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Prophezeiungen

Durch die engen Gassen der Souks von Kairo, vorbei an den Gerüchen der aufgetürmten Früchte und Gewürze, vorbei auch an Ballen leuchtender Stoffe, die höher gestapelt waren als ich, die acht Jahre alt oder neun an der Hand meines Vaters durch den ägyptischen Januar lief. „Magst du dir die Hände mit Henna bemalen lassen?“, fragte er, als eine alte Frau mich zu sich in den Laden winkte. Ich drückte mich an ihn, eingeschüchtert von den schreienden, gestikulierenden Händlern, und müde von dem langen Flug und dem frühen Aufstehen. Mein Vater vertrieb die Händler mit einigen Handbewegungen, und zog mich weiter Richtung Ausgang, als eine alte Frau sich uns in den Weg stellte. Gebieterisch, die Hände in die Hüften gestützt, stand sie vor uns, sehr dick, in einer Mischung aus traditioneller und moderner Kleidung, und streckte mir eine Handvoll Zettel entgegen. „Nimm schon.“, sagte mein Vater, und gab der Frau etwas Geld, auf dass sie den Weg wieder freigebe.

Ordentlich drei- oder viermal zusammengefaltet waren die Zettel, wie herausgerissen aus einem Schulheft, und ich öffnete den ersten, nur um festzustellen, dass die handschriftlichen Zeilen sich meinen Lesekünsten jedenfalls entzogen. Schüchtern drückte ich der Frau die Zettel wieder in die Hand. Sie verweigerte die Annahme, und ich schob die Zettel wieder tief in meine Hosentasche. An der Frau vorbei zog mich mein Vater in den Fleischsouk, wo abgezogene Hammelköpfe mich aus blauen Augen ansahen. Die Frau kam uns hinterher und hielt mich fest.

Mag sein, dass mein Vater irgendetwas zu ihr sagte, mag auch sein, dass ich versuchte, ihr meinen Arm zu entziehen. Am Ende stand die Frau vor mir, die Zettel in der Hand, und entfaltete in großer Hast einen nach dem anderen, um sie vorzulesen. Neben meinem Vater stand ich und sah die Frau an. „Eine Wahrsagerin.“, erklärte mein Vater.

„Was hat sie gesagt?“, fragte ich ihn, als die Ägypterin alle Zettel vorgelesen hatte, und wir durch den Dunst des frischen Fleisches endlich zum Ausgang gelangten. „Ich habe kein Wort verstanden.“, zuckte mein Vater die Achseln, und wir fuhren zum Hotel.

Jahre später, achtzehn war ich und auf Interrail-Tour, las mir eine Italienerin aus der Hand. Drei Söhne würde ich einmal haben, verriet sie mir, und einen reichen Mann. Dass sie meiner Freundin N. fast dasselbe weissagte, entzog auch im zarten Frühling meiner Leichtgläubigkeit dieser Aussage indes doch ein deutliches Maß an Glaubwürdigkeit. – Eine Prager Wahrsagerin, weitere drei Jahre später, weissagte Schlimmes, und hinterließ ein bedrückendes Gefühl in der Magengegend, und den Vorsatz, den Mund der Wahrheit bis auf weiteres nicht mehr zu befragen.

Manchmal aber, in der Ruhe eines frühen Morgens nach durchwachter Nacht, liegt die Zukunft, das nächste Jahr und der nächste Morgen, so verworren vor mir, so unklar Ziel und Weg, dass ich wünschte, einer käme zu mir, und sähe in meine Hand, selbst wenn nichts weiter darin zu sehen wäre als eine große Leere, eine ereignislose Melancholie, und ein Ende in Dunkelheit, Blut und Tränen. Vielleicht aber, denke ich dann, kommt im Leben nur einmal einer zu einem, den Nebel zukünftiger Tage zu lüften, und eine gnädige oder grausame Ironie befahl, das Abbild meiner Zukunft in fremde Worte zu verkleiden, einmal, vor vielen Jahren, irgendwo in Kairo.

Dem allen zugewandt und nie hinaus

Wie Wellen bricht sich der Strom von Worten, Tönen, Bildern an unserer Haut, durchtränkt uns mit seinem schmutzigen Fluidum, und lässt uns nachts, wenn die See ruht, leer zurück. Unbemannt sind die Barkassen, die die Häfen verbinden, und vielleicht ist jener nächtliche Ekel vor dem Trüben, dem Allzuvielen, dem Verworrenen, an dessen Wurzeln man nicht liegen mag, nichts als der Schatten der Erkenntnis, dass hinter den Dingen, auf dem Grund des Stroms keine neue Welt, aus einem einz´gen ganzen Chrysolith gehauen, auf seinen Taucher wartet.

Wie auch immer: Auf bald. Auf baldiges Wiedersehen.

Ganz vergessner Völker Müdigkeiten

Die Lilien sind welk geworden, und der Himmel zwischen Hinterhaus und Fensterrahmen ist so wässerig, blaugeädert wie die Hände sehr alter Menschen, und eine erkaltende Tasse Tee in der Hand stehe ich in der offenen Balkontür und sehe dem Rauch einer Sampoerna nach, die mir die Lippen süß färbt und die Zunge betäubt. Ab und zu klingelt das Telephon, der Freund der einen meldet sich zu selten, der Freund der anderen viel zu oft, und ich soll irgendwo in Kreuzberg feiern kommen.

Vor dem gefüllten Kühlschrank vergeht mir der Hunger. Ein Stück Brebiou schneide ich mir ab, klebrig verläuft der Käse in meinem Mund, und ich werfe den Rest weg. Morgen wird die Welt nicht anders aussehen als heute, denke ich, und in einem Jahr stehe ich wieder auf diesem oder einem anderen Balkon, sehe dem Rauch meiner Zigarette nach, und, was auch immer geschehen mag, die Welt wird mir auch in dieser Nacht, in diesem Jahr oder im nächsten ihr Geheimnis nicht zeigen. Den goldenen Schrein, der die Mitte von allem bezeichnet: Ich kenne die Zauberformel nicht, der Ritus bleibt mir verschlossen, und was auch immer durch meine Finger rinnt: Nichts wird mir bleiben als die Nacht, die harte, glatte Oberfläche der Welt und der Rauch einer langsam verglimmenden Zigarette, die nach fremden Ländern schmeckt, in denen sich die Pforte zum Sanctum der Welt gleichfalls nicht öffnet.

Nachtrag: Der Herr svenk, der muss mich gesehen haben, als ich da auf meinem Balkon stand, und hat ein Bild gemalt, dass ich ganz stolz geworden bin. Große Freude.

Die blicklosen Gärten

Wievieler fremder Menschen Fuß die Gehsteigplatten berührt haben mag, über die ich frierend die Kastanienallee entlang nach Hause laufe? Wieviele Küsse in der dunklen Toreinfahrt getauscht wurden, wessen Leiche das Treppenhaus heruntergetragen, welches Glück in den Räumen gelebt haben mag, in denen ich die Hände um eine Tasse Tee lege, um ein wenig gewärmt zu werden in dieser kalten Stadt? Wer hat vor dieser Haustür auf jemanden gewartet, der nicht kommen wollte, wer hinter jenem Fenster die Straße entlanggeschaut, welche Hoffnungen sind hinter den dunklen Scheiben eines Eckhauses gestorben – die Steine sprechen nicht zu mir, stumm bleibt der Wind, und meine Finger spüren nichts von der Erregung, der Wut, dem Glück derer, die vor mir auf diesen Straßen gelebt haben. Unberührt, gleichgültig, schaut die Stadt uns zu, die Bäume wollen nichts wissen von unseren Sehnsüchten, der getriebenen Jagd nach etwas Ungenanntem, den kurzen Schauern und einem ohnmächtigen Sinken, das wohl warten mag irgendwo, wenn nicht hier.

Die Tasse weiß nichts von dem, der mit mir Tee trank, Abende lang, um so leise, so unvermisst zu verschwinden, wie er aufgetaucht war. Die Widmung in einem schmalen Band, die von einer Reise spricht, die niemals stattfand. Das hölzerne Nilpferd, das mein Vater in Afrika kaufte. Der Sessel, in dem der Hund gern schlief, als die Polster noch weiß waren, und der Hund noch lebendig. Die Vase mit den Lilien, die auf dem Schreibtisch meiner Großmutter stand, das Bild, das mir ein Allerliebster malte, als er der Liebste noch war, und am Morgen warm und schützend neben mir erwachte. Stumm bleiben die Dinge, und nur in meiner Erinnerung knüpfen sich Fäden an die Dinge, die mit mir verschwinden werden und – von Zeit und Entfernung beschwert – schon täglich loser zu Boden hängen. Und am Ende werden die Dinge, die ich täglich in den Händen halte, vielleicht in einer anderen Wohnung zu stehen, wenn auch ich nicht mehr sein werde als bloße Materie, die sich aufgibt und zurücksinkt ins Ungeformte, wo alle Sehnsucht endet.

Auf einer Insel schlafen

Wann habe ich eigentlich das letzte Mal ausgeschlafen, überlege ich, einen sehr netten Nachmittag später, und schaue auf der Tafel im Hamburger Hauptbahnhof nach dem nächsten Zug in die norddeutsche Kleinstadt, in die ich weiterfahren soll, und wo man auf mich wartet. Den einen Zug habe ich knapp verpasst, der nächste Zug fährt erst um zehn, und so kaufe ich mir bei Gosch ein Fischbrötchen und greife zum Telephon. Die V. ist gar nicht in Hamburg, höre ich, sondern bevölkert eine Münchener Party, die im Hintergrund geräuschvoll vor sich hin scheppert. Die F. sitzt mit ungezählten Leuten in einem Restaurant in Hamburg herum, ich solle mir ein Taxi nehmen und kommen, brüllt die F. gegen die Hintergrundgeräusche an, aber ich bin so müde, ich mag gar nicht mehr sprechen, ich bin seit Tagen unterwegs, und so verabrede ich mich für ein Wochenende, an dem ich, stelle ich nach dem Auflegen fest, gar nicht in Berlin bin, und versuche mein Glück bei der B.².

„Das ist schön, dass du anrufst.“, sagt die B.², und sagt zum Glück kein Wort von „warum hast du dich nicht gemeldet, wenn du schon einmal da bist“, oder „von dir habe ich ja ewig nichts gehört“. Im Hintergrund ist es ruhig, ich mag gerade gar nicht mehr weiterfahren, und die B.² erklärt mir den Weg mit der U 3 bis zu ihr, und verspricht, sich meiner völligen Orientierungslosigkeit erinnernd, mich an der U-Bahn abzuholen. Mit einer Tüte Schokolade und meiner Tasche überm Arm fahre ich der B.² entgegen, schon in der U-Bahn fallen mir fast die Augen zu, und auf dem Bahnsteig umarmt mich die B.². Zwischen alten, hohen Bäumen laufen wir die Straße herunter, es gibt Wein und die B.² schmiert mir Brote, erzählt ein bißchen von Chorkonzerten und der Kirchengemeinde und zeigt mir Photos, auf denen sehr wenig Leute zu sehen sind und sehr viel Landschaft, Städte, die leer wirken und wie die Straßen, in denen man im Traum ohne Ziel und Eile die Fassaden entlang flaniert. „Schlaf dich erst einmal aus.“, sagt die B.², schickt mich Zähneputzen, löscht die Kerzen und lässt mich allein.

„Viel Spaß.“, wünscht die B.² sehr, sehr früh am nächsten Morgen, bietet zum dritten Mal einen Schal an, schiebt mir ein Butterbrot in die Tasche und setzt mich in die U-Bahn, die mich zum Hauptbahnhof bringt und dann weiter zurück an die Ufer des steten Stroms von Stimmen, Bewegung und Geräuschen.

Die Stille über den Wassern

Am Anfang war das Wort, dann aber erhob sich eine Gegenstimme, eine dritte Stimme befragte die erste nach den Hintergründen ihrer Ansicht, und schließlich – der Schöpfer der ganzen Veranstaltung war gerade schlafen gegangen – tobte ein großes Durcheinander, alle redeten gleichzeitig, und am Ende verstand keiner mehr auch nur sein eigenes Wort:

Angela Merkels Mann, so schreibt beispielsweise die Zeitung, will nicht den Kanzlergatten geben; die Kunstmesse München wird fünfzig, und der Kandidat einer Quizshow im Fernsehen bekommt eine zweite Chance. 557 Kilo, lese ich, muss ein Kürbis gewinnen, um einen Wettbewerb zu gewinnen, und die meisten Journalisten lesen die Süddeutsche Zeitung. Ein Brei von Neuigkeiten wälzt sich papieren durch meinen Briefkasten, durch mein Gehirn, und fällt wirkungslos irgendwo zu Boden.

Ich muss das, denke ich und lasse die Süddeutsche sinken, nicht wissen. Auf meinen Alltag hat all dies keinen Einfluss. In der Welt, in der ich mit einer Tüte voller Äpfel die Schönhauser Allee entlang nach Hause laufe, ist Guido Westerwelle belanglos, und Elke Heidenreich keine Literaturkritikerin. Meinen staatsbürgerlichen Pflichten komme ich nach; täte ich dies nicht – wen würde es stören? Welche Auswirkungen hat diese Welt aus roten Teppichen und grünen Tischen auf meine Welt aus dicken Büchern und langen Telephonaten, Gin Tonic im drei und heißer Schokolade im kakao und den neuen Schuhen der besten Freundin? – Brausend und mit tausend Zungen redend wie ein Meer aus bunten Bildern und belanglosen Neuigkeiten rauscht die Welt an meiner Welt vorbei.

Nie ist es still. Nie ist es wichtig. Die Politik? Lasst´s mich doch alle aus, denke ich: Der Einfluss der Politik auf meine Existenz ist ein denkbar geringer. Das Feuilleton? Nur einen Bruchteil der besprochenen Aufführungen werde ich jemals zu Gesicht bekommen, und was die Berliner Opern, die Berliner Theater auf die Bretter bringen, wird man mir auch so erzählen. Die Theaterkritik, geschrieben von Leuten, die anders sind als ich, für Leute, die noch anders sind, als ich es jemals sein möchte, ist so egal, so egal für mich wie die Kritik der Neuerscheinungen. Jaja, denke ich, wenn die ZEIT eine Inszenierung von Castorf verreisst, die Süddeutsche ein Buch von Juli Zeh lobt.

Nie hört das Brausen auf. Der O. macht sich Sorgen um Deutschland, und die C. würde niemals Sozialdemokraten wählen. Der J.² würde die GRÜNEN unterstützen, wenn Oswald Metzger wichtiger wäre oder Jürgen Trittin tot, und der J. kann die FDP nicht ausstehen. Ein Glück, denke ich, zumindest keinen Fernseher zu besitzen, ein offenes Tor für das Getriebe der Welt.

Wie es wäre, stünde das Mühlrad auf einmal still? Der Lärm würde verstummen, in der Mitte der Welt entstünde vielleicht eine große Leere, die neu gefüllt würde. Ein leerer, heller, stiller Raum, der Platz schaffen würde für eine Stimme, die zu leise ist, um gehört zu werden? Eine Raum der Ruhe, eine Mitte, in der vielleicht etwas sichtbar würde, das jenseits der vergeblichen, hässlichen Zuckungen dieser Spätzeit von einer entrückten, erhabenen Schönheit wäre, nach der wir suchen, und die wir nicht sehen können, betäubt von dem Quietschen eines Betriebes, den wir verachten, negieren, und doch nicht abschalten können.

Dagegensein

Dieses fühlt sich gut an, und jenes liest sich angenehm, ein Duft schmeichelt der Nase, und ein Bild gefällt. „Ich mag das.“, sagt das stets kritikbereite Gehirn, und „ich mag das.“, sagt man laut zu seinem Gegenüber. Dann schaut man sich um. Man mag den Herrn nicht, der entzückt, hingerissen, vor dem selben Bild steht, wie man selbst. Man verachtet seine schlotternden, billigen Jeans, man verachtet seinen Bart und die schmutziggelben Haare. Man verachtet das kurzärmlige Flanelhemd, das über seinem Bauch hängt, und man möchte weit, weit weg sein von diesem Mann und seiner Zuneigung zu dem Bild, das eben noch schön war. „Ein bißchen gewöhnlich.“, sagt der Begleiter, und man nickt, und glaubt´s.

Man hat nichts gegen die Menschen, die neben einem auf den Clubsofas liegen. Man hat nichts gegen ihre schwarzen Brillen, ihre Cordsakkos, die Stiefel der Mädchen über den Tüllröcken und die Tops, wie man auch eins im Schrank hat. Es sind nur so viele. So viele Menschen mögen dieselbe Musik, den selben Laden, die selben Kleidungsstücke, die man auch selber trägt, ununterscheidbarer Teil dieser Masse. Man mag keine Masse. Man kraust die Nase, man macht sich ein bißchen lustig über die Menschen, die jeden Donnerstag in den selben Läden auf den selben Sofas liegen, ein bißchen tanzen, ihren Gin Tonic trinken, und man möchte anders sein, kein Teil einer Masse und ganz weit weg.

Man liebt die Girlanden, die weiche Wortflut eines Dichters. Aber hat ihn nicht auch die ZEIT gelobt? Man mag aber keine Studienräte mit ihren Bärten. Man sitzt gern an gedeckten Tischen, man hat gern schweres Silber in der Hand, man mag die dünnwandigen Teetassen, durch die das Kerzenlicht flackert und der Tee goldbraun schimmert. Aber man mag kein Teil sein einer bürgerlichen Renaissance, man denkt an blonde Rechtsanwälte in hellblauen Hemden mit ausgehendem Haar, und möchte nicht verwechselt werden mit Menschen, die über Altersvorsorge sprechen und Verträge abschließen, die sich jährlich mit 4 % verzinsen. Man lästert, man reißt einen Graben auf zwischen denen und einem selbst und füllt ihn mit vielen Worten und dem abschätzigen Lachen, das denen vorbehalten ist, die man zu gut kennt, um sie zu mögen.

Man hat, sagt man schulterzuckend, ein oppositionelles Temperament. Man mag grundsätzlich nicht, was andere Leute mögen, wenn es denn zuviele sind, und auch diese Neigung teilt man mit vielen, vielen Leuten. Man mag diese Leute nicht, ihre Nörgelsucht und ihr stetiges Gegenanrennen gegen Dinge, die nun einmal sind, wie sie sind. Man mag keine lauten Leute, man mag keine Menschen, die immer ein Haar in jeder Suppe finden, und man ist schon aus Opposition gegen diese Leute für die Welt, so wie sie nun einmal aussieht. Die Leute, die sich so schrecklich wohl fühlen in ihrer Haut, die kann man aber auch nicht gut haben, und so ist man wenigstens aus anderen Gründen dafür. Man mag aber auch den billigen Snobismus nicht, sich von allem absetzen zu müssen, und ist deswegen dosiert, ab und zu, dann doch einmal für etwas, was alle mögen, wie man glaubt.

Man ist sich nur zu klar über die Haaresbreite, die einen von jenen trennt.

Man kommt vielleicht sehr weit ab von seinem ursprünglichen Empfinden. Und eines Tages, der vielleicht einmal kommt, und vielleicht schon einmal da war, wird man nicht mehr wissen, was man mag, wer man ist, und wer man wäre, wäre man allein auf der Welt, und nicht Teil jenes geräuschvollen Knäuels von Meinungen, Gesprächen, Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten, die sich um jenen eigentlichen, wahrhaften Kern der eigenen Persönlichkeit wickeln, von dem ich nicht weiß, ob es ihn überhaupt gibt.

Im Wasser zu singen

Die Blumenfrau wickelt die roten Schwertlilien dreimal in Papier, damit sie nicht durchweichen auf dem Weg nach Hause. „Ist schon gut,“, sage ich, dass ich es nicht weit habe, und es den Blumen doch nicht schaden wird, ein bißchen nass zu werden. „Ihnen geht´s gut!“, sagt die Frau mit der grünen Schürze, und hört sich ein klein wenig missbilligend an, ganz so, als sei es an höherer Stelle nicht gern gesehen, an diesem Herbsttag in Grau lachend die Kastanienallee herunterzulaufen, die Regentropfen mit der Zunge von den Lippen zu lecken, und auf den zehn Minuten Weg vom Gemüsehändler bis zum Bäcker alle vier Feigen aufzuessen, die so überreif sind, zuckerig süß, verlustig schon der säuerlichen Feigenfrische, und so saftig, dass sich der Feigensaft mit dem Regen in meinen Mundwinkeln mischt.

„Wieder unter den Lebenden?“, lacht die B. in den Hörer, und fragt nach Britten in der Komischen Oper, ein Glas Wein will die C. am späteren Abend trinken, einen Tee am Nachmittag der J., und ich sage alles, alles zu in Kompensation der allzu arbeitsreichen letzten Woche, süße mir den Lapsang Souchong mit drei Löffeln Zucker, und winke den Kindern im Hinterhof zu, die pudelnaß im Kastanienlaub rascheln. „Na duuu?“, grüßt mich ein kleines Mädchen zurück, und ich frottiere mir erst die Haare, um dann doch in die Dusche zu steigen, heißes Wasser über Rücken und Nacken. Ein neues Duschgel brauche ich demnächst einmal, denke ich, das nicht nach Sommer riecht, nicht nach Zitronen, Meer und grünem Gras, und stelle mir warme Zedern vor, vielleicht Orange, vielleicht Rosen.

Durch die offenen Badezimmertür, durchs Rauschen des Wassers singt Eberhard Waechter 1959 großartig, strotzend unter Giulini, und ich singe mindestens genauso laut, aber fürchterlich falsch mit:

Finch’han dal vino
Calda la testa
Una gran festa
Fa preparar…

Die Unendlichkeit des Universums

Ob das Universum unendlich ist, oder ob man nicht doch, flöge man immer geradeaus, irgendwo an eine Wand stoßen würde, hinter der es nicht weitergeht, mag mein grauhaariger, magerer Physiklehrer mit den schiefsten Zähnen der westlichen Hemisphäre irgendwann einmal erzählt haben, auch diese Information ist indes an meinem für Naturwissenschaften aller Art extrem wenig empfänglichen Gehirn komplett vorbeigegangen.

Selbst für den Fall, dass sich das Universum als endlich erweisen sollte, ziemlich lange wäre man doch unterwegs, stelle ich mir vor, würde ich heute nacht von der Brüstung meines Balkons im vierten Stock mit ausgebreiteten Armen immer höher hinauf fliegen. Dünner würde die Luft, kalt würde mir, und ich würde bedauern, nicht noch einen Pullover angezogen zu haben, und vielleicht doch die Barbour-Jacke statt des grünen Jäckchens mit den Goldknöpfen, das ich in Budapest gekauft habe letzte Woche. Einigen Flugzeugen würde ich ausweichen, mich auf einem Satelliten ein wenig ausruhen, weil das Fliegen eine anstrengende Sache ist, und für ein paar Minuten, eine Zigarettenpause lang, hätten die Berliner einen hundsmiserablen Fernsehempfang und würden mit der flachen Hand ein wenig ärgerlich auf das Gerät klopfen, bis ich weitergeflogen wäre, aber das wissen die Fernsehzuschauer ja nicht, da unten auf ihren Sofas. Am Mond käme ich vorbei und an der Sonne, an den anderen Planeten und dann immer weiter, vorbei an Himmelskörpern, die man von Berlin aus gar nicht mehr sehen kann, bis ich irgendwo angekommen wäre, wo nicht einmal die NASA mehr weiß, wie es da ausschaut.

Wenn das Universum aber tatsächlich unendlich, oder doch zumindest fast grenzenlos sein sollte, dann wird sich unter den unendlich vielen Himmelskörpern doch auch eine unendlich große Zahl von Sternen befinden, die menschlichem Leben genauso zuträglich sind wie die Erde? Und auf einer Reihe dieser Sterne hätte auch das menschliche Leben ungefähr die selben Bahnen wie hierzulande beschritten? Auf einigen dieser Planeten, denke ich mir, hat sich die menschliche Zivilisation natürlich völlig anders entwickelt, auf einigen Sternen ist man noch im Jahre 1512 und auf anderen bereits im Jahre 80080 – und auf einigen Sternen ist irgendetwas schiefgelaufen, Hermann Göring III. wäre ein veganer Erbmonarch, irgendwo anders hätte die Russische Revolution gesiegt, und ganz woanders wäre Berlin eine hässliche, dreckige und kaputte Stadt, in der keiner leben mag, der´s vermeiden kann.

Die Hälfte von unendlich, so höre ich meinen Mathematiklehrer knarzen, sei immer noch unendlich, und so müsste ja auch ein kleinerer Teil von unendlich immer noch unendlich sein, und in einigen dieser unendlich vielen Welten sind die Abweichungen von dieser Welt alles in allem eher unbedeutend: Irgendwo, wo man schon recht lange hin unterwegs wäre, würde man dort seinen Urlaub verbringen, wäre eigentlich alles so wie hier, nur das Bürgerliche Gesetzbuch wiese einige kleinere Abweichungen auf. Oder die Kastanienallee wäre Fußgängerzone. Und in einem noch kleineren Teil dieser unendlich vielen Welten würde auch ich herumsitzen, aber hätte etwa Germanistik studiert oder wäre Krankenschwester.

In einem noch kleineren Teil wäre ich zwar, wie ich bin, aber hätte damals, 15 Jahre ist´s her, den G. bekommen. Oder den E. nicht geküsst, oder den J. behalten oder hätte im Frühjahr meine Sachen gepackt und wäre nach Wien gezogen. In einer dieser vielen Welten habe ich mir die viele Arbeit gar nicht aufnötigen lassen, die mir diese Woche zäh und mühsam die Tage füllt, und säße gerade im „Visite ma tente“ beim Wein herum mit der C., oder mit dem B. im „Lass uns Freunde bleiben“ beim Tannenzäpfle statt daheim beim Tee, oder würde mit dem J.² irgendwo in Friedenau auf die Kinder seiner Kollegen aufpassen wie verabredet.

Und irgendwo, in einem noch kleineren Teil der unendlich vielen Himmelskörper, gäbe es natürlich auch eine Blogosphäre. Und mein Blog. Und diesen Eintrag.

Geschenkt

Oh… oha – ein Geschenk für mich, so entnehme ich zumindest dem Wunschzettel dort zu meiner Rechten, von dem jene, die mir eine Freude zu machen wünschen, mir Bücher ins Haus schicken lassen können. Ein freundlicher Mensch, so steht es dort unter „bereits gekauft“, habe mir ein Buch des hochgeschätzten Altphilologen Fuhrmann über den gleichfalls geschätzten Marcus Tullius Cicero zukommen lassen. Allerdings ist bei mir nichts dergleichen angekommen.

Entweder war´s die Post oder amazon hat Ihre Bestellung, lieber Leser verschlampt. Was macht man den in einem solchen Fall, fragt sich das Fräulein Modeste, und stürzt sich ergebnislos wieder in die Arbeit.