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Wedekind

Wie mir scheint, gehört es zu den ersten Verbalhandlungen der Kleinstkinder, unmittelbar nach der ersten Anrufung der Erzeuger sich auf dem Spielplatz zusammen zu rotten und eine neue Generation auszurufen. „Generation Kollwitzplatz“ oder so, vielleicht auch „Generation Sportbuggy“.

Einige Jahre später, gegen Mitte des zweiten Lebensjahrzehnts, genauer gesagt: Mit 16, stellt sich die Lage etwas differenzierter dar, genauere Analysen müssen her, und so versinkt auch mein kleiner Lieblingscousin gelegentlich in ausführlichen Betrachtungen seiner generationsspezifischen Eigenarten.

„Ihr wart ja immer noch zu zweit.“, meint der Kleine, und malt für die Zukunft ein gräßliches Szenario von beziehungsunfähigen Einzelkindern aus, in denen Papas kleine Prinzessinnen und Mamas kleiner Liebling sich gegenseitig mit Schaufeln auf den Kopf hauen, wenn einmal irgendetwas nicht klappt. Man sei ja so wenig gewöhnt, Kompromisse zu schließen. „Hmmm“, murmele ich ein wenig uninteressiert vor mich hin und schaue bedauernd auf den nackten Grund meiner Teetasse. Überhaupt, fährt der Kleine fort, die Kompromissfähigkeit sei ein generelles Problem. Man sei so oberflächlich geworden. „Ganz anders als deine alte Cousine und Konsorten, was?“, ätze ich ein wenig in der Struktur dieses nicht besonders reizvollen Gesprächs herum. Der Kleine lässt sich indes nicht beirren und erzählt eine fürwahr erstaunliche Geschichte über seinen Freund H.

H. als ein ambitionierter junger Mensch, zugetan den schönen Künsten und insbesondere der Literatur, musste irgendwann feststellen, im Klassenverband irgendwie ins Hintertreffen geraten zu sein. So in amore. – Interessentinnen habe es aber schon gegeben, der H. sei nämlich sportlich und sehe gut aus, aber ein bißchen idealistisch sei er veranlagt, und ein Perfektionist dazu offensichtlich. Eine ernsthafte Sache wie die Uraufführung des H.´schen Liebeslebens habe H. daher nur mit einer absoluten Starbesetzung erleben wollen, denn, und so sagt mein Cousin in ernsthaftem Tonfalle, man eröffne ja auch die Scala nicht mit einer Performance der Waldshuter Liedertafel von 1904. Überhaupt, ein so prägendes Ereignis, das man nie vergesse, und dass im Fall des Fiaskos schwerwiegende Folgen zeitigen könne für die Psyche eines Menschen….der H. habe also lange geschwankt. Eine Kandidatin, mit der er es sogar schon ins Kino geschafft hatte, habe sich als ausschließliche Leserin billiger Kriminalromane entpuppt. Eine andere sei bei näherem Hinsehen irgendwie zu kräftig gewesen, „so der Typ Frauenfußball“, sagt mein Cousin, und man hört, wie es ihn ein wenig schüttelt. Schließlich habe H. eine Wahl getroffen, die Wahl war angetan, und die Dinge nahmen ihren ordnungsgemäßen Verlauf.

Später aber, nach dem Ereignis, wie mein Cousin mit hörbarem Bedauern ausführt, habe H. seine Gefährtin irgendwie nicht mehr so besonders gemocht, versucht, diese auch für ihn irritierende Empfindung zu verbergen, und sich schließlich offenbart. „Wie krank ist denn das?“, frage ich nach. Der H. sei halt nicht verliebt gewesen, und dann sei das eben so bei ihm, sagt mein Cousin, und verbietet mir, ehrliche Empfindungen anderer Menschen zu sezieren. Vermutlich, so seziert mein Cousin selber, habe H. im Nachhinein erkannt, dass sein Ideal der göttlichen Verschmelzung mit diesem Mädchen doch nicht zu verwirklichen gewesen sei, und er sich somit in der Auswahl seiner Premierenpartnerin geirrt habe. Zuviel Perfektionismus sei eben schädlich.

Das Mädchen jedoch habe diese Abfuhr schwer genommen und angekündigt, sich demnächst zu entleiben. „Das hätte die eh nie hinbekommen.“, meint mein Cousin, und erwähnt ihren kurzfristigen Aufenthalt in einer Klinik, die sich ausschließlich solchen Problemen widmet. „Der reinste Wedekind.“, ächze ich in den Hörer und freue ich meines Erwachsenseins.

„Ja, und wenn das schon so losgeht.“, meint bekümmert mein Cousin.

Möchten Sie mich glücklich machen?

Im Frühling, wissen wir, wird alles neu, Frühlingsgefühle durchziehen das menschliche Gemüt, und man geht daher in Gärtnereien und bepflanzt den Garten oder zumindest den Balkon schön bunt und üppig.

Bunt und üppig soll mein virtuelles Heim vielleicht nicht werden, aber dort oben, wo Sie gerade noch einen roten Balken sehen, da möchte ich einen Vorhang haben, einen Theatervorhang nämlich, um meine banale Daseinsform ein wenig theatralisch zu umkleiden. Als rechtstreuer Hasenfuß hätte ich gern eine Abbildung, die keinem Urheberrecht von fremden Leuten unterliegt. Gemalt oder abphotographiert ist mir gleich. Und wenn Sie so etwas irgendwo in petto haben, und Sie würden es mir zukommen lassen, dann…

…brauche ich nur noch Hilfe beim Anbringen.

Ach ja, und wo wir schon einmal dabei sind: Es gibt so Leute, die können auch in Kommentaren alles mögliche machen, fett schreiben, zum Beispiel, durchstreichen oder alles kursiv in die Kurven legen. Ich bewundere diese Menschen. Wie man verlinkt, hat ein netter Herr mir mal geschrieben, aber eine Liste, so eine richtige Liste mit allen Anweisungen drauf und am besten einem Beispiel, die hätte ich schon gern.

Lobende Erwähnung auf diesen Seiten und meine ewige Dankbarkeit wären Ihnen gewiß.

Nachtrag: Auf Ihre Hilfsbereitschaft ist Verlass! Ich danke also Frau Kaffemäulchen, Herrn Booldog, dem Herrn Mequito, Frau Assoziativspeicher, Herrn Pathologe, Herrn Kid37, Herrn Che2001 und dem Jazzlog für schnelle Hilfestellung.

Wissenschaft und Schlafstörung im Leben der M.

Zu den eher unschönen Gegebenheiten des Wissenschaftsbetriebes gehört die lästige und unergiebige Angewohnheit, in regelmäßigen Abständen an teilweise abgelegenen Orten zusammenzukommen und sich dort gegenseitig aus den jeweils neuesten Schriften vorzulesen. Abends gibt es äußerst mediokre Buffets mit hartgekochten Eiern und aufgeschnittener Extrawurst, und man ist angehalten, sich mit den anderen Mitgliedern des Mittelbaus zu unterhalten, falls diese einmal wichtig werden, und man später etwas von ihnen will. Kommt es ganz schlimm, wollen andere Beteiligte auf der Stelle etwas von einem selbst, obwohl man schon aufgrund einer schwerwiegenden und in Fachkreisen deutschlandweit berüchtigten Faulheit vermutlich nie wichtig wird, und schauen nach der unausweislichen Abfuhr die nächsten Jahre oder Jahrzehnte jedesmal beleidigt zur Seite, wenn man den Raum betritt.

Des Nachts, um zum eigentlichen Problem zu kommen, übernachtet man kostensparend in Gästehäusern des CVJM oder Zweisternehotels, in denen sonst Bustouristen absteigen. An den Wänden hängen dann sehr sonderbare Bilder auf einer irgendwie pastelligen Strukturtapete, im Bad wartet eine Miniseife darauf, sich mit ihr von Kopf bis Fuß abzureiben, und von den Frühstücksbuffets mag man gar nicht sprechen. Die großartige Idee des stilvollen Kurzzeitheims, welche ihre Verwirklichung so trefflich in pittoresken Absteigen wie in den schimmernden Palästen der Belle Époque findet – in jenen Häusern, die sich auch renommierte Forschungseinrichtungen noch leisten mögen, wird sie gnadenlos pervertiert. In jenen Hotels, die ihren Namen nicht wert sind, wird dem Opfer wissenschaftlicher Umtriebe ein Bett in einem Doppelzimmer zugewiesen. In diesem Bett liegt man dann nach des Tages Müh´ und Last, die mehr oder weniger vertraute Zimmergenossin schläft friedlich vor sich hin, man selbst aber schläft keine Minute und wälzt sich leise hin und her. Man kann ja gar nicht schlafen mit einer Fremden neben sich. Man kann, bei Licht betrachtet, nicht einmal mit guten Freunden im Zimmer schlafen, obwohl man doch weiß, dass weder diese noch jene jemals auf die Idee kommen werden, einem des Nachts den Kopf abzuschneiden. Man hat, kurz gesagt, eine veritable Macke.

Vor Jahren, noch wohlausgestattet mit kindlichem Grundvertrauen in die Welt, war diese meine Marotte noch ganz gegenteilig ausgestaltet: Stets musste die Tür offen sein, eine kleine schummerige Lampe brannte die ganze Nacht auf der weißen Kommode, und wenn ich nachts aufwachte, weil in meinem träumerischen Unterbewusstsein einmal wieder der Teufel los war, kam mein Vater über den Korridor gleich gelaufen und hielt mich fest, bis ich wieder schlief. Schon Klassenfahrten oder Reiterhof allerdings gestalteten sich zunehmend schwierig: Macke zugeben und gegen Entrichtung der Mehrkosten alleine schlafen, ging auf keinen Fall. Mit sechs Mädchen in der Jugendherberge nächtigen ging aber gleichfalls nicht, bis die Übermüdung nach ein paar Tagen dann doch für einen gesunden Schlaf sorgte.

Zunehmende Selbständigkeit in der Planung auswärtiger Aufenthalte half mit den Jahren, diesem Problem aus dem Weg zu gehen: Rucksacktouren ja – aber auf keinen Fall Schlafsäle. Verreisen mit guten Freundinnen? Gern, aber nur getrennte Zimmer. Eine einzige Freundin, erprobt in allen Wasserglasstürmen, die mein Leben so zu bieten hat, behindert nicht meinen Schlaf.

Führt der akademische Tagungscircus seine Mitglieder in Städte, in denen mir liebe Menschen wohnen, so quartiere ich mich im Regelfalle auf den Schlafcouches und in den Gästezimmern dieser meiner Lieben ein. Rege Umzugstätigkeit auf allen Seiten hat die Liste der Städte, in denen ein Zimmer zur nächtlichen Alleinbenutzung zur Verfügung steht, mit den Jahren kräftig anwachsen lassen. Kiel oder Passau, Heidelberg oder Frankfurt am Main, das Ruhrgebiet und die rheinischen Provinzen – alles kein Problem. Weiße Flecken auf dieser Karte stellen allerdings nach wie vor die neuen Bundesländer dar, in die es die Menschen meines Vertrauens offenbar selten oder nie zieht.

Jahrelang wurde dies nie zum Problem. Gibt es irgendwelche Gründe, sich jemals nach Gotha zu begeben? Sind Rostock oder Meiningen Orte, die nicht gesehen zu haben den Fremden schmerzt? Selten oder nie fanden Tagungen im Osten statt, blühende Landschaften der Wissenschaft ließen zumindest in dieser Beziehung auf sich warten, dieses Jahr aber haben sich die Mächte der Finsternis gegen mich verschworen: Fast täglich reiße ich die Post auf und finde Ankündigungen von Tagungen und Seminaren an allen Orten des Ostens, die ich noch nie bereisen wollte…und vor allem: Wo ich niemanden kenne. Und sehe mit Grausen langen, schlaflosen Nächten in tristen Hotelzimmern entgegen.

Beruf und Erotik

„Frauentechnisch ist Richtersein das letzte.“, meint der D., und saugt mit resignierter Geste an seinem Smothee. „Anwalt ist aber auch nicht wesentlich mehr sexy.“, wirft der T. ein, und damit dürften die wesentlichen juristischen Berufe sich als Köder auf der Partnersuche erledigt haben. Professoren sind zwar meistens verheiratet, Erscheinung und Wesen der Professorengattinen legen indes den Verdacht nahe, dass es durchaus Berufe gibt, die ihren Trägern auf der Pirsch mehr Nimbus verleihen als ausgerechnet der des Gelehrten.

Kreative Berufe, so munkelt man, wirkten wesentlich attraktiver, ein Künstler gar, vielleicht ein Dichter, allerdings hat ein auf diesem Gebiet bewanderter Herr bereits glaubhaft versichert, dass dies ein Irrtum sei: Ohne Gitarre ginge gar nichts.

Im Ergebnis sei der Beruf eines Mannes vermutlich egal, meint C., dem jedoch ist natürlich ganz energisch zu widersprechen: Wer sich als Landwirt, evangelischer Pastor oder Müllmann offenbart, muss schon sehr zielgruppengenau suchen.

Wie es mit den Landwirtinnen bestellt ist, ist gleichfalls unbekannt, wenn es denn überhaupt Landwirtinnen gibt, denn auch das weiß ich nicht genau. Zu meinem übergroßen Leidwesen scheint auch die Jurisprudenz nicht zu denjenigen Berufen zu gehören, die ein weibliches Wesen mit einem zusätzlichen Nimbus auszustatten in der Lage sind. Umfangreiche Feldforschungen haben vielmehr ergeben, dass das Ideal einer Frau in den Augen der überwiegenden Anzahl der Männer beispielsweise in einer Galerie arbeitet, auch Orchestermusikerinnen sind begehrt. Sängerinnen dagegen hält der gemeine Mann für zickig, und das einzige mir bekannte Exemplar bestätigt dieses Vorurteil auch aufs Schönste.

Bei Titeln scheint es eine feine Differenzierung zu geben: Männer werden durch einen Doktorgrad eher attraktiver, will mir scheinen, bei Frauen verschweigt man den Klotz Papier offenbar besser, Adelsprädikate dagegen schmücken Männer wie Frauen aufs Beste.

Und am Ende zieht wohl doch am ehesten ein Paar schöner Augen.

Woanders

Erst von den weißen Polstern am Wriezener Bahnhof in die Sophienstraße, noch jemanden abholen, und dann hoch, 12 Stockwerke über dem Alex tanzen. Großartig ist es hier. Als es schon fast hell ist, aber eben noch nicht ganz, im Taxi weiter nach Friedrichshain. Meine Freundin auf der Fahrerseite lacht hin und wieder anlasslos ein wenig, und singt ein Lied an, das ich nicht erkenne. Uns fährt ein bärtiger Türke, der sein Taxi mit goldfarbenen Plastikblumen dekoriert hat, und kein Wort mit uns spricht. Der französische Dokumentarfilmer neben mir auf der Rückbank legt mir seine fette Hand auf den Oberschenkel und lallt, in fünfzig Jahren seien wir alle tot. Nach der allgemeinen Lebenserwartung männlicher Westeuropäer dürfte es meinen schwitzenden Nachbarn allerdings schon in gut zwanzig Jahren dahinraffen. Bei meiner Freundin ist er schon vor Stunden abgeblitzt, nun schiebe ich die fremde Hand zurück auf den dazugehörigen Bauch, und den Rest der Fahrt schaut er stumm aus dem Fenster die Stalinbauten entlang.

Die Wohnung, deren Tür sich einige Minuten später öffnet, wird ganz offensichtlich nicht zum Wohnen genutzt. An einem riesigen, wilhelminischen Tisch mit Knorpelkrebs sitzen ein paar Gestalten, meine beiden Begleiter begrüßen den einen, der ihnen mit offenen Armen entgegenkommt. Der Raum ist dunstig vor Qualm. Die Musik ist dafür angenehm, leise und geschmackvoll, langsam werden die Bässe in meinem Kopf leiser, und mit meiner Freundin setze ich mich zu einem bunt geschminkten Mädchen auf die Couch, die sich einige Minuten später als polnische Filmstudentin vorstellt. Einer der Männer am Tisch, ein hagerer Riese mit schwarzen langen Haaren, ist ihr Freund. Ein großer Künstler, sagt sie, wir nicken und fragen nicht nach.

Eine Art Kellner gibt es auch, wir bestellen Gin Tonic, und bekommen ein Tischchen herangezogen mit einem schweren Marmoraschenbecher drauf. Am Tisch fliegen die Karten, die Fremde, meine Freundin und ich trinken noch einen Gin Tonic, und als selbst durch die schweren blauen Vorhänge das Licht dringt, erinnere ich an meinen Zug ein paar Stunden später und gehe. Die Straßen sind ganz leer.

„Hey,“, flüstere ich ins Telephon auf der Fehrbelliner Straße, als der T. abnimmt. „Bist du schon zu Bett?“, frage ich, aber T. klingt ausgesprochen munter. Ich könne vorbeikommen, sagt T., Herzchen und Röschen, die neue Liebste, sei allerdings da und schliefe schon. „Macht nichts.“, sage ich, und klingele ein paar Minuten später. T. steht in der Tür.

Weil die Freundin einen robusten Schlaf hat, machen wir Musik an, Billy Idol singt, T. brüht einen Kanne Tee auf, und liest mir auf dem Balkon aus der Zeitung von gestern ein paar Nachrichten vor. Hinter den Vorhängen liegt die Freundin mit weit offenem Mund und grunzt ab und zu leise. „Macht sie immer,“, sagt T., und schenkt nach. „Hast du Kekse?“, frage ich, aber T. hat weder Gebäck noch sonst irgend etwas Essbares im Haus, und so ziehen wir uns an, und gehen frühstücken, sprechen über die Anschaffung türkisfarbener Pedro Garcia´s, sieben Zentimeter hoher Knöchelbrecher mit Seidenüberzug, und T. rät ganz entschieden zu. Ich puste mir die Haare aus der Stirn, beruhige meinen Magen mit frischem Pfefferminztee, und T. schaut ab und zu auf die Uhr.

„Du musst los.“, sagt er schließlich, und so lasse ich mein Frühstück stehen, und wir gehen langsam zur U-Bahn. Am Ostbahnhof fällt mir ein, meine Tasche vergessen zu haben, aber es wird auch ohne gehen, für ein paar Notfallkäufe am Zielort bin ich früh genug da, und als der Zug einfährt, steige ich ein, ein bißchen Geld und eine Karte in der Hosentasche, Zigaretten und Telephon in der Hand. T. winkt und geht langsam Richtung Ausgang.

Wenn ich nicht wiederkäme nach Berlin, denke ich, und schaue aus dem Fenster, würde meine Wohnung kündigen oder meiner neuen Mitbewohnerin einfach dalassen, und allen Freunden eine E-Mail schreiben, dass ich weggezogen bin, dann könnte ich morgen schon ein neues Leben beginnen. Nicht zu jener Freundin fahren, die auf dem Hauptbahnhof stehen und mich abholen wird, sondern irgendwohin, wo ich niemanden kenne. In einer anderen Stadt würde ich mit anderen Menschen leben, einmal schauen, ob es woanders vielleicht noch ein schöneres Leben ist als hier, ob das volle Glück vielleicht zwischen anderen Häusern wohnt, und dort jemand auf mich wartet, dessen Hände besser zu mir sind.

Echte Männer

„Das geht doch gar nicht.“, sage ich ins Telephon und lache so laut, dass die anderen Leute vorm 103 sich umdrehen. Weil es schön ist heute, und die Sonne auf die noch weißen, nackten Arme scheint, lachen ein paar sogar zurück, und ich blinzele die Sonne an, während der O. mir von einem Kerl erzählt aus dem Berghain. „Denk dir,“, sagt der O., „der Kerl kauft halt teure Wäsche, und ein bißchen sonderbar ist er sowieso, der benutzt Slipeinlagen, damit die Wäsche nicht kaputt geht. Weil die normalen Slipeinlagen nicht so für die männliche Anatomie gebaut sind, nimmt er welche für Strings, die gibt es, damit kommt er gut zurecht.“

Ich stelle mir kurz vor, wie es wäre, einen Mann auszupacken, der Slipeinlagen in seiner Leibwäsche umherträgt, und muss nochmal lachen, dann aber kommt meine Verabredung, und ich lege auf.

„Schon komisch,“, meint meine Verabredung zu O.´s neuer Bekanntschaft, und bestellt sich ein Weizenbier. Die Kellnerin trägt eine schwarze, durchsichtige Spitzenbluse, bauchfrei und geknotet, und um uns herum haben alle riesige Sonnenbrillen auf. Ich schütte mir ein bißchen braunen Zucker in den Pfefferminztee und schaue der Tram nach, die lauter Leute von Mitte aus in den Prenzlberg fährt, die heute zum erstenmal ihre Haut zeigen.

Wir debattieren ein bißchen über echte Männer, und mein Begleiter pustet sorgfältig Asche von seinem Powerbook. Nie, soviel ist klar, wird sich die Slipeinlage für den Mann durchsetzen. Die unrasierte Männerachselhöhle dagegen wird schon in wenigen Jahren, so sind wir uns ebenso einig, der Vergangenheit angehören. Die wolligen Büschel meiner frühen Jugend sieht man schon jetzt selten in den Schwimmbädern, weil die meisten Herren, wie ich vermute, daheim mit der Nagelschere ein wenig kürzen. Wer schon einmal über längere Zeiträume das Bad mit einem Mann teilen durfte, wird sich mit gemischtem Vergnügen an unendliche Stunden erinnern, in denen der geschätzte Gefährte unter Einsatz schmieriger Substanzen und stark riechender Sprays sein Haar in die richtige Fasson zu bringen bemüht war. Mein letzter Freund übrigens verfügte über zwei Kleiderschränke. Beide waren voll.

„Die verschwitzten Kerle in Karohemden wollt ihr doch auch nicht.“, meint mein Begleiter. Wie man es mache, sei es falsch. Das aber, so antworte ich und schlürfe die letzten Reste Flüssigkeit aus meinem Teeglas, sei völlig falsch. Mühelose Perfektion sei gefragt. „Geht doch gar nicht,“, wendet der Begleiter ein, und hat natürlich völlig recht. Sollen doch auch einmal die Männer leiden, sage ich, und schaue den sorgfältig und planvoll verwuschelten Männern zu, die hinter großen Sonnenbrillen die weiblichen Passanten kommentieren.

T. weiß ganz genau Bescheid

„Man kann halt nicht alles haben,“, sagt der T. und zuckt ein wenig mit den Schultern. Die jüngst verstoßene A. fühlt sich unverstanden. Sie habe ihren nunmehr wohl ehemaligen Gefährten von Herzen geliebt, indes habe das gemeinsame Leben in zumindest einer Beziehung zu wünschen übrig gelassen, und da habe sie halt… und dann sei es eben zu jener Begegnung gekommen. Der andere, der mit den Muskeln und den eher körperlichen Vorzügen, habe ihr aber nichts bedeutet, so emotional, und ihr Freund sehe das nicht ein. T. gähnt ein wenig und winkt zum zweitenmal vergeblich nach der Kellnerin.

„Als Frau kann man da ja nun nicht so ohne weiteres trennen,“, meint die R., und lächelt ein wenig unsicher dazu. „Als Mann auch nicht,“, brummt M., dem die ganze Diskussion ein wenig unangenehm ist, derweilen er mit dem ehemaligen Gefährten der A. auch weiterhin freundschaftlich verbunden zu bleiben plant. Ich werfe ein, dass dergleichen Empfinden nun doch eher individuell sein dürfte, und komme auf jenen Film von Wenzel Storch zu sprechen, den ich als offenbar einziges Mitglied meiner versammelten näheren menschlichen Umgebung gern besuchen würde.

„Dieser Relativismus kotzt mich an.“, schneidet T. meine diesbezüglichen Vorstöße ab. Es ginge gar nicht um moralische Vorschriften, jedwede Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf die individuelle Ebene zu verlagern, sei aber schlichter Blödsinn, und ein gefährlicher Blödsinn dazu. Den Frauen, so T., täte ein Mann, der sich auf diese bequeme Haltung zurückzöge, überdies keinen Gefallen. Die Frau säße da am End´, verliebe sich, und der Mann verlange noch Gelassenheit dazu und verweise auf die vereinbarte Unverbindlichkeit, zu der Frauen in aller Regel nicht in der Lage seien. Und das sei nun einmal Fakt.

A. schaut noch ein wenig unglücklicher aus als bei ihrer Ankunft. M. murmelt etwas von Fehlern, die jeder einmal macht, und schlägt einen kniefälligen Brief vor, der A. wieder in die Gunst des entschwundenen Freundes bugsieren soll. Der hänge doch auch an der A., und als Zeichen des guten Willens solle sich A. doch um eine Berufstätigkeit bemühen, denn dann sehe der Freund, dass es ihr nicht nur am bequemen Leben gelegen sei.

„Ein Bière Picon“, bestellt der M., als die Kellnerin endlich kommt, ich ordere einen weiteren Tee, um meinen ohnehin etwas anfälligen Magen nicht weiter zu reizen, und T. zählt ein paar unglücklich verlaufene Geschichten aus unserem Bekanntenkreis auf, in denen schlechte Männer netten Mädchen schlussendlich schrecklich mitgespielt hätten.

„Ich habe ihn aber wirklich nicht geliebt.“, mischt sich A. ein, und spielt auf eine gemeinsame Freundin an, die seit Jahren, wie jedermann weiß, neben ihrem geschätzten Gefährten einem weiteren Mann ihr Schlafgemach zu zeigen pflegt. Dass nicht jede alleinstehende Frau zur Keuschheit bereit oder überhaupt in der Lage sei, habe ich auch noch beizutragen, und auch M. räumt ein, dass es einige Damen gebe, die eben etwas hemmungsloser veranlagt seien als andere.

„Die haben sich was einreden lassen.“, wischt T. die Einwände vom Tisch.

Aere perennius

Wenn das alles mal ferne Vergangenheit sein wird, wenn es keinen Bundeskanzler mehr gibt und keine Hauptversammlungen mit belegten Brötchen, kein Fernsehprogramm, in dem man anderen Leuten beim Sportmachen zuschauen kann, und keine zehn Zeitschriften, die sich mit Gartenbau beschäftigen:

Wenn diese Welt also völlig untergegangen sein wird und unsere Grabsteine blank von der Zeit die Pflaster einer neuen Welt decken – was, so frage ich mich nachts manchmal vor meinen Büchern, wird dann noch bleiben und gelesen werden von jenen, die für ein paar Stunden noch einmal durch die Fußgängerpassagen unserer Welt flanieren mögen?

Auf eine Qualitätsauslese kann man wohl nicht hoffen. Den Helvius Cinna, was mag er geschrieben haben, hielt jener traurige Liebhaber der Clodia für gleichwertig, aber nichts ist auf uns gekommen von den anderen Neoteroi, deren Geistesverfassung der unseren nicht fern gewesen sein wird, den späten Kindern einer komplizierten, verrotteten, in allen Farben der Verkommenheit prächtig schillernden Welt. – Wieso sollte auch der Zufall planvoll walten. Wessen Bibliothek fast unversehrt auf die Nachwelt kommt, eingegraben in heißem Sand, oder aufbewahrt in den Klöstern, die das Gedächtnis des nächsten Untergangs bilden werden, weiß keiner, und man kann nur hoffen, dass es eine schöne Bibliothek sein wird. Je besser sie sein wird – wenn es denn eine private Sammlung ist – um so mehr wird sie Charakter und Geschmack ihres Besitzers abbilden, und das wird heißen, dass zwangsläufig etwas fehlt. Mit ein bißchen Pech wird unser Abbild in den Köpfen unbekannter Zeiten geprägt sein von der Larmoyanz und Belanglosigkeit eines Martin Walser, oder der Sehnsucht des Botho Strauß, von der ich kaum sagen kann, wieso ich sie ein wenig übelriechend, verschwitzt und alles in allem abstoßend finde.

Natürlich wird für jene, die nach uns kommen, das Gefühl unserer Zeitgenossenschaft über die Jahrhunderte hinweg wesentlich weiter gehen, als es uns erscheint. Schon Fauser steht in meinem Regal als ein Exponent der verstorbenen Bonner Republik, die Gruppe 47, die ich verachte für ihre miesen und weinerlichen Produkte, stehen meinem Leserherzen ferner als jener Bischof von Hippo Regius, und die ruchlosen Gräfinnen an den Höfen des Rokoko. Letztlich sind diese zwanzig oder dreißig, wohl auch einmal zweihundert Jahre aber wohl nichts in Ansehung der Jahrhunderte: Auch wir, sofern wir nicht professionell lesen, unterscheiden ja kaum etwa zwischen der Goldenen Latinität und der Neronischen Moderne – auch wenn das Gefühl einer inneren Kluft zwischen dem opulenten Apuleius und der klaren und luftigen Dezenz der Umbruchphase zwischen Republik und Kaiserreich deutlich spürbar ist, gleichwohl wir nicht wissen, was davon typisch gewesen sein mag, und was nur individuell. Proust, den ich liebe, mag dem Späteren noch fast als Zeitgenosse erscheinen, auch wenn die Welt der „Recherche“ von meinem nüchternen Dasein so weit weg sein mag wie der Mond, und Adler Lamm und Pfau mögen in den Sehnsüchten späterer Jahrhunderte noch den Weg von Christian Krachts türkisfarbenem Porsche-Cabrio säumen, jenem Wahrzeichen der Neunziger.

Vielleicht, so denke ich manchmal, wird aber mit den Buchmessen, den staubigen Kaffeehäusern und den öden Feuilletons auch diese Schriftkultur dahingehen, der Entwurf eines Lebens, das komfortabel ausgestopft ist mit bedrucktem Papier. Vielleicht wird niemand in späteren Jahrhunderten in einer Grabrede das Paradies als einen Ort kennzeichnen, an dem ein unversehrtes Satiricon auf dem Schreibtisch des Neuankömmlings liegt, wie es 1986 mein Großvater ausgemalt hat, als sein Bruder zu Grabe getragen wurde. Vielleicht wird auch dieses Glück enden, und am Ende bleibt stummes Papier, dass den nächsten Barbaren für nichts gut sein wird als für Feuer und Rauch.

Im Pausensommer

Einen ganzen langen Sommer irgendwann in der zweiten Hälfte der Neunziger lagen wir am Pool einer Freundin, deren Eltern so gut wie nie daheim waren. Das Haus lag am Ende der Welt zwischen Kornfeldern und Laubwäldern, die als ein grüner Saum den flirrenden Himmel und das zunehmend trockene Gelb der Felder trennten. Vorbei kam nur, wer eingeladen war, es gab keine Nachbarn, es gab keine Straße, nur einen Feldweg, der von einer Bundesstraße aus kilometerweit durch die Hügel führte, bis hinter einer Taxushecke schließlich das Haus auftauchte, ein weißer Bungalow am Ende der Welt.

Wir waren zu fünft damals, lagen um den Pool herum, und wenn ich mich richtig erinnere, dann hatte ich in diesem Sommer den letzten Bikini an, den ich jemals mein eigen nannte, ein Neckholder, schwarz, mit weißen Nähten. Auf den beiden Photos, die ich noch habe, schaue ich mir fröhlich und sonnenverbrannt entgegen, einmal mit Sonnenbrille und einmal ohne. Der Freund, mit dem die Liebe damals zu Ende ging, befand sich irgendwo auf dem Balkan, und der, der erst noch mein Freund werden sollte, fuhr durch die USA. Ab und zu schrieben sie Briefe, die ich vielleicht einmal die Woche aus meinem Briefkasten zog, um dann hochzugehen in meine erhitzte, leere Wohnung, in der der Staub immer dicker auf den Regalen lag, und mit ein paar frischen Kleidungsstücken in der Tasche wieder abzuziehen.

Am Abend zogen wir uns Jeans über die Bikinihosen, befeuerten hin und wieder den gemauerten Grill, und tanzten ohne Zuschauer auf dem Gras. Die Gastgeberin sprengte den Rasen und spritzte uns mit dem Schlauch nass, wenn eine gerade nicht aufpasste. Nachts schlief ich in einem riesigen Gästebett, dessen andere Hälfte meine damals beste Freundin einnahm. Den einzigen Mann, den ich wochenlang sah, war der Gärtner der Eltern der Gastgeberin, der einmal die Woche vorbeikam und die Beete pflegte.

Ein paar Monate später heiratete die Gastgeberin, zog davon, und der Abend der Hochzeit war der letzte, den ich in dem Garten verbrachte, in einem luftleeren Raum zwischen den Akten, erfüllt von Musik, Hitze und Gelächter.

Die Gastgeberin ist inzwischen geschieden und denkt daran, ihr damals abgebrochenes Studium doch noch zum Ende zu bringen. 34 ist sie inzwischen, wohnt wieder bei den Eltern und das ist schwierig, mit Kind. Die beiden Schwestern aus meinem Semester, rotblonde Zwillinge, sitzen wieder im Badischen, Richterin ist die eine geworden, und ein Kind hat die andere, nachdem es mit dem Job nicht klappen wollte. Die Richterin ruft nie zurück, ihre Schwester dafür um so häufiger an. Es gehe ihrer Schwester nicht gut, sagt die mit dem Kind, und dass das Ende der letzten Beziehung nun auch schon zwei Jahre her sei. Der Mann habe sich nicht scheiden lassen wollen von der Frau, die halt schon da war. Gesundheitlich gehe es ihrer Schwester auch nicht gut. Wie es ihr selber geht, sagt sie selten. Die Karriere ihres Mannes läuft ziemlich gut, und eine passende KiTa hat sie auch gefunden.

Mein ehemals beste Freundin und nach wie vor gute Freundin lacht immer noch ziemlich viel, mag ihren Beruf, wenn auch nicht ihren Arbeitgeber, und könnte etwas mehr verdienen für die Arbeitszeiten und die Verantwortung und sowieso. Gut schaut sie aus, wenn sie mal in Berlin ist, oder ich bei ihr, was ungefähr alle sechs Monate der Fall ist in den letzten Jahren. Sie ist ein wenig üppiger geworden mit den Jahren, aber nicht dick, und den Grübchen und dem wunderschönen, dicken Haar schauen nach wie vor Männer nach, wenn sie im Café sitzt und lacht. In ihrer geschmackvollen Wohnung in einem schönen Stadtviertel der großen Stadt, in der sie lebt, wo die Bäume rauschen, hat seit dem Einzug aber noch kein Mann übernachtet, und das ist nun auch schon wieder drei Jahre her. Als ich sie anrief, um meine letzte Trennung durchzugeben, hat sie mich gewarnt, etwas sei vielleicht besser als nichts. Und es werde schwieriger werden, als ich denke, nicht allein am Frühstückstisch zu sitzen all die Jahre, die noch kommen.

Vor ein paar Tagen hat sie mich wieder angerufen. Die Gastgeberin in jenem Haus am Ende der Welt verbringe den Sommer allein im Haus, die Eltern seien auch diesen Sommer nicht da. Und ob ich auch kommen wolle, vielleicht nur ein paar Tage, oder auch eine Woche, wenn es denn passt. Und dass es doch schön wäre, gemeinsam grillen, am Pool liegen und im Garten tanzen, wenn keiner zuschaut.

Mysterien des Alltags

Schön ist es auch im drei am Helmholtzplatz, zumindest solange man dort nichts à la carte ordert, und so bestelle auch ich mir gelegentlich Menschen, die ich gerne um mich habe, in jenes Lokal von entspannter Urbanität. Hat man aber zwar bereits einen Tee bestellt, die bestellte Freundin ist jedoch noch nicht eingetroffen, so kann man sich bisweilen in seltsamen Zwischenrealitäten wiederfinden, vor denen ich auch an dieser Stelle nur warnen kann – aber urteilen Sie selbst:

„Modeste?“, wird man von der Seite angesprochen, und sieht sich einem schlaksigen, blonden Herrn gegenüber, der einem nicht einmal vage bekannt vorkommt. „Ja?“, antwortet man deswegen und kramt in seinem unaufgeräumten Gehirn nach diesem zwar minder markanten, aber so unauffällig nun doch wieder nicht gestalteten Gesicht, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Währenddessen nimmt der Fremde auf dem Sofa gegenüber Platz und beginnt angeregt und etwas hastig von einer Silvesterfeier zu sprechen, die zu besuchen man sich ganz und gar nicht erinnern kann. Zwar wäre man um ein Haar auf jener Feier ins Jahr 2004 gelangt, aber Kreuzberg ist weit, und wenn mich mein Gedächtnis nicht völlig trügt, so war man mit Personen, die man sogar noch namentlich bezeichnen könnte, vielmehr in der Volksbühne, und ganz und gar nicht bei jener Bekannten, die unweit der Bergmannstraße ein paar Menschen an ihrem Esstisch versammelt hat. „Da war ich gar nicht.“, sage ich daher zu dem Fremden. Man müsse sich bei anderer Gelegenheit begegnet sein, denn eine Verwechslung scheint aufgrund der Namensnennung jener wohl tatsächlich gemeinsamen Bekannten ausgeschlossen.

Der Fremde beharrt. Man habe sich diese ganze Silvesternacht angeregt unterhalten, er erinnert an ein paar Anekdoten aus dem Leben von Schwesterchen, meinen damals noch geschätzten schwarzlockigen Gefährten, und den tödlichen Gin Tonic, der auf meine Unfähigkeit, Longdrinks nicht nur zu trinken, sondern auch zu mixen, zurückzuführen ist.

Wir müssten uns von anderer Gelegenheit her kennen, sage ich, die sich nunmehr ganz genau an diesen Jahreswechsel erinnern kann. Er sei doch nicht verrückt, sagt mein Gegenüber. Er wisse noch ganz genau, was auf dem Tisch gestanden habe bei jener Kreuzbergerin, die den guten Dingen aus der Küche sehr zugetan sei. Er zählt die Speisefolge auf, und ich bin mir sicher, derartige Dinge bei jener Bekannten überhaupt nie zu mir genommen zu haben.

„Das werden wir wohl nicht aufklären können.“, sage ich, und wünsche ihm noch einen schönen Abend. Nun wird der Fremde ein wenig ungehalten. Ich hätte ihn damals nicht nur nicht angerufen, was angesichts der Existenz des vormals geschätzten Gefährten zwar verständlich sei, nach dem Verlaufe dieser Silvesternacht aber nicht gerade zu erwarten gewesen wäre. Nun behaupte ich sogar, mich noch nicht einmal an ihn erinnern zu können? Er wisse nicht, was ich für ein Problem habe, aber schließlich habe er noch alle Gedanken beisammen, und wenn ich mich nicht (danke, Herr Kid) erinnern könne, was ich an so markanten Daten wie dem 31.12. getrieben habe, dann täte ich ihm rechtschaffen leid. Sprach´s, machte kehrt, und setzte sich ganz weit weg.

Wenig später, die Freundin ist unterdessen angekommen, frage ich sie, die zumindest meiner Erinnerung nach an jenem Abend mit mir in der Volksbühne getanzt hat, nach dem vorletzten Jahreswechsel. Sie überlegt lange. „Da waren wir in der Volksbühne.“, sagt sie, und ich atme auf. Also doch nicht Alzheimer. „Siehst du den Kerl da drüben?“, frage ich. „Nie gesehen.“, sagt sie.