Zweifellos gehört die Vogue zu den tertiären Geschlechtsmerkmalen der Frau – selbst diejenigen, die die auf den werbegesättigten Seiten jener Postille zelebrierten Kleidungsstücke niemals anziehen könnten oder würden, sind in der Lage, auf Abruf unverzüglich Meinung über die Vogue abzusondern. Wen die Vogue kalt lässt, der hat wahrlich ein abgeklärtes Verhältnis zur äußeren Welt gefunden, um den man ihn beneiden darf.
Der Wechsel der Moden im Wandel der Zeit soll jedoch auch seine negativen Seiten haben. Insbesondere ein ganz wesentlicher Bestandteil des menschlichen Seins hat bisher noch keine zufriedenstellende Lösung gefunden, und sogar die Vogue bleibt die Antwort auf die Bekleidungsfragen in diesem Zusammenhang schuldig: Ich spreche vom Tod. Genauer gesagt: Vom Begräbnis.
Als Mann hat man es leicht. Stilvoll verrottet der Herr im Gesellschaftsanzug, auch im schlichten dreiteiligen Anzug tritt der berufstätige Mann die Reise in die Unterwelt in seiner gewohnten Kluft an. Niemals jedoch möchte seine Gefährtin im Hosenanzug Lethe trinken. Wer sich im Kostüm beerdigen lässt, kann sich auch gleich in Jeans der Ewigkeit anheimgeben. Allein die minimale Chance auf die leibliche Auferstehung sollte jeden Gedanken an eine solche Gewandung verbieten.
Wer seine Bestattungsanordnungen nicht jedes Jahr ändert, dem wird aber auch die Vogue nicht weiter helfen, denn was dieses Jahr schön ist, wird in drei Jahren so abgegriffen sein, dass es unmöglich auch nur für einen Tag, geschweige denn für die Ewigkeit tragbar sein wird. Und wechselt man im Elysium eigentlich auch mal die Kleider? Oder legt man die Gewänder am Eingang ab und wandelt in griechischer Nacktheit durch die seligen Gefilde? Die mannigfaltigen Unsicherheiten von unser aller Zukunft gebieten äußerste Vorsicht in dieser delikaten Frage.
Als junges Mädchen hat man es auch leicht. Mit ungefähr 15 fabulierte ich mir etwas von elfenbeinfarbenen Empirebrautkleidern zusammen – allerdings kommt so langsam das Alter, in dem selbst eine lebendige Braut in der Auswahl ihrer Tracht vorsichtig werden sollte.
Und selbst für den Fall, dass dem Dunkel kein strahlender Morgen nachfolgen sollte – wer möchte dermaleinst durch einen unglücklichen Zufall naturmumifiziert schlecht angezogen über Jahrzehnte in einem Glaskasten zukünftiger Museen liegen, versehen mit einem hämischen Kommentar über die Kümmerlichkeit der Grabbeigaben und der armseligen Gewandung dieser bestimmt besonders unbedeutenden Leiche.
„Hey,“, kreische ich begeistert ins Telephon. „Sie hat nichts gefunden!“ „Gibt´s doch gar nicht.“, sagt der T. „Die Frau muss betrunken sein.“ Vor der Tür des Ärztehauses tanze ich ein bißchen auf der Stelle und laufe dann die Schwedter Straße hoch.
Sah es noch vor wenigen Monaten so aus, als werde ich demnächst an einem kariösen Zahn auf der Kastanienallee sterben, hat sich mein Zahnzustand nun offenbar zumindest nicht verschlechtert: Weisheitszähne besitze ich nicht mehr. Das letztjährige Inlay sitzt, die Teilkrone über der Wurzelfüllung vom November ist auch noch nicht rausgefallen, und weitere Löcher in meinen verbliebenen Zahnruinen hat die Frau Doktor heute auch nicht diagnostiziert.
„Heute mal Zahnarzt ohne Händchenhalten?“, T. winkt dem Kellner, der meine Karamelwaffel ausruft. „Schlechte Zähne kann man doch haben?“, sage ich und schiebe mir die warme Waffel mit der Karamelmasse darauf zwischen die Zähne. „Immerhin gehören Zahngeschichten nicht zu diesen schrecklichen Krankheiten, über die man nicht spricht.“, meint T. und spielt dezent auf eine meiner Freundinnen an, die R., die mit Ausdauer und Vorliebe solche Gebrechen beschreibt, die unangenehme Bezüge zu den weniger tafeltauglichen Sphären der menschlichen Physis aufweisen.
„Ich höre aber auch ungern von Mandelentzündungen oder Brüchen.“, verteidige ich die Freundin mit dem Hinweis auf die ebenfalls unerwünschten Schilderungen unverfänglicher körperlicher Mängel. „Ich finde, man sollte überhaupt nie über Krankheiten sprechen. Das erinnert so sehr an die Vergänglichkeit.“, T. betrachtet ein vom Vanilleeis durchgeweichtes Waffelstück auf seinem Löffel. „Nein,“, meine ich. Es gibt durchaus eine Rangfolge der unpassenden Krankheitserwähnungen, in der eine Lungenentzündung jedenfalls eher ausgesprochen werden kann als etwa Herpes. Und überhaupt: Blut, Eiter und Infektionen gehören verschwiegen. Trübungen des menschlichen Geistes dürfen dagegen offenherzig erwähnt werden, solange der Betroffene nicht eingesperrt werden muss.
„Sagen sie…“, von hinten zupft mich ein Mädchen im rosa Pullover am Kragen meines Cardigan. „Würde es ihnen etwas ausmachen…wir essen gerade.“ Ich nicke stumm und beschließe, R. wieder öfter anzurufen.
Indiskret? Die stille D., die ganze Abende nicht den Mund aufbekommt? Diese Exfreundin vom S. aus grauen Vorzeiten, die immer nur eingeladen werden kann, wenn S. gerade nicht in der Stadt ist? Die die Trennung vom S. auch nach fast drei Jahren noch nicht verwunden hat und über unseren nur ganz leicht schamlosen Fragen über die intime Seite des S. bis heute errötet und schweigt?
Man muss sich das so vorstellen:
Wir sitzen also selbdritt vor so drei Wochen vor irgendeinem Clubklo auf dem Sofa. Hinter dem räudigen Vorhang dröhnen die Bässe, ab und zu öffnet sich die Damenklotür und man sieht kurz eine schmale Scheibe des Spiegelbildes blasser Mädchen prüfend in den Spiegel schauen, den ein langer Riss in zwei Hälften teilt. M. und ich sprechen über Reisen, Sizilien im Herbst, Vietnam im Februar oder Paris überhaupt immer. D. spricht nicht, ab und zu setzt sie ihre Bierflasche an, ab und zu nickt sie, und wenn sie sich bewegt, zieht sie sich sofort mit einer hastigen Bewegung ihren Rock wieder über die Knie.
„Ist H. schon wieder in Berlin?“, frage ich die D., damit sie auch mal was sagt. Die lustige, üppige und stets lachende H. habe ich vor Jahren bei einem Praktikum kennengelernt. Weil H. und D. fast gegenüber wohnen, gießt D in H.´s häufiger meist beruflich bedingter Abwesenheit die Blumen und hindert die Katze am Verhungern, wenn es H. aus der Stadt treibt. „Nein.“, sagt D. und schaut ziemlich auffällig in die offene Damenklotür. „Wo steckt sie eigentlich?“, fragt der M. und erfährt, dass H. an einen beruflichen Aufenthalt in Brüssel ein paar Tage Urlaub angehängt hat. „Ist H. immer noch solo?“, frage ich und denke an den verzogenen, niedlichen Multimediaassistenten, der sich vor ein paar Wochen leider als ausschließlich und dauerhaft homosexuell herausgestellt hat. D. schweigt und nickt.
Nicht nur M. vermutet eine Geschichte. „Rück schon raus.“, M. schnippt der D. mit dem Zeigefinger locker gegen die Wange. D. studiert die Fußbodenstruktur und knibbelt ein bißchen an ihrem Rock. „Hey D.,“ sage ich. „Was haben wir schon groß weitergetratscht?“
Ein Bier und ganz leichtes Zureden weiter beginnt die D. zu sprechen. H. sei immer noch Single. „Das kann jetzt die Geschichte nicht sein.“, sage ich und stoße mit M. an. D. geniert sich.
Die D. erfahren wir wenig später, gehe morgens und abends in die Wohnung der H., um dort die Blumen zu gießen, das Katzenklo zu leeren und die Katze zu versorgen. Der Katze geht es prächtig dabei. Mit glänzendem Fell und glänzenden Augen wetzt Kater Leutnant seine Krallen an den baumartigen Gewächsen, die H.´s Wohnung zieren.
Um die etwas deprimierten Pflanzen aufzurichten habe die D., so sagt sie, nach Düngetabletten gesucht. Eine Schublade in einer Kommode, die so aussah, als enthalte sie Düngetabletten und anderes Pflanzenzubehör, habe sie geöffnet. Düngetabletten habe sie zwar nicht gefunden. In der Schublade sei statt dessen… also, sie hätte ja schon gedacht….aber nein, sie wolle nicht indiskret sein. Und es sei ja schließlich auch allein H.´s Sache. So unter erwachsenen Menschen.
„Ganz oder gar nicht.“, sagt der M. und fängt an, diverse denkbare Peinlichkeiten aufzuzählen, die H. in ihrer Schublade haben könnte. Ziemlich schnell wird die D. rot. „Ja, das war das.“, sagt sie und schämt sich sehr, H. verraten zu haben.
Details sind aus D. leider nicht mehr herauszubringen.
Unterdessen gehen die Wochen ins Land, H. kehrt zurück, schläft sich aus, und man versucht sich zu verabreden. Zweimal ist sie verhindert, dann kann ich nicht, und schließlich wird ein nachmittagliches Teetrinken daraus.
„Denk dir.“, sagt die H. lachend, „D. hat zufällig meine kleine Geheimnisschublade gefunden.“ „Ach?“, sage ich. „Ja, auf der Suche nach Pflanzendünger oder so. Und jetzt hat sie mich nach Quellen gefragt.“ „Und?“, frage ich. „Ach.“, sagt H. Das Internet sei ja nicht nur zum Mailverschicken gut.
„wir können ja mal die Woche ein Glas Wein trinken gehen.“, hast Du am Freitag angeregt, und ich habe zugestimmt. Du hattest den Abend das Kind, das Babyphon lag in Deiner Wohnung, und ich war verabredet erst um sieben zum sturzlangweiligen Essen bei Bekannten und dann um halb zehn am Helmholtzplatz. Du wolltest deswegen erst gar nicht hereinkommen, es ging um eine Rechtsfrage, und dann saßt Du doch bei mir auf den Dielen. Wir sprachen über Fassbinder´s Ehe der Maria Braun und Hanna Schygulla in Lili Marleen, über Almodóvars letzten Film und seinen unschlagbaren „Alles über meine Mutter“. Du hast von Deinen Dreharbeiten erzählt, und als ich los musste, habe ich Dir gesagt, Du könntest Dir den Termin aussuchen. Ich hätte diese Woche Dienstag Zeit oder irgendwann in der nächsten.
Du bist ein netter Kerl, aber ich werde nie von Dir träumen, habe ich mir gedacht. Und dass ich wahrscheinlich gerade zu müde bin, um mich zu verlieben, und Du nicht der Mann bist, um etwas mit Dir anzufangen, das nach Schwerelosigkeit und Sommernacht duftet, und beschlossen, diese Woche doch keine Zeit zu haben, und den Dienstag zu verplanen.
Am Samstag war ich dann unterwegs mit der J., der Wein ist mir wie immer schlecht bekommen, und die drei Jungen um die 25, die von ihrer Unternehmensgründung mit noch einem Onlineversicherungsvergleichsportal erzählt haben, waren so langweilig, dass ich mich nicht einmal mehr bemüht habe, das Gespräch am Leben zu erhalten. Der eine Junge schüttete mir immer mehr Wein ins Glas, lobte den „Untergang“ und scharfe Thaisuppen. Mir war langweiliger als jemals in meinem Leben seit der Abwahl des Physikunterrichts vor über zehn Jahren und wir sind dann abgehauen. Du wirst nie im Leben den Untergang loben, soviel steht fest, und mit derart ärgerlichen und unoriginellen Ansichten wirst Du Deine Umwelt vermutlich auch verschonen. Der Dienstag bleibt also erst einmal frei.
Vielleicht machst Du ja mal alles richtig. Ich möchte es bezweifeln. Die an sich einfache Gebrauchsanweisung für den korrekten Umgang mit Frau Modeste scheint mir irgendwie nicht beizuliegen. Aber gib Dir wenigstens Mühe. Lass´ die Kugel rollen, die Stiere sollen in der Arena die Toreros blutig stampfen. Mich zu amüsieren ist so schwer nicht.
Am Kollwitzmarkt stehen sie neben mir, kommen mir entgegen, schieben mir ihre Kinderwagen in die Kniekehlen, wenn ich nicht schnell genug bin. Die Paare sind vielleicht nur ein paar Jahre älter als ich, den Frauen sind pflegeleichte Frisuren gewachsen, den Männern wächst teilweise inzwischen sehr wenig Frisur, aber das ist es so wenig wie die robusten, warmen Kleidungsstücke, die sie tragen, weil es praktisch ist.
Vielleicht sind es die Blicke, dieses langsame, träge Schweifen, das nichts mehr hat von der Gier und der Angst vor dem ungelebten Leben, das sich in den Clubs von Mitte vergeblich an der fremden Haut festsaugt. Ihr gelebtes Leben sitzt brabbelnd und sabbernd im Kinderwagen, schwenkt ein Quarkbrötchen von Butter Lindner, und in dem Netz zwischen Wagen und schiebendem Vater hängen hochwertige Lebensmittel.
Es heißt, die Zeit ginge um so schneller vorbei, je älter man würde. Jedes Jahr sei wie das vergangene und wie das nächste dazu. Zum Schluss ersetzt eine gemütliche, vertraute Routine das leuchtende, fiebrige Pulsieren dieser Momente, in denen man glaubt, dass die Nacht niemals enden kann, weil der DJ so gut ist, dass die Bässe kreisrunde Löcher ins Gehirn gebrannt haben und man den Ausgang nicht mehr findet.
Irgendwann, so verheißen Bekannte mit Kind und fertigem Leben, werde jeder so wie sie. Die tickende Uhr habe noch jede geschlagen, wahres Glück würde oberflächliche Unterhaltung ersetzen, die immergleiche Vertrautheit eines verlässlichen Partners würde die Borderline-Liebe ablösen, vor deren Abgründen ihnen schaudert, und an deren Himmel sie nicht glauben, weil sie nie dort waren.
Mich kriegt ihr nicht, möchte ich sagen. Und dass ich das kleine Glück abgrundtief verachte. Ein Kinderblick wird für mich nie, nie den Wert des Blicks aus den Augenwinkeln eines schönen Fremden erreichen. Das angebliche Glück, jeden Morgen neben dem selben Mann aufzuwachen, habe ich schon das letzte Mal nicht ausgehalten.
Ich verachte dieses nachsichtige Lächeln, mit dem sie sich die Geschichten anhören aus einem Leben, das ihnen nicht gefallen haben kann, denn sonst hätten sie es nie aufgegeben für diese Idylle mit Kind im Hochstühlchen. Wem dieses Lebenssubstitut genügt, der isst auch Knäckebrot mit Vitam-R. Ich hasse euch, möchte ich über den Kollwitzmarkt brüllen. Und ich werde nie, nie so sein wie ihr.
Den T. kann im Grunde unbegleitet wirklich nirgendwo hinlassen – gestern nacht ist es ihm irgendwie gelungen, in einem auch nicht mehr ganz angesagten Club ein Mädchen kennenzulernen und unverzüglich zu küssen, die schon heute in den Vormittagsstunden eine SMS schickte, und Interesse an einem Wiedersehen am Wochenende anmeldete. Unterzeichnet war die SMS tatsächlich mit „KÜSSCHEN UND RÖSCHEN“.
„Ist ja toll.“, sage ich und male Visionen der weiteren Kommunikation mit Küsschen und Röschen in die Luft. „Ich kann auch nichts dafür, wenn dich keiner küsst.“, antwortet der T. Ich widerstehe knapp der Versuchung, meine Teetasse an die Wand zu werfen, und steche selber zu, wo es wehtut.
„Was du dir vorstellst, hat dich gar nicht nötig.“, sagt der T. eine für alle Beteiligten äußerst verletzende Viertelstunde später und „Versuch´s doch mal mit ´ner Anzeige.“. Ohne Jacke und Schal werfe ich da T.´s Tür von außen zu, laufe im Pullover die Fehrbelliner Straße entlang und stehe schließlich schlüssellos vor meiner Haustür. Der Schlüssel ist in meiner Jackentasche, die Jacke hängt an T.´s Garderobe, und den T. dürfte in diesem Moment gerade der Satan holen, falls die Hölle meine Gebete erhört hat.
Frierend stehe ich vor dem Haus und klingele bei meiner Nachbarin. Die Nachbarin tröstet, schenkt Tee aus, schneidet mir ein Stück Kuchen auf und ruft schließlich beim T. an. T. ist nicht da.
„Ich versuch´s mal mit meiner EC-Karte.“, sagt die Nachbarin.
Als sie an der Tür herumbohrt, geht die Tür von innen auf. T. wirft mir den Schlüssel entgegen und geht an mir vorbei zum Aufzug. Auf halber Strecke dreht er sich um. „Entschuldigung.“, sagt er. „Schon ok.“, sage ich und rufe ihn nicht zurück.
Seit der völlig missglückten Installation, die bei der Castorf-Inszenierung von „Kokain“ die Bühne verunzierte, habe ich über den Künstler Jonathan Meese die denkbar schlechteste, am Rande der letztjährigen Art Forum eindrucksvoll bestätigte Meinung. Was ich von Bernd Eichinger halte, ist gleichfalls mit Worten gar nicht mehr auszudrücken, und andere Möglichkeiten, Daniel Barenboims bestimmt großartigen Parsifal in der Staatsoper aufzusuchen, sind gegenwärtig leider nicht ersichtlich.
„Ihr seid ein paar fürchterliche Bildungssnobs.“, kommentiert die C. meine Klagen und stochert in ihrer Portion übelriechendem Eiersalat. „„Eure Begeisterung für egal was sinkt exponentiell, je mehr andere Menschen irgendwas schätzen.“ „Das stimmt nicht.“, sage ich. Ich habe nichts gegen schwedische Krimis, blutrünstige Videospiele oder Radiomusik. Ich muss nur nicht daneben sitzen.
„Das Problem ist doch, dass es gegenwärtig einen Konsens der Populärkultur gibt, in dem man ohne weiteres zum Besten geben kann, Mireille Mathieu anzubeten oder webbasierten Fußballmeisterschaften verfallen zu sein. Tut man dann den Mund auf und sagt seine ehrliche Meinung über derartige Machenschaften, so unterfällt man auf der Stelle dem Generalverdacht, sich in arrogantester Art und Weise über andere Menschen erheben zu wollen.“, T. schnüffelt an seinem Kaffee. „Solche Leute kennt ihr doch überhaupt nicht.“, hält C. dagegen und schiebt sich eine Scheibe Wurst in den Mund. „T. hat schon recht,“, sage ich. „Aber vermutlich war das niemals anders.“ T. bestreitet. Die kulturelle Hegemonie des Trashes habe auf jeden Fall zugenommen. Der Müll sei nicht neu, aber die Bekenntnisfreude der Müllanhänger wachse mit jedem Tag an. Erklärt man etwa im Kollegenkreis, Robbie Williams zu verehren, so macht sich derjenige, der die Augen verdreht, vor aller Welt zum arroganten Trottel. Erklärt man aber über seiner Pizza eine tiefe Liebe zur Barocklyrik, so hebt ein infernalischer Chor an, der erklärt, gerne mal im Urlaub ein gutes Buch zu lesen, aber im Alltag einfach zu beschäftigt zu sein. Möchte man sich im Rahmen seiner Zwangsgemeinschaft komplett unmöglich machen, weist man auf den zeitlichen Einsatz hin, den dieselben Menschen ihrem Fernsehgerät widmen müssen, um das alles zu sehen, über das sie am Kaffeeautomaten Urteile abgeben.
„Manchmal kommt man sich vor wie die computerspielenden brilligen Kofferträger in der Mittelstufe.“, beklagt der T. sein Schicksal als Bildungs-Nerd. „Stellt euch nicht so an.“, lacht die C. „Euch geht´s doch blendend.“
Hinter der Wohnungstür ist es kalt. Vor der offenen Balkontür hat sich eine kleine Lache auf den Dielen gebildet. Ich habe wohl vergessen, die Tür zu schließen, als ich aufgebrochen bin, und das ist nun viele, viele Stunden her. Die Decken sind hoch, und es wird dauern, bis der Raum wieder warm ist. Ich hülle mich in Skiwäsche und suche einen Pyjama, koche einen allerletzten Tee, und beziehe die beiden Decken zusätzlich, unter die ich sonst meine Gäste lege. Mit dem Tee in der Hand sitze ich unter dem Deckenberg und schaue Robert Byron zu, wie er Teheran verlässt, aber Teheran interessiert mich nicht heute nacht. Teheran werde ich am Morgen besuchen, wenn ich meinen Magen mit Fencheltee von den vielen Zigaretten zu kurieren versuchen werde.
Ich kann mich kaum erinnern, denke ich weiter auf der Spur des Gesprächs auf dem Weg die eisige Invalidenstraße hinauf. Wie es ist, 19 zu sein, habe ich vergessen. Das Mädchen von 1996 bin ich schon so verdammt lange nicht mehr, dass ich nicht weiß, ob sie mir ähnelt.
Auf den wenigen Photos aus diesem Jahr, und den noch wenigeren Bildern, die ich in Berlin habe, schaut sie schräg an der Kamera vorbei. Die Haare sind lang bis zwischen die Schulterblätter, die Brauen nicht gezupft, und das rot-schwarze Holzfällerhemd verdeckt den Körper, der schlank gewesen sein muss von dem vielen Sport. Dreimal die Woche Rudern und Hockey, und dabei heimlich die Grazien beneiden und sie unheimlich verhöhnen mit ihrem Ballett, schon seit Jahren auf Spitze. Einmal die Woche im Atelier einer Freundin meiner Mutter Ausdrucksmalerei. Den Bildern, die bis heute den Keller meines Vaters zieren, ist anzumerken, dass es da nicht viel auszudrücken gab. Die Schule schnurrte im Hintergrund, für´s Abitur auch nur einen Handschlag zu tun, wäre mit meiner ohnehin unterentwickelten Selbstachtung unvereinbar gewesen. Die im Nachhinein wohl altersadäquate Unsicherheit war garniert – auch dies wohl voll und ganz altersentsprechend – mit einer Arroganz, die vermutlich äußerst unangenehm aufgefallen wäre, hätte ich meine Meinung über den Lauf der Welt ausführlicher geäußert. Über die politischen Träume meines Vaters war ich ungefähr so erhaben wie die Königin von England über die Spice Girls und war überzeugt von der völligen Gleichgültigkeit der Beschaffenheit von Staat und Gesellschaft. Meine Banknachbarin J. (nicht die gleichnamige Berliner Freundin) wollte zum Theater, meine Doppelzweier-Partnerin M. träumte von Olympia, mein erster Freund wollte komponieren und der Zweite Leprakranke wieder schön operieren. Ich wollte gar nichts. Von der Wertlosigkeit meiner künstlerischen Versuche war ebenso überzeugt wie von der Unerheblichkeit meiner musikalischen Darbietungen oder sportlichen Leistungen. An dieser Wertlosigkeit litt ich nicht, ein pures, reines Faktum wie meine Augenfarbe oder der Verlauf der Autobahn.
Ich las wie eine Besengte mit ein paar Freunden um die Wette. Im Wettbewerb um den entlegensten Autor, das gesuchteste Bild, die auratischen Romane, von denen unser Deutschlehrer nur vage gehört hatte, habe ich selten gewonnen. Ich habe auch nicht gesucht. Meine Liebe gehörte der Frühromantik, Novalis war ich verfallen, die Expressionisten las ich rauf und runter. Die zumeist miserablen Gedichte der „Menschheitsdämmerung“ klingen bis heute in meinen Ohren, eine etwas peinliche Verirrung, die ich mit 25 abgestritten hätte. Walter Hasenclevers „Irrtum und Leidenschaft“ war entsprechend das erste Buch, dem ich durch die Antiquariate hinterherjagte, um es ein paar Wochen vor meinem Abitur zu erlegen.
Der expressionistische Überschwang tat mir alles in allem nicht besonders gut. Erwartete ich nichts von meiner beruflichen Zukunft, außer zu funktionieren, erwartete ich von der Liebe alles, romantischen Überschwang, Ekstase, kosmisches Weltgefühl und Verschmelzung. Hatte sich die Tür zum Paradies auf Erden wieder einmal nicht geöffnet, so reagierte ich enttäuscht, grausam, verächtlich gegenüber demjenigen, der schon wieder drei Wochen meiner Lebenszeit gestohlen hatte, die ich im Paradies verbringen wollte, um statt dessen auf den sehr farbigen Couches der Neunziger einen Frosch nach dem anderen zu küssen.
Hätte es Blogs gegeben, damals, hätte ich vielleicht ein fürchterlich verstiegenes, ziemlich ärgerliches Blog geführt. So gab es nur kleine Bücher unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zumeist hübsch, leinen- oder ledergebunden, die mir mein Vater von Reisen mitbrachte. Eine Reihe dieser Bücher steht heute bei mir. Ich blättere durch die Seiten und bin nicht einmal mehr peinlich berührt, so fremd ist mir dieses Mädchen geworden. Aber auf den letzten Seiten, kurz vor Silvester 1996, stehen ein paar Sätze, die schon von mir sind, und nicht von jenem fremden Mädchen.
„Ich fürchte, daß das immer so weitergeht, bis ich sterbe. Daß die große Liebe nicht kommt, und alles immer dasselbe ist für immer und nichts passiert, das sich lohnt.“
Könnte ich mir zurufen, durch diese bald zehn Jahre, dass da nichts kommt außer den immergleichen Ersatzhandlungen, den künstlichen Aufregungen von Spielen in jenem Casino, in dem ich mein Geld verdiene, der Sinnlosigkeit einer sich immer schneller drehenden Welt, deren Alternativen mir ebenso wenig bedeuten wie ihr derzeitiges Sein – ich hätte wohl nicht….
Doch, natürlich. …ich hätte genau dasselbe getan, hätte ich diesen Ruf aus der kalten Nacht im Berliner März 2005 gehört. Nicht als diejenige, die einen Apfelbaum pflanzt, was mir schon immer als Gipfel der Sinnlosigkeit erschienen ist. Sondern als diejenige, die der Sinnlosigkeit der Welt keine Alternativen entgegenzusetzen hat, und der ein heißer Tee, eine warme Wohnung und die Beschreibung des Wegs nach Teheran reichen.
Nachtrag:
Laut telephonischer Aussage meines Vaters ist das alles nicht wahr. Im Haupte dieses reizenden älteren Herrn führe ich ein Dasein als ein stets vergnügter Fratz, der besonders schön malen konnte.
Angeblich sind die Dänen, wie letztlich mal in der Zeitung stand, die glücklichsten Menschen der Welt, und das glaube ich seit einem Ausflug nach Kopenhagen letzten Sommer sogar ohne empirischen Nachweis. Die Dänen sind aber nicht nur sehr glücklich in ihrer mordsaufgeräumten Hauptstadt und anderswo, sie sind auch sehr gut angezogen, auf eine minimalistische und stilvolle Weise aktuell, und ihre Oberbekleidung können sie rechts und links in ihrer ja sowieso nicht besonders großen Hauptstadt kaufen. Man kann eine Menge Geld ausgeben in Kopenhagen.
„Schau,“, sagte ich damals zu meinem Begleiter und zupfte an samtenen Röcken und double-layered Organzaoberteilen herum, „die Dänen tragen die Mode der letzten Schauen tatsächlich.“ Der Begleiter zuckte die Achseln, sprach mir vom geliebten Berliner Dreck, sprach äußerst abfällig über die gesunde Schönheit der Däninnen und erinnerte sich sehnsüchtig der artifiziellen Lässigkeit der Kastanienallee.
Ich warf noch ein paar Sehnsuchtsblicke, der Begleiter murrte und schwor, aus Dänenhass nie wieder bei SØR zu kaufen, und mit fast nichts im Gepäck kehrte ich heim. An den anderen Tischen der Cafés von Berlin trugen die Menschen Camper an den Füßen, oder wildlederne Schuhe von adidas in gelb und grün, die Oberkörper pressten selbst reife Frauen um die dreißig in ausgewaschene T-Shirts mit unoriginellen Aufdrucken, und die ganze Welt bestand aus Baumwolle: Jeans, T-Shirts, Kleider, die wie lange Spaghettiträgertops aussehen mit den drei Streifen an der Seite.
Zehn Jahre. Und nun ist es wohl vorbei.
Ich will hier gar nicht von diesen Stiefeln sprechen, deren besonderes Verdienst es ist, auch schlanke Beine plump erscheinen zu lassen. Und auch nicht von der Tatsache, dass der Berliner Straßenbelag eigentlich keine Schuhe erlaubt, die nicht über eine sehr dicke, sehr massive Sohle verfügen, und keinesfalls Absatz haben dürfen. Ich trage deswegen gegenwärtig im wesentlichen immer die selben Schuhe – die derbsten, die ich habe. Aber die süßen Tussenschuhe, die Stiefelchen mit dem nach innen gebogenen Pfennigabsatz, die Sandaletten des nächsten Sommers mit koketten Seidenschleifchen seitlich am Riemchen – der nächste Sommer wird der Sommer der Diminutive.
Auch die T-Shirts in den Schaufenstern wirken auf einmal alt, nichts weiter als Souvenirs provinzieller Berlinbesucher, letzte Käufer der Logoshirt-Restposten. Die Stoffe schimmern wieder. Ein Etuikleid mit Pailletten? Ein knielanger Rock bei „parapluie“ in Pfeffer-und-Salz mit seidenen Applikationen? Ein gerafftes Oberteil mit Rüschen oder Puffärmeln, ein gepunktetes Cocktailkleid bei „Fame and Glory“?
Ach, wir werden schweben diesen Sommer, das Kellybag überm Arm, wer sich traut in dem verschatteteten Pastell des Rokoko. Wir werden schöner sein als die Däninnen in ihrer robusten Gesundheit. In diesen türkisfarbenen, seidenen Mary Janes am Hackeschen Markt mit den feinen Applikationen Ton in Ton werden wir über den zerbrochenen Beton, den Dreck, den lauten Stolz und die geborstenen Träume dieser Stadt steigen und noch einmal schön sein.
Manchmal, an besonders langweiligen und unergiebigen Tagen wie dem heutigen, male ich mir aus, wie schlechte Menschen versuchen, mit diesem Blog Geld zu verdienen, und zu diesem Zweck versuchen, aus den Inhalten samt Kommentaren die Zielgruppe und ihre Konsumwünsche zu destillieren. Klingeltöne sind den Lesern hoffentlich eher nicht so anzudrehen. Und ich esse zwar ganz gerne mal einen Happen – allerdings kaufe ich nur in äußerst mäßigem Umfange verarbeitete Lebensmittel. Gegen Werbung für Bamberger Hörnle oder schwarze Schokolade von Amadei, mit deren letzten Fatz ich gerade versuche, meine miese Laune zu kompensieren, hätte ich zwar nicht direkt etwas einzuwenden. Indes – mit derartiger Werbung wird man den Porsche eher weniger bezahlen können, das reicht wohl nicht einmal für die Leasingraten. Vielleicht doch Weightwatchers? Oder Singlebörsen? Nicht, dass ich plane, abzunehmen, oder im Internet auf die Pirsch zu gehen, wenn es schon draußen nicht hinhaut – aber vielleicht ist da ja der eine oder andere Leser, der dieses Blog gerade wegen des ausdauernden Lamento einer verwandten Seele schätzt und diesbezüglich empfänglich wäre?
Ob sich aus meiner kleinen Welt irgendwelche marktforscherischen Rückschlüsse ziehen lassen, möchte ich auch mal eher bezweifeln. Wie die Zielgruppe heißen soll, deren mitteilungsfreudige Exponentin ich mich nenne darf, wage ich mir gar nicht vorzustellen.
Aber auf den Versuch wäre ich gespannt.
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