Insassen an mit so ganz hohen Stimmen und sagen Sätze, die Sie keinem Erwachsenen gegenüber vorbringen würden. Hätten Sie so angesprochen werden wollen mit ungefähr drei? Und unterhalten Sie sich gern mit Leuten, die irgendetwas unendlich Idiotisches lallen, wenn Sie Ihnen etwas sagen? Sprechen Sie wirklich gern mit achtjährigen Menschen, die auf Ihre Frage, ob das Essen geschmeckt habe, antworten, bei ihrer Mutter wäre das Schnitzel besser? Und interessieren Sie sich wirklich für die Vollausstattung von Baby Born? Gehen Sie gern mit Menschen um, die komisch riechen, weil sie ihre Ausscheidungsvorgänge noch nicht so im Griff haben? Und warum geben Sie Ihren Job auf, um statt 100 intelligenter, erwachsener Menschen einen einzigen Menschen um sich zu haben, der noch nicht sprechen kann?

Und wie schaffen Sie es eigentlich, immer so gepflegte Füße zu haben? Mir fällt die Notwendigkeit einer regelmäßigen Fußpflege ja regelmäßig ein, wenn ich mit Sandalen an den Füßen an öffentlichen Orten herumsitze. Untenrum bestehe ich bei solchen Gelegenheiten ja eigentlich ausschließlich aus Hornhaut. Und warum haben Sie immer so merkwürdige Männer? Die meisten Menschen ziehen ja amüsante Gesellschaft der langweiligen vor, aber klar, wenn man einen Job hat, in dem Sie so gut wie umsonst „was mit Menschen machen“… Sie lieben Ihren Mann aber? Dafür jammern Sie aber ziemlich viel, Verehrteste. So lange jammere ich selten bis zur Abschaffung des Ärgernisses.

Ach, aber letztlich, tauschen würden Sie wohl nicht wollen, oder? Mit einer Frau, die regelmäßig morgens aus dem Haus stürzt mit nassen Haaren, um erst in der Bahn zu bemerken, dass sie ihren Büstenhalter falsch herum anhat. Die auf allen Vieren durch ihr vollverglastes Büro kriecht, weil sie einen Ohrring verloren hat, und aus lauter Verlegenheit den Vorbeigehenden leicht verkrampft zuwinkt, weil sie gerade nicht so die Kapazitäten hat, um ihr Verhalten zu erklären. Und die sich bei schlechter Laune nicht so weit im Griff hat, einfach einmal zu schweigen, und statt dessen gern Streit anfängt, um vehement Meinungen zu vertreten, an die sie sich morgen nicht mehr erinnert.

Aber wer es besser getroffen hat, meine Damen, das werden wir bei Gelegenheit noch einmal diskutieren, in zehn Jahren oder zwanzig.