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Osmans Töchter

Die Berliner Türken gehören zu Westberlin wie das Strandbad Wannsee oder Harald Juhnke, und wie ganz Westberlin stecken auch die Westberliner Türken in einer Art Zeitblase, in der die Achtziger Jahre einfach nicht vergehen wollen. Da in diesem immerwährenden Jahr 1985 die Mauer natürlich noch steht, ziehen die Berliner Türken so gut wie nie in den Osten. Im Prenzlberg gibt es deswegen, meine ich, weniger Türken als in Nordfriesland oder auf dem Mond. Das merkt man dann auch an der Gastronomie.

Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt schon ein türkisches Restaurant im Prenzlberg gab. Das nächstgelegene mir bekannte Gasthaus war das Hasir am Hackeschen Markt. Doch selbst wenn es schon ein türkisches Restaurant oberhalb der Dönergrenze gegeben haben sollte, dann sah das vermutlich so aus, wie diese Läden, in denen man in Kreuzberg gut isst und schlecht sitzt, also so eine Kulisse aus Teppichen, Kupferkannen, Wasserpfeifen, das Ganze untermalt wahlweise mit türkischem Pop oder leierndem Ethnokitsch. 1985 – wir kommen zurück auf die Westberliner Blase – fand man das für die sog. Spezialitätenrestaurants nämlich gut und richtig.

Bei Osmans Töchtern in der Pappelallee dagegen ist es schön. Betonböden und unverputzte Mauern, Lampen aus Schraubgläser und schlichte Tische und Stühle wirken nüchtern, eine sehr zurückgenommene Eleganz, die von ganz, ganz wenigen orientalisierenden Stilelementen aufgenommen wird. Man sitzt ein wenig eng, aber angenehm. Das finden andere anscheinend auch: Um sieben ist jeder Tisch besetzt. Ohne Reservierung geht hier, schätze ich mal, nichts.

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Der Service ist schnell, herzlich und freundlich. Es erscheinen ein ordentlicher Viognier für mich und Efes für den J., und statt der ursprünglich gewählten gemischten Vorspeisen – für zwei zu viel, aber weniger gebe es nicht, sagt man uns – kommen ein Bulgursalat und gehackte, gut gewürzte Auberginen. Es ist jetzt nicht so, dass diese Vorspeisen eine noch nie dagewesene kulinarische Offenbarung bedeuten würden. Es schmeckt sehr gut, aber nicht anders als bei anderen türkischen Restaurants oder letztes Jahr im Urlaub. Dem F. immerhin scheint es großartig zu munden, er stopft sich den ganzen Brotkorb nach und nach in den Rachen, und zeigt immer wieder auf das Auberginengericht. Okay, Kleiner, denke ich, und löffele ihm das Zeug in den Mund. Der F. liebt scharfes Essen und außerdem liebt er Knoblauch.

Als die Hauptgerichte kommen, beneide ich den J. kurz um sein Essen. Er isst Hackfleischbällchen auf kleinen Brotstücken, die unter einer dicken Schicht gewürztem Joghurt verschwinden. Es sieht sehr, sehr gut aus und riecht auch phantastisch. Viel besser, finde ich, als mein gegrillter Lachs mit auf den Punkt gegartem Gemüse und Ofenkartoffeln, woran es rein gar nichts auszusetzen gibt, aber sehr türkisch mutet das Gericht nicht an. Mein Fehler: Ich hätte die Dorade nehmen sollen.

Dass der Teller des J. besser aussieht, findet auch der F. und weist meinen Lachs mit zusammengekniffenem Mund und heftigem Kopfschütteln zurück. Wieder und wieder zeigt er auf das Essen vom J. und bekommt reichlich Stücke von Fleisch, Brot und Joghurt in den Mund geschoben. Im Ergebnis haben der J. und der F. dann beide etwas weniger gegessen, als beiden lieb wäre. Eine Kinderkarte wäre hier schön oder zumindest ein Ausweichgericht wie Nudeln mit Sauce oder so, wie es bei den meisten Italienern auf der Karte steht. Beim nächsten Besuch würde ich dem F. auch ein Hauptgericht bestellen, allerdings erscheinen mir die Hauptgerichte von 15 € an aufwärts alle etwas zu teuer für eine Person, der Nudeln mit Käse völlig reichen.

Am Ende entscheiden der J. und ich uns dann doch gegen ein Dessert. Wir haben genug Süßes gegessen, versichern wir uns gegenseitig und verweisen auf die folgenden Feiertage. Wir zahlen dann so circa € 65, meine ich, und laufen langsam zurück, durch den tauenden Schnee, vorbei an der Kulturbrauerei, vorbei am November, vorbei an Anna Blume, und im Wagen liegt der F. und schläft und träumt, tja, vermutlich von Nudeln mit Sauce. Mir aber hat’s gefallen.

Osmans Töchter
Pappelallee 14 (neben dem Ballhaus Ost)
10437 Berlin

Der Turbomuffin

Wenn man den Berliner Milieuschutzfreunden glaubt, war ja früher alles besser, als die Semmel noch Schrippe hieß, und man für 60 qm 100 Reichsmark zahlte. Wir aber wissen: Das ist alles gar nicht wahr.

In Wirklichkeit – ich war dabei – waren die Bewohner Prenzlbergs keineswegs schöne und fröhliche Menschen, sondern in erheblichen Teilen ziemlich graue Gestalten, die vor den Spätkäufen der Stadt grimmig Dosenbier tranken. Die Häuser waren grau und rochen komisch, und in ganz Ostberlin gab es keine vernünftige Pâtisserie. Die Parties waren gut, das Bier kostete 2 Mark, aber wer vernünftigen Kuchen wollte, fuhr entweder in den Westen oder kaufte den guten, aber nicht sensationellen Kuchen bei Sowohlalsauch.

Das immerhin hat sich geändert. Allein im Bötzowkiez gibt es vier vernünftige Möglichkeiten des Kuchenkaufs. Die Chance, in einem Privathaushalt ordentlichen Kuchen vorgesetzt zu bekommen, ist damit eigentlich ziemlich gut, doch wenn aus den alten, schlechten Zeiten noch irgendetwas übrig geblieben ist, dann das: Man bekommt in Privathaushalten so gut wie nie Selbstgebackenes. Ich liebe aber hausgebackenen Kuchen.

Nun ist es ja mehr als verständlich, dass niemand mehr Zeit hat für eine abendfüllende Schwarzwälder Kirsch oder Bienenstich. Aber ein schneller Gugelhupf? Ein Streuselkuchen? Und wenn es für alles nicht mehr reicht, wenn der Besuch schon quasi vor der Tür steht, wenn kaum mehr was im Haus ist, und niemand Lust hat, noch einzukaufen, dann gehen doch immer noch Muffins. Und zwar die schnellsten Muffins der Welt:

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(200 ml Schlagsahne, 150 gr. Zucker, 1 Pck. Vanillezucker, 3 Eier, 200 gr. Mehl, 1 EL. Maisstärke, 1. Pck. Backpulver, Zitronenschale und Saft von 1/2 Zitrone

Alles verrühren, in Muffinförmchen füllen und bei 175° C 25 min. backen. Anschließend mit Zuckerguß von der übrigen 1/2 Zitrone überziehen und verzieren)

Ich ist ein anderer

Keine Ahnung, sage ich. Reichlich langweilig hier. Ich erlebe ja nichts, weil ich zu erkältet bin, um irgendwo hinzugehen. Ich sitze hier einfach nur herum, lese ein bißchen, schaue gelegentlich einen Film oder eine neue Folge West Wing, und spreche mit und über mein Kind. Das ist ziemlich eintönig, fürchte ich.

Auf der anderen Seite: In anderen Blogs ist im engeren Sinne auch nichts los, und die liest ja auch wer. Foodblogs zum Beispiel. Finde ich toll. Ich koche kaum was nach, zugegeben. Aber ich schwelge immer in diesen Sachen, ich male mir aus, auch mal so was mehr Modernes und Gutaussehendes zuzubereiten. Außerdem finde ich es gut, wenn Leute auswärts essen und darüber schreiben.

Elternblogs sind auch so ein Phänomen. Zwar rangiert das Ansehen des klassischen Muttiblogs noch deutlich unterhalb des Blogs von Leuten, die stricken. Auf der anderen Seite: Die Spitzen des Genres, die sind schon sehr, sehr super. Ich bin den Buddenbohmschen Kindern beispielsweise noch nie begegnet, aber sie sind mir seit mehreren Jahren überaus sympathisch.

Warum, frage ich mich, ist das eigentlich nichts für mich? Okay, meine Performance als Mutter und als Köchin ist vielleicht jeweils nicht so beispielgebend, dass man unbedingt drüber schreiben müsste. Auf der anderen Seite: Meine Performance als Normalberlinerin in den letzten Jahren war auch nicht so großartig, dass es zwingend notgetan hätte, sie auszustellen. Habe ich trotzdem gemacht und war lustig.

Insofern, meine Damen und Herren, mein Vorsatz steht fest: Von heute bis nächsten Freitag bin ich Foodbloggerin. Und die Woche drauf mache ich eine Woche Muttiblog. Mal sehen, wie sich das anfühlt.

Erkältet

„Nee.“, sage ich. Ich hab‘ mich nicht in Luft aufgelöst, nur weil ich nichts schreibe, keinen anrufe und nirgendwo auftauche. Ich bin einfach nur erkältet, und zwar so richtig erkältet, so, dass man mit Anstand eigentlich nirgendwo hingehen kann, also so brechhustenerkältet, so reibeisenheisererkältet, so erkältet, dass ich mir einen erkältungsfreien Zustand schon gar nicht mehr vorstellen kann.

Gelegentlich lehne ich mich gegen die Erkältung auf. Dann fahre ich ein Wochenende an die Ostsee. Oder ich koche einen Riesentopf Hühnersuppe mit Eierstich, Zitronenschale, Grießklößchen und haufenweise Gemüse. Oder ich bleibe mal einen Sonntag im Bett. Leider nützt das alles nichts. Ich huste einfach weiter, ich huste mir die Seele aus dem Leib, und wenn es nicht endlich Sommer wird, dann, ja dann: Dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Vielleicht wandere ich dann einfach aus.

Schneeköniging

Irgendwann morgens um vier aber wache ich auf und kann nicht mehr schlafen. Ein dicker Brocken lag in meinem Traum herum, grau, grob und zerklüftet, an dem hab‘ mir die Füße wund gestoßen und bin aufgewacht dabei, und nun liege ich in meinem Bett, das heute nacht nicht mein Bett ist, sondern ein Hotelbett, weiß bezogen und so breit, wie ich es zu Hause auch gern hätte und nicht hab‘. Gedämpft durch Fenster und Vorhänge rauscht draußen die Ostsee.

Neben mir liegt mein Kind, der F., schläft und verzieht das Gesicht, als wüsste er, dass nicht alles Grün und Gold ist hinter den Fensterscheiben, und klammert sich noch etwas fester an meinen Arm, weil die Schneekönigin zurückgekehrt ist, diese Nacht, und lauert eiskalt im Schatten der Mauern, im dichten Geäst, und dort, wo die Gischt sich bricht und es weiß wird im nächtlichen Wasser.

Schlaf weiter, mein Prinz, flüstere ich dem F. ins Ohr und streiche ihm sanft die Wangen. Morgen wird ein schönerer Tag als heute, und heute ist es besser als gestern. Übermorgen weht es die Schneekönigin fort, heim hinters Meer, und unter dem Eis blühen heimlich schon Märzbecher und Narzissen, der Goldregen streckt seine Arme aus, die Kirschen greifen nach den Wölkchen und der Sommer packt seinen Rucksack ein, voll Eis am Stiel und beschlagenen Gläsern im Prater, voll Fledermäusen und Schwalben, voll rauchender Grills im Volkspark, Geräuschen von Flip-Flops, Radfahren im Rock, Bikinis, Schwimmen im See und reich an Früchten und Blüten.

Vorbei

Wir sahen alle schon mal besser aus, schaue ich in Gedanken noch einmal in die Runde von gestern. Diese glatte Marzipanhaut hat niemand mehr am Tisch. So langsam verändern sich auch die Haare, und auch unter der Haut tut sich etwas. Nasen werden knolliger, Augen kleiner, die Haut sitzt nicht mehr so straff auf den Knochen, und nackt würde sich wohl niemand mehr gern jemandem zeigen, der einen nicht schon kennt.

Ab jetzt geht es nur noch abwärts, sinkt mir ein bißchen das Herz. Ich war ja nie schön, vielleicht so gerade eben und an guten Tagen ein nettes Mädchen eben, aber selbst dies zu verlieren, nicht mehr gesehen zu werden, einfach nur noch so da, totes Fleisch, das wird mich doch nicht wenig schmerzen

Du wärst gern schön gewesen, seufze ich mir zu, aber dann stehe ich doch auf, koche mir Kaffee, streichle den F. wach und hole ihn aus seinem Bett, und schaue nur noch flüchtig in dem Spiegel im Flur. Vorbei ist vorbei.

Woanders. Nicht hier.

Gelangweilt in Dierckes Schulatlas herumzublättern, während vorn an der Tafel Herr F. monoton etwas über Landwirtschaft in der UdSSR schwadroniert. In Russland, höre ich, hungern die Leute, aber die Karten sind so bunt, so bunt, erzählen von Erzvorkommen und Bergen, Meeren, und wenn man nicht ganz genau hinsieht, kann man Scheiche sehe und Oasen, singende Frauen mit Krügen auf dem Kopf und melancholische, alte Indianer.

Wie schön das klang: Odessa. Luxor. Ätna, Bergamo. Eriwan und Dehli. So viele Geschichten staken in den kleinen, runden Punkten. Keine der Geschichten aber kannte der Herr F., und die Karten selbst hatten noch nichts zu erzählen, damals, als es das Internet noch gar nicht gab, irgendwann so ungefähr 1985.

Inzwischen ist das anders, denn zu den großartigen Dingen, die das Internet kann, gehört, dass man das machen kann: Die Frau Kitty hat eine Riesekarte eingerichtet voller Geschichten. Ich bin begeistert, befülle (gerade habe ich 2006 durchforscht und hochgeladen) und bewerbe: Hier ist es. Machen Sie mit.

So gern geraucht

Die letzte Zigarette … warten Sie: Es muss im Sommer 2011 gewesen sein. Ich saß auf dem Helmholtzplatz, vor dem Vin Pearl, wo man wirklich ganz gut essen kann, und trank irgendwas mit Hibiskus und Wodka. Mir gegenüber saß der U. und sprach mehrere Stunden über seinen Beruf.

Es war schon ziemlich spät. Der Himmel hing schwer, warm und feucht in die Bäume. Die Erde dampfte. An den anderen Tischen saßen ein paar Paare, zwei Mädchen zeigten sich gegenseitig Bilder auf ihren Handys, und ich dachte darüber nach, was eigentlich aus den Bettlern geworden ist, die früher immer hier waren und dann irgendwann nicht mehr.

Irgendwann brach ich auf. Der U. sprach immer noch, als ich aufstand, er sprach, als ich mein Rad aufschloss, und als er 50 Euro auf den Tisch warf, sprach er gleichfalls einfach weiter.

„Hast du noch eine Zigarette für mich?“, unterbrach ich ihn, und er nickte. Der U. rauchte eigentlich nicht, nur ab und zu und sozusagen inoffiziell, und dass er trotzdem immer Zigaretten dabei hatte, lag vermutlich an seiner Abneigung daran, irgendwelche Leute um etwas zu bitten. Mir kam das entgegen. Ich rauchte schon damals eigentlich auch nicht mehr.

Ich glaube, er war schon wieder bei seinem Job, als er in seiner Tasche nach einem zerknüllten Päckchen P&S suchte, eine einzelne Zigarette aus dem zerknautschten Papier fingerte, sie sich zwischen die Lippen steckte, anzündete und ein-, zweimal langsam zog. Für vielleicht zehn Sekunden war es still. „Danke.“, sagte ich, drehte mich weg und schob mein Rad langsam die Dunckerstraße abwärts Richtung Norden.

Zwei Tage später wusste ich vom F. und saß überwältigt und benommen auf einer Hochzeit in Sachsen-Anhalt. Natürlich rauchte ich nicht. Auch als der F. dann da war, rauchte ich nicht eine einzige Zigarette. Ich bin Nichtraucherin, sage ich inzwischen ohne die Einschränkungen, mit denen ich früher meine späteren Niederlagen garnierte, doch gestern nacht, gestern nacht in der Küche der Frau Kitty, angelehnt an die Küchenzeile und im Gespräch mit dem gloriosen Monsieur Glamourdick, da war ich so nah dran: Fast schon die Rechte ausgestreckt, fast schon die Lippen geöffnet, fast schon die Lunge voll mit trägem, weißen Rauch, und dann doch. Doch nicht. Doch so nah dran.

Sekt

„Sucht Euch was aus.“, stellt der M. drei Flaschen vor uns auf. Schloss Wackerbarth lese ich auf der ersten, Mumm auf der zweiten, und den Namen der dritten Flasche habe ich vergessen. Jedenfalls war es Champagner. Champagner unterschreitet – so meine Erfahrung – nie ein trinkbares Niveau und versetzt mich eigentlich immer auf der Stelle in richtig gute Laune. Ich möchte deswegen eigentlich sehr gern von der dritten Flasche trinken, aber irgendetwas hält mich zurück.

„Sei doch nicht so spießig.“, zische ich mir zu, aber das hilft gar nichts. „Man trinkt doch nicht einfach so Champagner!“, zischt es nämlich zurück, und dann sehe ich sie in meinen Augenwinkeln auf dem Sofa sitzen: Die weißen Haare akkurat frisiert und mit sehr viel Haarspray fixiert. Ein hellblaues Twinset mit goldfarbenen, runden Knöpfchen daran. In den Händen Strickzeug oder einen Stickrahmen oder auch nur einfach die Zeitung, sitzt meine Großmutter auf dem rosengeblümten Sofa der M. und des M., und schaut mich stirnrunzelnd an.

„Wir brauchen einen Anlass!“, höre ich mich folgsam sagen, und neben mir nickt die I. Die hatte bestimmt auch eine Oma, die Champagner nicht anlasslos trank, bin ich überzeugt, und auch der M. wundert sich rein gar nicht. „Dann trinken wir eben auf die S.!“, geht er auf meine innere Großmutter ein, deutet auf sein frisch geborenes Baby, und wir nicken begeistert. Ein Neugeborenes ist ein richtig guter Anlass, der auch meine Oma voll und ganz überzeugt hätte, und so füllt der M. die Gläser.

Ob es, überlege ich, solche Damen eigentlich noch gibt? In deren Kopf es eine wohlgeordnete Rangfolge gibt, zu welchen Anlässen Champagner getrunken werden darf? Die ganz genau wissen, dass zu einem 70. Geburtstag Champagner gereicht werden darf, zu einem 68. aber nur Krimsekt? Die gern morgens für den Kreislauf oder nachmittags mit Freundinnen zu Tee und Torte einen Sekt aufmachen, aber dann darf es nur Mumm sein oder maximal ein Winzersekt, der ungefähr die zehn Mark kosten darf, die der Mumm kostet?

Mit Sparsamkeit hatte das, so weit ich das beurteilen kann, noch nicht einmal etwas zu tun. Auch geschenkter Champagner durfte nicht einfach so geöffnet werden, und ich meine mich deutlich daran zu erinnern, dass eines Tages, wir waren just nach 500 km Fahrt angekommen, ein Sekt getrunken werden sollte, aber ausschließlich Krimsekt oder Champagner im Haus waren. Davon gab es bisweilen nämlich ziemlich viel, weil mein Onkel P. von dankbaren Mandanten immer wieder Champagner geschenkt bekam, aber wegen Problemen mit derlei Getränken in der Vergangenheit jenen nicht trank. Meine Großmutter öffnete angesichts dieser Lage nun aber nicht etwa die günstigste Flasche der vorhandenen Vorräte. Vielmehr zog sie sich an, nahm mich an die eine Hand, eine Einkaufstasche in die andere, und zog los.

„Auf die S.!“, verteilt der M. nun die Gläser, und wir trinken auf das Kind. Lebe hoch, denke ich und lächele dem schlafenden Baby zu. Alles Gute. Hab‘ es immer, immer gut, wünsche ich der Kleinen, Glück zuhauf und jeden Tag – wann immer Du magst – Champagner.

Der Möbelhändler aus Moskau

Vor einigen Jahren – ich glaube, es war 2009 – fuhr ich mit dem J. also nach Bali.

Bali ist hübsch. Die Balinesen sind ganz freundlich, es gibt ziemlich dekorative Tempel mit skurrilen, kleinen Geister- und Götterfiguren darin und darum, und es gibt einige nette Hotels. In einem dieser Hotels wohnten wir und lagen im Bett. Es war früh, also ungefähr zehn abends.

Draußen war es dunkel, aber laut. Es war sogar sehr laut, also sehr, sehr laut, und es wurde auch nicht leiser. Die Lärmquelle war gut zu lokalisieren. Der Krach kam vom Nachbarbalkon, auf dem offenbar eine Art Party gefeiert wurde. Man hörte Gläserklirren und laute Stimmen. „Verdammt, Russen.“, ärgerte sich irgendwann der J., und dann schwiegen wir beide vielleicht zwanzig Minuten zemlich verdrossen, denn wir fahren im Urlaub ganz gern in so absolute Rentnerhotels, um uns da einmal richtig auszuschlafen. Mit feiernden Russen nebenan geht das aber nicht.

Nach einer weiteren halben Stunde hatte ich genug. Es sollte wieder leise sein. „Geh du doch mal rüber.“, bat ich den J., der aufstand, sich anzog, nach draußen ging und dann stundenlang nicht wiederkam.

Für kurze Zeit machte ich mir Sorgen. Dann aber vernahm ich des J. Stimme inmitten der russischen Trinklieder. Verstimmt, aber beruhigt zog ich mir die Decke über den Kopf und schlief ein. Irgendwann nachts erschien der J. und schlief am nächsten Tag bis in den Nachmittag.

In den nächsten zehn Tagen hielten uns die Russen tagsüber am Strand Liegen frei und bestellten für uns Bier mit. Die Russen waren vier oder fünf, ungefähr in unserem Alter. Die Frauen waren blond und hübsch, die Männer eher unauffällig, und der Mittelpunkt der Gruppe war ein russischer Möbelhändler, nett und eloquent, recht gutaussehend und offensichtlich nicht arm. Als sie fuhren, tauschten wir E-Mailadressen, versprachen ein Treffen, wenn wir in Moskau oder die Russen in Berlin weilen würden, und dann ging jeder seines Weges.

Wenig später kam facebook. „Ich habe den Russen wiedergefunden.“, verkündete der J. und zeigte mir ein Bild des russischen Möbelhändlers, wie er mit einer Freundin (seiner Freundin?) im Arm vor einem Club stand. „Aha.“, sagte ich und scrollte die Bildleiste herunter. Auf jedem zweiten Bild stand der Russe in Begleitung hübscher und unwahrscheinlich aufgetakelter Frauen und strahlte in die Kamera.

In den nächsten Monaten, nein: Jahren, wurde der Russe dem J. nahezu unheimlich. In schnellem Wechsel stand und steht er auf den vielen Bildern auf seiner facebook-Seite neben geradezu unwahrscheinlich vielen Damen, die irgendwie aussehen, als würden sie im Fernsehballet tanzen oder fungierten als russische Glücksrad-Assistentin. „Bist du dir sicher, das er wirklich Möbelhändler ist?“, fragte ich den J. mehrfach, der nicht ganz ohne Neid das offenbar verhältnismäßig glamouröse Leben seines russischen Bekannten auf facebook verfolgt. Der Russe, so scheint es, feiert immerzu und jedes Wochenende mit schönen Menschen exzessive Feste.

„Spricht er da über Möbel?“, fragte ich den J. heute, der mir ein Bild zeigte, auf dem der Russe nun offenbar sogar im Fernsehen neben zwei lasziv posierenden Damen zum Publikum spricht. „Sieht nicht so aus.“, meinte der J. stirnrunzelnd und betrachtete verständnislos die russischen Lettern über dem Bild, die den Hintergrund dieses Bildes möglicherweise näher beleuchten. Möbel waren auf dem Bild keine zu sehen.

Ich warf einen Seitenblick auf den J. Er war – er wird dies abstreiten – gelb vor Neid.