Aere perennius

Wenn das alles mal ferne Vergangenheit sein wird, wenn es keinen Bundeskanzler mehr gibt und keine Hauptversammlungen mit belegten Brötchen, kein Fernsehprogramm, in dem man anderen Leuten beim Sportmachen zuschauen kann, und keine zehn Zeitschriften, die sich mit Gartenbau beschäftigen:

Wenn diese Welt also völlig untergegangen sein wird und unsere Grabsteine blank von der Zeit die Pflaster einer neuen Welt decken – was, so frage ich mich nachts manchmal vor meinen Büchern, wird dann noch bleiben und gelesen werden von jenen, die für ein paar Stunden noch einmal durch die Fußgängerpassagen unserer Welt flanieren mögen?

Auf eine Qualitätsauslese kann man wohl nicht hoffen. Den Helvius Cinna, was mag er geschrieben haben, hielt jener traurige Liebhaber der Clodia für gleichwertig, aber nichts ist auf uns gekommen von den anderen Neoteroi, deren Geistesverfassung der unseren nicht fern gewesen sein wird, den späten Kindern einer komplizierten, verrotteten, in allen Farben der Verkommenheit prächtig schillernden Welt. – Wieso sollte auch der Zufall planvoll walten. Wessen Bibliothek fast unversehrt auf die Nachwelt kommt, eingegraben in heißem Sand, oder aufbewahrt in den Klöstern, die das Gedächtnis des nächsten Untergangs bilden werden, weiß keiner, und man kann nur hoffen, dass es eine schöne Bibliothek sein wird. Je besser sie sein wird – wenn es denn eine private Sammlung ist – um so mehr wird sie Charakter und Geschmack ihres Besitzers abbilden, und das wird heißen, dass zwangsläufig etwas fehlt. Mit ein bißchen Pech wird unser Abbild in den Köpfen unbekannter Zeiten geprägt sein von der Larmoyanz und Belanglosigkeit eines Martin Walser, oder der Sehnsucht des Botho Strauß, von der ich kaum sagen kann, wieso ich sie ein wenig übelriechend, verschwitzt und alles in allem abstoßend finde.

Natürlich wird für jene, die nach uns kommen, das Gefühl unserer Zeitgenossenschaft über die Jahrhunderte hinweg wesentlich weiter gehen, als es uns erscheint. Schon Fauser steht in meinem Regal als ein Exponent der verstorbenen Bonner Republik, die Gruppe 47, die ich verachte für ihre miesen und weinerlichen Produkte, stehen meinem Leserherzen ferner als jener Bischof von Hippo Regius, und die ruchlosen Gräfinnen an den Höfen des Rokoko. Letztlich sind diese zwanzig oder dreißig, wohl auch einmal zweihundert Jahre aber wohl nichts in Ansehung der Jahrhunderte: Auch wir, sofern wir nicht professionell lesen, unterscheiden ja kaum etwa zwischen der Goldenen Latinität und der Neronischen Moderne – auch wenn das Gefühl einer inneren Kluft zwischen dem opulenten Apuleius und der klaren und luftigen Dezenz der Umbruchphase zwischen Republik und Kaiserreich deutlich spürbar ist, gleichwohl wir nicht wissen, was davon typisch gewesen sein mag, und was nur individuell. Proust, den ich liebe, mag dem Späteren noch fast als Zeitgenosse erscheinen, auch wenn die Welt der „Recherche“ von meinem nüchternen Dasein so weit weg sein mag wie der Mond, und Adler Lamm und Pfau mögen in den Sehnsüchten späterer Jahrhunderte noch den Weg von Christian Krachts türkisfarbenem Porsche-Cabrio säumen, jenem Wahrzeichen der Neunziger.

Vielleicht, so denke ich manchmal, wird aber mit den Buchmessen, den staubigen Kaffeehäusern und den öden Feuilletons auch diese Schriftkultur dahingehen, der Entwurf eines Lebens, das komfortabel ausgestopft ist mit bedrucktem Papier. Vielleicht wird niemand in späteren Jahrhunderten in einer Grabrede das Paradies als einen Ort kennzeichnen, an dem ein unversehrtes Satiricon auf dem Schreibtisch des Neuankömmlings liegt, wie es 1986 mein Großvater ausgemalt hat, als sein Bruder zu Grabe getragen wurde. Vielleicht wird auch dieses Glück enden, und am Ende bleibt stummes Papier, dass den nächsten Barbaren für nichts gut sein wird als für Feuer und Rauch.

8 Gedanken zu „Aere perennius

  1. Wow, gemessen an dem, was die Popkulturlutscher unter „Literatur“ verstehen
    (bzw. sich versteigen zu meinen, denn verstehen tun sie nichts) ist das aber
    hardest stuff! Ich würde als altgedienter Historiker zwar anmerken, dass die
    „Weinerlichkeit“ der Gruppe 47 historisch bedingt ist (hätte ich einen Zweiten
    Weltkrieg gerade frisch erlebt, wäre ich vielleicht auch weinerlich), aber in
    groben Zügen stimme ich Dir zu, ziehe außerdem den Hut vor so viel echter
    literarischer Bildung. Den Gilgamesch hast Du aber nicht im Original gelesen,
    oder? 🙂

  2. REPLY:

    Ohne unzulässige und windschiefe historische Parallelen ziehen zu wollen – nach dem für die Teilnehmer der Veranstaltung sicherlich auch eher unkomischen ersten WK hat die Literatur auch nicht dermaßen einschläfernde Ergebnisse ausgeworfen. Wenn ich Böll nur in die Hand nehme, werde ich müde, und über meine Abneigung gegen Grass könnte ich dieses ganze Blog zutexten. Diese Mischung aus gutem Willen, deutscher Innerlichkeit und mangelndem Formverständnis halte ich nicht aus, ich frage mich angesichts der zum Kauf feilgebotenen Reihen von Mistbüchern der Gruppe 47 bei Dussmann jedesmal, wer das eigentlich freiwillig liest.

  3. REPLY:

    „Und nicht nur zur Weihnachtszeit“ von Böll und „Die Blechtrommel“ von Grass
    finde ich schreiend witzig, und „Draußen vor der Tür“ von Borchers richtig
    Gänsehaut-mäßig unter die Haut gehend, sonst gebe ich Dir aber recht. Überhaupt
    ist links ausgerichtete Belletristik in Deutschland, ähnliches findet sich im Film
    wieder, im Allgemeinen staublangweilig (und das sagt ein Altlinker). Eine Ausnahme
    ist Peter Paul Zahl, der es versteht, Lust und Extase mit einer kompromisslosen
    politischen Aussage zu verbinden, aber das ist ein Unterschied wie zwischen deutschen
    Liedermachern und den Doors.

  4. REPLY:

    Ach nein, der Grass ist mir zu derb. Und zahl kenne ich kaum. Eine Ausnahme ist mir aber noch eingefallen: Wolfgang Hildesheimer, den schätze ich sehr. „Marbot“ ist wirklich witzig, und „Tynset“ habe ich mehrmals gelesen, das hat Klasse.

  5. REPLY:

    Peter Paul Zahl hat wunderbare Liebesgedichte geschrieben, die gleichzeitig politisch sind,
    z.B. „Lage der Nation“. Ich kanns nicht mehr vollständig, aber dort heißt es: „Wie könnte
    ich den Worten Deiner Lippen widersprechen, die gerade so kundig-kunstvoll meine
    Eichel umschmeicheln, wie der gerundeten Rede Deines Bauches?… Nebenher läuft
    im Fernseher eine Peepshow namens Parlament, in der die Wichser Milliarde auf
    Milliarde versenken…
    Den Lügensalven zur
    Lage der Nation setzen wir das Juchzen und Keuchen der kleinen Tode entgegen, ganz
    im Geheimen, ganz öffentlich.“ Also, das finde ich richtig klasse, ebenso wie seinen
    Schelmenroman „Die Glücklichen“, der mich zu dem Roman inspiriert hat, den ich
    gerade an den Start bringen will.

  6. REPLY:

    Klingt nach Erich Fried. Politisch verbrämter Koitalkitsch par excellence. Aua.

    (Sorry, Che!)

    (Das Liebespaar, das unbeirrt zur Tat schreitet, während ringsherum die Bomben der Legion Condor auf Guernica herunterbumsen, mag ja vielleicht gerade noch angehen, ist aber auch schon grenzwertig…)

  7. REPLY:

    Du müsstest es in voller Länge lesen, leider habe ich es nicht mehr.
    Was Zahl ausmacht, ist eine tiefempfundene Zärtlichkeit, die aus
    den zitierten Sätzen nicht spricht, aber seine gesamte Lyrik durchwebt.
    Politisch verbrämt? Jemand, der aus politischen Gründen jahrelang eingelocht
    war, verbrämt nichts.

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