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Religiöser Anfall

In aller Gottlosigkeit spaziert man also durch Berlin, und nicht einmal für’s Finanzamt in der Pappelallee gehört man jenem Personenkreis an, dessen Himmel angefüllt ist, und dessen Orkus nicht leer. Keine Hölle reißt über mir des Nachts ihren Rachen auf, keine Heiligen reichen hilfreiche Hände in meinen Tag.

Nur manchmal, nachts vielleicht oder am frühen Morgen, in der Reinheit des leuchtenden, unberührten Tages morgens um 5.00, kommt es mich an, dass die Welt vielleicht runder wäre, fleckenloser vielleicht ihr Spiegelbild, wäre da noch etwas, jemand, der die scharfen, rissigen Kanten der Welt glätten könnte mit einem Sinn, den man nicht zu verstehen braucht. Aber der Himmel bleibt mir leer, und die Zeiten fließen durch die Straßen der Stadt, als seien wir der Welt gleichgültig, weil wir zu schnell vergehen, als dass die Erde sich unseren Schritt merken würde, und der Wind unsere Worte zu rasch verweht.

Aber mag es der Sommer sein, vielleicht das Licht über der Rummelsburger Bucht, ein Abend, an dem sogar die Spree glänzt, als sei sie eines großen Gottes Schöpfung am ersten Tag, noch unberührt von allen trüben Blicken: Angefüllt und müde von Lärm und stetem Betrieb, getrieben über’s das Zifferblatt mit hastigen Schlägen, bleibt die Stunde auf einmal stehen und lächelt mich an, und auf der Oberbaumbrücke, mitten in Berlin, durchdringt mich die rätselhafte Ebenmäßigkeit, die Größe, das Unvorstellbare all dessen, was mich umgibt, alle Ordnungen vom Kleinsten bis in jene Sphären, die ich nicht zu denken vermag, und ich möchte mich auf die Erde legen und demütig mein Gesicht im Gras verbergen und zu Ehren einer Gottheit, die zu erhaben ist, über mich zu lachen, lauter Verse in die Erde schreiben, wie groß und staunenswert die Welt geworden ist und wie erbärmlich jede Ironie.

Aber links von mir schieben sich die Wagen hupend an der Ampel vorbei, ein paar Jogger überholen mich, Kinder fahren auf Fahrrädern Richtung Kreuzberg, und da ist kein Gras und keine Erde, die Spree ist eine zu schmutzige Göttin, um zu ihr zu beten, und am Schlesischen Tor steht kein leuchtender Stier, der mich mit seiner Macht zu Boden würfe und anriefe Talitha Kumi, und so steige ich wiederum gottlos in die Tram und fahre nach Hause.

You are so strange and wonderful

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Ah, sie sind so wunderbar. Sie können gut schreiben, und sie sehen toll aus. Sie wissen alles über die melancholische Kunst, Tiere auszustopfen, sie singen schwarze Lieder über jene schmutzige Magie, die man die Liebe nennt. Sie kennen die Unterseite der Provinz, auf der die weißen Würmer kreisrunde Löcher in die Haut bohren, sie wissen um das seltsam verzogene Aussehen der Welt am frühen Morgen zu jener Stunde, die es eigentlich gar nicht gibt. Sie lachen drüber.

Sie sind die Giganten der Groteske. Und Sie können ihn zuhören.

Frau Wortschnittchen & ich proudly present:

Ole aus AbsurdistanKid37 St. Burnster.

Am 04.06.2006
Um 19.30 Uhr
Im Lass uns Freunde bleiben
Choriner Str. 12 – Berlin

Sehr berechtigte Reklame

exot-cover-2Gedruckt werden finde ich ja super, und obwohl Sie, meine sehr verehrten ebenso treuen wie geschmackvollen Leserinnen und Leser, den diesem Blog entnommenen und in dem aktuellen Magazin DER EXOT No. 2 abgedruckten Text möglicherweise bereits kennen, so möchte ich Ihnen den Erwerb dieses reizenden Magazins doch bereits um der bezaubernden Texte anderer Leute willen ans Herz legen. Das Magazin dient, wie Frau Andrea Diener vor einiger Zeit einmal in der Blogbar referiert hat, der Verbreitung komischer Texte und kostet ganze € 5,–.

Das Heftchen im praktischen Kleinformat sieht nicht nur gut aus, nein, es ist auch schön gestaltet und haptisch ansprechend, enthält amüsante Kleinode der deutschen Sprache und erhöht, an repräsentativer Stelle Ihrer Wohnstatt ausgelegt, Ihr Prestige als Kenner und Connaisseur der schönen Künste.

Kaufen Sie. Und kommen Sie zur Release Lesung, welche
am 19. Mai 2006
im Kult 41
Hochstadenring 41, Bonn

todsicher die Massen begeistern wird, denn es liest die fabelhaft begabte und sehr amüsante Redaktion, bestehend aus great Andrea Diener, Christian Bartel, Francis Kirps und Anselm Neft in Begleitung von, soweit ich weiß, Wolfgang Lüchtrath, Brauseboy Nils Heinrich und mir.

Verlocken

Bleib bei mir, flüstert der Mond und legt mir den Kopf auf die Schulter. Komm, ruft der Flieder mich leise am Parkplatz an der Schönhauser Allee, und aus den offenen Türen dringt, verzerrt von billigen Boxen, eine Stimme, die den Fado singt, die Sehnsucht und die Traurigkeit. Die ganze Nacht ist dein, tönt es vielstimmig, und der Sommer sitzt lächelnd auf den Stufen vor dem Bettengeschäft an der Ecke.

Behäbig fährt ein Radfahrer an mir vorbei, grüßt und ist schon weiter, bevor mir einfällt, wer er sein könnte. Die Dunkelheit trägt einen Kranz aus lauter Duft und Blüten, greift nach meiner Hand und beugt sich weit zu mir. Weiche, warme Sensationen verspricht mir die Nacht, sanfte Feuerwerke, lächelndes Versinken, und ich bleibe einen Moment stehen, bevor ich in meiner Tasche nach dem Schlüssel suche und vier Treppen hoch laufe in meine stille Wohnung, in der die Hitze des Tages schwer und klebrig über den Dielen hängt.

Die Natur auf Kriegsfuß

Morgens ist eigentlich noch alles bestens, der Wecker klingelt, man quält sich so aus dem Bett, und eine halbe Stunde später mit nicht ganz geföhnten Haaren steht man also vor der Tür. „Hah!“, sagen die Bäume, beugen sich weit zu einem hinunter und werfen einem eimerweise Pollen ins Gesicht. Die mickerigen Gräser rundherum holen tief Luft und pusten einen einmal richtig an, und auf den paar hundert Metern bis zur U 2 beginnt man zu leiden.

Die Schleimhäute schwellen zu völlig ungeahnten Ausmaßen an, die Nase läuft, und man niest so ungestüm, dass die anderen Leute in der Bahn erschreckt ein Stück abrücken aus Angst vor gefährlichen Infektionen. Ich bin gar nicht ansteckend, möchte man ihnen zurufen, aber das geht ja gerade nicht, weil man ein Taschentuch vor der Nase hat und den ganzen Tag fortfährt, eine Spur von Taschentüchern zu hinterlassen, die, würde man unterwegs den einen oder anderen Mord begehen, die Polizei sofort auf die eigene Fährte bringen würden.

Bis vor einigen Jahren, erinnert man sich, war man kerngesund. Keine einzige Allergie, ab und zu mal eine Erkältung, und sonst nichts. Die üblichen Sportverletzungen, und ansonsten sprang das Fräulein Modeste dermaßen vital durch die Gegend, dass Mutter Natur, die bekanntlich eine bösartige Matrone zu sein pflegt, die Stirn runzelte und ihren Knechten paar Anweisungen zuflüsterte. Dann ging es los. Erst Walnüsse. Dann Penicillin. Und schließlich verschwor sich die heimische Flora und zerrüttete in einer konzertierten Aktion mein Immunsystem auf das Allerschönste.

Wollen wir doch mal sehen, wer gewinnt, wispert es des Nachts in den Bäumen, und die Natur reibt sich die schwieligen Hände, es der Zivilsation noch einmal so richtig gezeigt zu haben.

Alles übers Universum

Überhaupt schon immer war ich bekannt für meine ungewöhnliche Unfähigkeit, naturwissenschaftliche Zusammenhänge nachzuvollziehen, und irgendwann, so ungefähr in Quarta, gab der naturwissenschaftliche Lehrkörper mich auf. Ich begriff es nicht, ich würde es nicht begreifen, ich würde es überhaupt nie begreifen, soviel war klar, und dann ließ man es eben, schickte Briefe, denen zu entnehmen war, ich sei versetzungsgefährdet, und überließ mich ansonsten den alten Sprachen, Deutsch, Geschichte und Religion. Einmal, ein einziges Mal nur, packte mich ein Fünkchen Begeisterung, und vielleicht ist Dr. C. schuld, dass es nichts wurde mit mir und den Naturwissenschaften.

Dr. C., ein spitzbärtiger, kreidebestäubter Herr kurz vor der Pensionsgrenze, der alle möglichen Quälfächer unterrichtete, mochte Filmvorführungen, diese Filme, die ein besonders vertrauenswürdiger Schüler auf Rollen in der Kreisbildstelle abholen musste, und an deren Beginn jeweils eine Eule zu sehen war, die dem Institut für Wissenschaft und Unterricht oder so ähnlich als Logo diente. Es wurde also dunkel, Dr. C. lehnte sich bequem zurück, und man sah einen Film, in dem man Abbildungen der ersten Menschen sehen konnte, ihre ausgemalten Höhlen oder auch einfach nur Fledermäuse, vierzig Minuten lang Fledermäuse, die an Höhlendecken hingen oder Kleintiere fraßen. An diesem Tag, am großen Tag meines naturwissenschaftlichen Interesses jedoch, wurde das Weltall gezeigt, also erst die Erde, dann das Sonnensystem, die Milchstraße, und dann die nächstgrößere Einheit, deren Namen ich vergessen habe. Grün und blau, rötlich und irgendwie organisch sah das aus, nicht unähnlich den Darstellungen aus dem Biologiebuch, wie es im Inneren des Verdauungstraktes aussieht, und auch die schematische Darstellung des Weltalls ähnelte stark dem Inneren der menschlichen Zelle. Ich war beeindruckt.

Da saß ich also, ganz hinten am Fenster, 13 Jahre alt, und auf einmal war mir alles klar. In meinem Magen nämlich, vielleicht auch in meiner Milz, in meinem ganzen Körper, kreisten weitere Universen umeinander. Jene Universen bestanden aus wiederum unzähligen einzelnen Einheiten, Sonnensystemen sozusagen, die nur das grobe Forscherauge der phantasie- und inspirationslosen Naturwissenschaftler als bloße Zellen betrachtete, in denen nicht viel los war. In Wirklichkeit jedoch drängten sich ganze Welten aneinander, in den Mitochondrien tobten Sternenkriege, auf den einzelnen, winzigen Partikeln, aus denen wiederum die Zellen zusammengesetzt waren, krochen winzige Lebewesen herum, vierbeinige und zweibeinige, Miniaturkatzen und Großfamilien, Versicherungsvertreter und Unterabteilungsleiter, Zoologen und Physiklehrer, die in Großstädten und ländlichen Oberzentren ein behagliches Leben führten.

Natürlich wussten jene nichts über die größere Einheit, die ihrer Vereinzelung erst Sinn und planvolles Zusammenwirken verlieh. Eine dunkle Ahnung beschlich ab und zu die Intuitiveren unter den Minimenschen, und sie stammelten etwas von einem allmächtigen, allumfassenden Wesen, welchem sie phantasievolle Namen gaben. Die Klügeren weigerten sich überhaupt, einen Namen für jenes Wesen zu verwenden, von dem sie schließlich nicht wussten noch wissen konnten, dass es einfach „Modeste“ hieß.

Ich meldete mich. Mein Lehrer jedoch schenkte mir keinen Glauben. Die Minimenschen, die Universen im Zellkern, die winzigen Metropolen, weidende Kühe tief im Innern unseres Körpers – Dr. C. wollte nichts davon hören. „Nun lassen sie mich doch mal ausreden!“, versuchte ich, mir Gehör zu verschaffen, aber Dr. C. hatte nicht viel über für derlei Dinge, und so kam ich gar nicht erst dazu, die Theorie in ihrer ganzen erschreckenden Großartigkeit vor ihm auszubreiten und ihm zu erläutern , dass selbstverständlich auch wir alle im Innern einer riesigen Einheit wohnen, die wiederum Teil eines größeren Selbst, einer harmonischen Größe, eines beseelten Unversums sei, und dass größer als wir, unseren Blicken entzogen, vielleicht ein kleines Mädchen über eine Riesenwiese läuft, oder ein altes Weib in einem unvorstellbar großen Edeka-Markt mit einem exorbitanten Stück Käse in der Hand an der Kasse steht.

Dr. C. jedoch schnitt mir einfach das Wort ab und diktierte die Hausaufgaben, und ich legte die Naturwissenschaften endgültig zu den Akten.

Frühling in Berlin

Monatelang liegt der Himmel so tief und schwer über Berlin, als wolle er die Stadt erdrücken. Jede Wolke wiegt ungefähr so viel wie ein ganzer Verein von Sumoringern, wenn sich denn auch diese Menschen in Vereinen zusammentun, und der Wind pfeift durch die Straßen der Stadt, als gelte es, Berlin einmal kräftig abzukärchern, was die Stadt auch einmal gut abkönnte, denn porentiefe Reinheit gehört nicht zu denjenigen Attributen, mit denen die Fremdenverkehrszentrale Berlins um Gäste werben könnte.

„Sauber wie Berlin“ wird wohl auch in den nächsten Jahren nicht zu den stehenden Redewendungen gehören, die ausländischen Studierenden beigebracht werden, wenn sie sich mit der deutschen Phraseologie bekannt machen, und aus der „Berliner Reinlichkeit“ wird wohl kein Pendant zur „Schwäbischen Sparsamkeit“ oder der Dummheit, die man den Ostfriesen gerne nachsagt, allerdings zu Unrecht, wie ein bekanntes, ursprünglich ostfriesisches Beispiel lehrt, aber wer wird schon ein Vorurteil über Bord werfen, nur weil es nicht stimmt, denn Vorurteile, wie man weiß, hat der Mensch ja nicht, um sie nach erfolgter Falsifikation zu verwerfen.

Genauso gut wäre es natürlich möglich, dass die Berliner mit den Jahren ihrer eigenen Propaganda irgendwann glauben und anfangen würden, tatsächlich sehr sauber zu werden, ihren Abfall in eigens zu diesem Zweck aufgestellte Behälter zu werfen und den Kot ihrer Hunde in Tüten zu tun und ebenfalls der Vernichtung in Müllverbrennungsanlagen zuzuführen. Weil der Berliner, wie das diesmal berechtigte Vorurteil weiß, allerdings geradezu stolz auf seine Widerborstigkeit ist, wird daraus vermutlich nichts werden. „Klinisch rein wie Friedrichshain“ wird auf riesigen Plakaten stehen, auf denen Stadtoberhaupt Wowereit einladend ein Staubtuch schwenkt, aber der Berliner wird nicht erst von Gewissenbissen gezwackt und dann sauberer, nein, er wird vielmehr abfällig durch die Nase prusten und dann seinen kalbsgroßen Köter extra auf den Bürgersteig machen lassen als ein Akt der stolzen Renitenz gegen die Obrigkeit, und die liebe Frau Fragmente wird auch bei ihrem nächsten Besuch an Panke und Spree dem heimeligen Duft Friedrichshains nicht vermissen. „Herzlich willkommen, liebe Frau Fragmente!“, wird Berlin ihr entgegenstinken, und alle Hunde dieser Stadt wedeln stolz mit dem Schwanz.

Berlin wird also nicht sauberer werden, der Berliner Winter nicht erträglicher, in dem, wie diesmal eher die Fama als das Vorurteil weiß, schon in den zehn Minuten vom „Visite ma tente“ bis zum 103 mehrere Leute so im Zeitraum Januar bis März erfroren sein sollen. Der Berliner Sommer allerdings, der Berliner Sommer ist großartig, und um ihn, um die vier, fünf Monate im Jahr, in dem die Stadt Kapriolen schlägt und lacht, und der Sommer selber auf dem Falkplatz Würste grillt, um diesen Sommer lohnt es sich, auszuharren und auszuhalten, wenn die Stadt im Winter alle zehn Minuten einmal kräftig die morschen Zähne fletscht. Der Sommer ist also toll. Einen Frühling, um noch ein bißchen zu nörgeln, einen Frühling gibt es hier aber nicht.

An einem, sagen wir: Donnerstag, trägt die Berlinerin einen Mantel über dem zentimeterdicken Schurwollpullover, Handschuhe verhüllen ihre blauen Finger, und mit einer gestrickten Mütze auf dem Kopf läuft sie ganz schnell von der Tram bis in die nächste Bar. Selbst Strecken von zehn Minuten zu Fuß fährt sie mit dem Taxi, und nachts schläft sie unter zwei Decken, von denen eine aus Schaf gemacht ist und so schwer ist wie der Schafe zwei. – Am Samstag aber schon sehen wir die selbe Frau im Polohemd mit einer Sonnenbrille auf dem Helmholtzplatz sitzen, sie hält ein Eis in der Hand, sie spielt Boccia, sie überredet den T., den Grill anzuwerfen, und den J., im Prater das erste Weizenbier des Jahres zu trinken. Sie packt alle ihre T-Shirts und Tops aus und betet, dass es dieses Jahr gelingen würde, einen Bikini zu kaufen, in dem sie nicht ausschaut wie ein dickes rasiertes Schaf kurz vor der Schlachtung oder ein Friedrichshainer Hund. Am Freitag aber, am Freitag fand der Frühling statt, die Zeit der Trenchcoats und der Baumwollpullover, die Zeit, in der man Fahrradfahren kann, ohne zu erfrieren oder zu schwitzen, die Zeit, in der die Bäume grün werden, was tatsächlich in Berlin in aller Regel innerhalb von maximal drei bis vier Tagen geschieht, denn auch die Bäume sind Berliner und lieben die Gemächlichkeit nicht: Entweder tun sie nichts, oder sie tun es ganz, ganz schnell.

Dann ist der Frühling vorbei, und manchmal, wenn in der Zeitung oder in Büchern, deren längst verstorbene Autoren irgendwo anders gewohnt haben, der Frühling bedichtet wird als ein übermütiger, feingliedriger Jüngling, ein knabenhafter Pan in den maigrünen Wäldern, ein junges Mädchen mit Flöte und Blumenkranz, dann erinnere ich mich, dass auch ich den Frühling gesehen habe, letzte Woche in Friedrichshain. Ein junger, leicht abgerissener Kerl war’s, in eigenhändig bemalener Lederjacke, unbestimmt blond und etwas struppig dazu, und einen unförmigen, knochigen Hund hatte er an der Leine. Hund samt Herrchen lungerten über den durchaus etwas räudigen Platz. Ein bißchen bleich sieht er aus, dachte ich bei mir, aber genau, so ganz genau kann ich ihn nicht beschreiben: Nur einmal lief er um den Platz, und war viel zu schnell wieder weg. Wer genau hinsah, konnte einen Pflasterstein und ein Paket Zündhölzer in seiner Hand sehen, denn mit dem gemeinsamen Werfen von Pflastersteinen und dem Entfachen ritueller Opferfeuer, bei denen ganze Kraftfahrzeuge den Stadtgöttern dargebracht werden, pflegt der Berliner jährlich am 1. Mai die warme Jahreszeit zu begrüßen.

„Ey, haste’n bißchen Kleingeld für was zu trinken für mich oder einen Fahrschein, den du nicht mehr brauchst?“, hat er dieses Jahr, glaube ich, zu mir gesagt, aber das kann auch ein Missverständnis gewesen sein.

Sprich mit mir

Sie kennen doch die Produkte der Schokoladenfabrik Lindt, oder? Und den Goldhasen aus Schokolade, den kennen Sie auch? Und haben Sie das große Schokoladenei gesehen, in dem ein Goldhase verborgen war, und ein vergoldeter Hase aus Porzellan war auch dabei? Ja? Und den haben Sie natürlich Ihnen nahestehenden Personen zu Ostern gekauft? Neid!

Meine Umgebung dagegen hat es ja nicht für nötig befunden, mir auch nur ein Osterpäckchen ohne Goldhasen zu packen. Meine diesjährige Osterklage und noch viel mehr lesen Sie beim Blogtalk des Herrn Weltherrscher, dem ich außerdem auch noch lauter Fragen über Blogs, Literatur, frustrierte Singles und das Geheimnis der gelungenen Lesung beantwortet habe, die vielleicht auch Sie mir immer schon mal stellen wollten.

Die wirklich sehr große Pflanze des J.

Mit möglicherweise amüsanter Übertreibung könnte ich an dieser Stelle, meine Damen und Herren, von der verheerenden Wirkung meiner Gegenwart auf eigentlich jegliche Form der Flora berichten: Wie bereits im zarten Alter von ungefähr fünf die Erdbeerpflanzen und Möhren in meinem drei Quadratmeter umfassenden eigenen Beet im elterlichen Garten verdorrten, während Schwesterchens Wicken den ganzen Garten zu verschlingen drohten. Wie der Kaktus vertrocknete, der auf meiner Fensterbank stand, und wahrscheinlich alsbald gestorben wäre, hätte ich nicht die ganze Pflanzschale bei einem der seltenen Versuche, dem Kaktus Wasser zuzuführen, versehentlich aus dem Fenster gestoßen. Unzählige ungefähr gleichartige Geschichten könnte ich erzählen, denn der von mir misshandelten Pflanzen sind viele. Indes beschränke ich mich, um Sie, meine sehr verehrten Leser nicht mit diesen wirklich außerordentlich belanglosen Details meines Daseins zu langweilen, auf die Feststellung, dass meine Begabung zur Pflanzenhaltung sehr, sehr gering ist und nur von wenigen Menschen ein ähnlicher Tiefstand erreicht werden dürfte. – Eigene Tiere habe ich nie besessen.

Pflanzenlos kamen und gingen die Jahre, ab und zu kaufte ich mir Schnittblumen, und einmal im Jahr stellte ich einen Kräutertopf in die Küche, der dort unverzüglich verendete. Auch mein lieber J., geschätzter Gefährte bereits jener fernen Tage der ersten Semester, führte ein pflanzenloses Leben, und erst bei Bezug der ersten gemeinsamen Wohnung sollte sich herausstellen, dass die frühere Pflanzenabstinenz des J. lebensphasenbedingt war, und nicht auf einer Unfähigkeit beruhte. Der J. kaufte mehrere Grünpflanzen, stellte sie in unsere viel zu kleine Wohnung im viel zu schmierigen Friedrichshain, und jene wuchsen und gediehen. Mehrmals in der Woche goss der J. die Pflanzen mit Wasser, die Pflanzen wuchsen weiter, zogen mit uns nach Prenzl’berg, und als der J. auszog, nahm er seine Lieblingspflanze mit. Die anderen starben.

Befreit von meiner Gegenwart wucherte die Pflanze in der Wohnung des J. immer weiter und wurde riesengroß. Ihre harten, gummiartigen Blätter begannen, übergroßen und unförmigen Lappen zu ähneln, Luftwurzeln von beträchtlicher Länge ragen inzwischen in alle Richtungen durch die nicht sonderlich große Behausung des J., und selbst bei realistischer Betrachtung muss man zugeben, dass die Pflanze unterdessen ein Ausmaß erreicht hat, welches man ohne weiteres als urwaldhaft und leicht beängstigend bezeichnen könnte. Würde eines Tages mein lieber J. die Tür auf mein Klingeln nicht öffnen, und statt dessen blau angelaufen erwürgt von den fleischigen, sicherlich kraftvollen Strünken der Pflanze auf den Dielenbrettern seiner Wohnung liegen, so wäre ich sicherlich bestürzt, meine Überraschung indes hielte sich in Grenzen.

Wie man weiß, pflegt der britische Thronfolger mit seinen Pflanzen zu kommunizieren, und dies, so nehme ich an, setzt voraus, dass auch von Seiten der Pflanzen eine Reaktion erfolgt, denn kein vernunftbegabter Mensch würde jahrzehntelang antwortlos auf regungslos stumme Geschöpfe einreden. Auch des J. Pflanze zeigt eine deutliche Reaktion auf meine Gegenwart, so bilde ich mir ein, sie erzittert, wenn ich mich an ihr vorbei zum Fenster bewege, und ihre Luftwurzeln schließen sich enger zur Mitte, denn die Pflanze hat Angst vor mir, eine Angst, die sicherlich nicht ganz unberechtigt ist, da nach einer gegenwärtig nicht unwahrscheinlichen erneuten Haushaltsvereinigung die Pflanze, bedingt durch meinen verderblichen Einfluss auf derlei Geschöpfe, sicherlich auf ihr früheres Maß zurückginge, und vielleicht nicht einmal diesen Zustand zu halten imstande sein wird.

Mein Metafrühstück (mit Butter)

Aus purer Opposition gegen Leute, die sich von jeder Zeitungsmeldung ins Bockshorn jagen lassen, und dann kein Rindfleisch mehr essen wegen Rinderwahn oder keine Fische mehr wegen Nematoden oder so, nach dem Aufstehen erst einmal zwei Eier weichgekocht und mit Butter und Schnittlauch zerdrückt gegessen. Ziemlich eklig schaut das aus, die Spritzer orangefarbenen Dotters auf dem Porzellan, die kleinen, weißen Brocken Eiklar, und das Ganze überzogen mit glänzendem, geschmolzenen Fett.

Auch geträumt, fällt mir ein, habe ich vom Frühstücken, und eine gefüllte, runde Porzellanbutterdose mit einem Rankenrelief stand auf dem Tisch, die ich realiter leider nicht besitze, aber im Traum, erinnere ich mich, gab es sogar Croissants dazu. Überdies war ich in unterhaltsamer Gesellschaft. – Wie meistens zeigt sich also auch diesen Morgen die Realität der Welt meiner Träume als durchaus nicht gewachsen.

Für`s Blog könnte ich auch mal wieder etwas schreiben, sinniere ich über einer Scheibe buttergetränktem Toast zum Ei, und überdies, denke ich weiter, wäre es vielleicht an der Zeit, mein Blog weiterzuentwickeln und neue Leser anzusprechen, die mich bisher nicht lesen, wie sie mir gelegentlich ja mitzuteilen pflegen, denn mein Blog, so vernehme ich aus wohlunterrichteten, wenn auch abgeneigten Kreisen, sei ein wenig manieriert, zu elaboriert meine Texte, insgesamt diese ganze Veranstaltung nicht „bloggish“ genug, zu wenig spontan und leider überhaupt nicht authentisch. Zu „möchtegernliterarisch“ sei mein Blog, trägt man mir also, kurz gesagt, gelegentlich einmal zu, und das klingt irgendwie unentspannt.

Vielleicht, überlege ich mir, sollte ich fortan alles klein schreiben, das wirkt vielleicht irgendwie interessanter. ich könnte auch in zukunft den eindruck des unambitionierten und hochbegabt unangestrengten durch kryptische einzeiler hervorzurufen versuchen, dann denkt man vielleicht auch von mir, hinter dem kargen schatten meiner wenigen worte verberge sich ein ganzes universum an überaus originellen ideen, die mir ab und zu lässig aus dem hirn in die tastatur fielen.

„zum frühstück eiter“, könnte ich etwa posten, vielleicht sogar mit bild meines eiermatsches, das ich sorgfältig präparieren würde. extra für das bild würde ich mir bei „connys container“ an der ecke danziger/schönhauser einen roten plastiklöffel kaufen, weil die abbildung meiner perlmuttlöffel unweigerlich den eindruck hervorrufen würde, ich postete jenes bild überhaupt nur, um meine löffel zu zeigen. für diese demonstration würde man mich selbstverständlich verachten, und alles wäre umsonst.

überhaupt wäre es überaus wichtig, ausschließlich über konsumgüter zu schreiben, die entweder jeder besitzt oder zumindest besitzen könnte oder einmal besessen hat. so könnte ich meinethalben behaupten, den eiermatsch im traum in gesellschaft des ergee-kükens verzehrt zu haben, dessen abbild aus weichem kunststoff sich zu zeiten meiner kindheit im inneren von strümpfen des gleichnamigen österreichischen herstellers befand. Das küken würde mich natürlich vorwurfsvoll anquaken, vielleicht würde ich es mich sogar verbal anklagen lassen, weil der verzehr von eiern auf küken naturgemäß verstörend wirken muss. das würde sogar ausgleichen, dass „zum frühstück eiter“, nicht so richtig originell ist, aber ich übe ja noch und in zwei wochen wäre ich dann richtig gut.

überhaupt sollte ich gebildeter wirken, wenn schon nicht gebildeter werden, aber da ist derzeit wenig zu machen. so könnte ich statt des ergee-kükens natürlich auch mit personen frühstücken, die zu kennen, ja mit denen vertraulich umzugehen, mich auf eine liebenswert verschrobene art und weise vergeistigter erscheinen lassen würde, als es meiner realität entspricht. wilhelm reich könnte ich auftreten lassen oder peter suhrkamp oder irgendeinen zweitklassigen ungarischen berufsrevolutionär der zwanziger jahre, den meine leser dann erst mal googlen müssten. vielleicht kämen auch sprechende skulpturen aus eiskalter butter vor, die unsterbliche kunstwerke darstellen würden, die entweder jeder kennt oder so gut wie keiner.

ein bißchen schräg zu erscheinen wäre wahrscheinlich ohnehin ziemlich wichtig, auch wenn ich normale leute mit korrekter kleidung und manieren eigentlich wesentlich angenehmer finde als irgendwelche freaks. als richtig knuddelig durchgeknallte person könnte ich es mir aber vielleicht sogar leisten, wieder zur korrekten Klein- und Großschreibung überzugehen, und das wäre mir schon einiges wert. Ich würde dafür behaupten, an irgendwelchen nervösen Ticks zu leiden, die selbstverständlich sehr, sehr skurril wären.

Allerdings würde man mir, kratze ich den letzten Rest Eiermatsch mit Butter aus der Tasse, diese Wandlung vielleicht nicht wirklich abnehmen. Man würde völlig zu Unrecht an eine maliziöse Parodie glauben, und wirklich reizende, von mir hochgeschätzte und überaus begabte Menschen könnten sich von mir angegriffen fühlen und auflegen, wenn ich anriefe, um das Missverständnis aufzuklären, und so beschließe ich, vielleicht besser in versteckten Winkeln des Internets ein neues Blog zu eröffnen, dessen Erfolg, so bin ich mir sicher, stupend sein wird, überwältigend geradezu und grandios.

Man wird, so male ich mir aus, meine Zweitexistenz zu Lesungen einladen unter abfälligem Verweis auf Leute, die man niemals einladen würde wegen ihrer Trivialität, also beispielsweise mich, und mich in Postings, die ich nicht verstehe, verehrungsvoll verlinken.

„Gute Butter“ würde ich das Blog nennen, und das Photo vom Eiermatsch käme in den Header.