Wenn er bis 14.00 Uhr nicht angerufen hat, dann gehe ich Kaffee trinken und warte nicht mehr. Bis 15.00, nein besser: 16.00 Uhr. Die Post war doch schon lange da. – Wenn der nächste Wagen, der um die Ecke kommt, ein Renault ist, dann ruft er gleich an, in den nächsten fünf Minuten. – Verdammt, wieso hab´ ich den Brief geschrieben. Wieso abgeschickt? Jetzt sitzt er am längeren Hebel und kann mich warten lassen. Alles in allem nur fair.
Hast du gedacht, er sitzt neben dem Briefkasten und wartet, ob Du Dich nochmal meldest? „Hey, ich hab´s mir anders überlegt“ – schön blöd wäre er, wenn er sich gleich drauf einließe. Bestimmt ruft er später an. Oder er ist gar nicht in seiner Wohnung, vielleicht ist er auch verreist. Dann hat es nichts zu sagen, wenn er heute nicht anruft, denn dann ist er ja gar nicht daheim. Das wäre gut, denn es ist ja schon drei durch. Aber vielleicht ist er nicht in Urlaub, vielleicht hat er den Brief gelesen, vielleicht hat er ihn weggeworfen und wird nie wieder anrufen. Vielleicht hat er aber auch Termine, kommt später, und der Brief ist noch im Kasten und wartet, ob er sich freut und vielleicht heute abend noch nach Berlin fährt.
Und wenn nicht? Wie lange werd´ ich hier sitzen, nervös, mit kalten Händen, ungeduscht, weil das Telefon ja klingeln könnte. Jeden Anruf nach Sekunden beenden, nicht arbeiten können, weil ich das Telefon anstarren muss, als hätte es die Kraft, ihn wiederzubringen.
Waren Sie schon einmal in Wien? Dann haben Sie den Zentralfriedhof gesehen, oder? Und die Hamburger, hört man, gehen am Sonntag in Ohlsdorf spazieren. In den kleinen Städtchen am Lande liegt noch der Gottesacker zu Füßen der Kirche; und in Japan, wo der Platz rar ist, stapeln sich die Toten in vollautomatischen Nekropolen, zu denen die Angehörigen Zugangscodes bekommen mit Plastikkarten oder Nummerncodes.
Aber wo verscharren die Berliner ihre Toten? Auf den paar Friedhöfen, die in den Reiseführern stehen, auf denen Brecht liegt oder Liebermann, da ist kein Platz für die Toten von drei Millionen. Auf diesen Friedhöfen ist kein Grab jünger als vielleicht dreißig, vierzig Jahre. Wo aber ist der Berliner Zentralfriedhof, wo lässt sich die Wilmersdorfer Witwe zu Grabe tragen, wo vergräbt man den Junkie aus dem Dixie-Klo und was passiert, wenn die Nachbarn von dem tagelang stinkenden Rentner aus der Nachbarwohnung endlich erlöst werden?
Wenn die Berliner es wissen, so verraten sie es jedenfalls nicht. Niemals entschuldigt sich der Berliner für sein vorabendliches Fehlen mit einer Beerdigung. Nicht fährt er zu den Gräbern seiner Großeltern. Gehört seine Familie zu den glücklichen Inhabern eines prachtvollen Erbbegräbnisses, gar einer romantischer Gruft? Er wird es nicht erzählen. Überhaupt berichtet der Berliner ungern vom Ableben seiner Umgebung. Bestellen Berliner eigentlich Kränze, wenn es einen Kollegen vorzeitig vom Ledersessel haut? Und wo inseriert der untröstliche Berliner seinen Schmerz um die geliebte Nichte, Schwester, Tante und Großtante?
Aber der Tod lässt die Seinen nicht aus den knochigen Fingern. „Memento mori“, rattert die U 2 dem Berliner in die Ohren. Gerade noch mittten im blühenden Leben, sieht sich der Berliner mit den Todesschwaden der Currywurstbuden konfrontiert. Gellend erinnert das Martinshorn den Berliner daran, dass auch er sterben muss.
Beate Heine, Dramaturgin der Schaubühne, die ich selten aufsuche, sieht das Gegenwartstheater von der Kritik zu wenig geliebt. Sie moniert eine Rückwärtsgewandtheit der Kritik, die dem Theater als Ort eines politischen Verständnisses von Kultur in enger Anbindung an die Populärkultur und den Zeitgeist nicht gerecht würde.
An diesen Worten ist dabei leider nur eines wahr – die Theaterkritik ist in einem dermaßen niedrigen Zustand, dass der unglaublichen geistigen Einöde der meisten Theaterinszenierungen beim Lesen der Besprechung gleich der nächste Schlag nachfolgt. Das Verständnis des Theaters, das Beate Heine offeriert, dürfte aber ein wesentlicher Grund dafür sein, dass seine öffentliche Rezeption so miserabel geworden ist, dass sich kaum jemand über die unfähige Kritik beschwert.
Bei der Erwähnung eines „politischen Verständnisses von Kultur“ fallen mir auf der Stelle die Augen zu. Es gibt eine Menge politischer Stücke – und darunter sollen sich sogar einige Sehenswerte befinden. Jeder, der „Wilhelm Tell“ dieser Dimension berauben würde und etwa eine Klamotte auf die Bühne brächte, verdient zu recht die volle Verachtung von Frau Heine, und da schmeiße ich meine gern mit dazu. Wer allerdings glaubt, durch plumpe Parallelen im Rahmen der Ausstattung oder textliche Veränderungen oder Einschübe die Aktualität des Stückes dem Publikum wie eine Torte ins Gesicht zu werfen – der hat nicht etwa die politische Dimension des Stückes herausgearbeitet. Der weiß nicht, was Theater ist und hält das Publikum offenbar für eine Versammlung von Volltrotteln, das ohne die Verlesung längerer Passagen der Briefe Rosa Luxemburg´s nicht weiß, was uns der Dichter mit der „Mutter“ mitteilen möchte. Glanz und Scheitern des politischen Theaters sind auch nicht erst seit gestern bekannt. In den Inszenierungen Piscators ist schon alles dabei – inklusive des die Internationale grölenden Bürgertums, das deswegen nicht einen Revolutionär weniger erschießen ließ.
Dass das Theater kein politischer Raum sein sollte, liegt dabei eigentlich auf der Hand. Kein Ort, an dem die Mehrzahl der Anwesenden schweigt, sollte das sein. Es gibt eine Menge denkbarer Labore des gesellschaftlichen Umbruchs, und es ist bedauerlich, dass etwa die Unis diese Aufgabe nicht besser wahrnehmen. Es gibt aber keinen Grund, warum das Theater zu diesen Laboren gehören sollte.
Es versteht sich von selbst, dass Theater nur gegenwartsbezogen denkbar ist. Zur Gegenwart gehört zwingend und unterschiedslos die Populärkultur genauso wie die Hochkultur. Und zur Gegenwart gehört auch die Vergangenheit, die sich in einer Stadt wie Berlin, die aus dreckigen Vergangenheitsmythen und dreckiger Gegenwartswahrheit geradezu gebacken ist, nicht wegdenken lässt. Und zu dieser Vergangenheit gehört natürlich auch die Vergangenheit des Theaters. Es gibt hier keinen Konfrontationskurs, den das Theater abbilden müsste. Und der Akt des Erinnerns braucht auch keine „subversive Kraft“, sondern bloß die Kraft, im Wettstreit der bewegendsten Bilder, der treffsichersten und originellsten Interpretation gut abzuschneiden. Mit Werktreue hat das nichts zu tun, die mag gegeben sein oder auch nicht.
Diejenigen, die auf der Bühne nicht Stücke inszenieren wollen, sondern Botschaften vermitteln, Experimente um ihrer selbst willen wagen oder auf ominöse „Diskurse setzt“, erregen bei mir den Verdacht, eine Unfähigkeit zu bemänteln – die Unfähigkeit, Geschichten zu so zu erzählen, dass ich sie glaube.
Denn das suche ich im Theater. Ich will mir von der Liebe erzählen lassen, und vom Scheitern, das in den hoffnungsvollen Anfängen liegt. Vom Unglück des Altwerdens in einer Dschungelsimulation, die so unecht ist, wie das Leben, das ich manchmal führe. Ich will die Verzweiflung sehen, den Verrat und den Mord, die Macht und das Elend. Bestenfalls: Tua res agitur. Im schlechtesten Fall eine mechanische Vorführung tausendmal gesehener Pseudoprovokationen, ein bißchen politische Rhetorik, ein paar Nackte, und dann hinaus in die Nacht.
Es ist mir völlig egal, welche Haltung das Theater zur Gegenwart und zu sozialen Umbrüchen einnimmt. Aber wenn ich aus dem Portal komme, das in meinem Fall in der Regel am Rosa-Luxemburg Platz steht, dann will ich versucht sein, mich auf der Stelle anbetend auf den Boden zu werfen. Und sollte das nicht der Fall sein, will ich mich wenigstens ordentlich streiten.
Dass sie allein ins Taxi steigen würde, hatte sie sichtlich nicht erwartet, als sie M. kurz vor eins am Ärmel zupfte. Sie sei todmüde, sagte sie, und in diesem einen Moment tat mir M.´s neue Freundin leid.
„Und?“, M. sah in die Runde. Der Blickkontakt blieb vorerst einseitig: C. prüfte die Füllhöhe ihrer Bierflasche, T. las die Karte, und ich beantwortete eine SMS.
„Modeste“, M. legte mir die Hand auf den Unterarm, „Ich weiß, sie ist nicht der Typ, mit dem du dich umgibst. Was hältst du von ihr?“
„Liebst du sie sehr?“, ich lenke ab. M. lacht leicht geniert, und einen Moment weiß ich nicht, was mir lieber wäre. Ich mag es nicht, wenn sich Männer von der Frau distanzieren, mit der sie schlafen. Aber M.´s neue Freundin mag ich eindeutig auch nicht. Bestimmt ein nettes Mädchen, sage ich deshalb, und erst als M. nochmals nachfragt, platze ich heraus:
„Bist du böse, wenn ich sie abscheulich finde?“ – M. sieht gekränkt aus. Selber schuld, denke ich. Ich dränge mich zu den Waschräumen durch, und als ich wiederkomme, hat sich die Atmosphäre am Tisch deutlich abgekühlt. Es ist ohnehin laut, und so höre ich nur einige Gesprächsfetzen, als ich auf meinen Platz durchrutsche. „Proseccotussi“, höre ich, „Urlaubskrimileserin“, und dann steht M. auf und geht. Er muss sauer sein, der rücksichtsvolle, brave M. schiebt die Kellnerin harsch zur Seite und steht schon auf der Straße.
Tut mir leid, M., denke ich. Vielleicht wäre es besser gewesen, bei der Version vom netten Mädchen zu bleiben. Aber die Vorstellung, M.s´ neue Freundin allwöchentlich mit lauter Stimme und etwas vulgärer Diktion erklären zu hören, dass sie ja den ganzen Tag lesen würde, und deswegen abends lieber einen guten Film schaut…nein. Auch, dass sie ihr Fitnessstudio mag, „weil da nicht so´ne Plebs abhängt“, plant niemand am Tisch sich häufiger anzuhören. Ob M. diese Seite seiner neuen Freundin nicht wahrnimmt? Seine letzte Freundin war doch auch nicht so. Ob seine Urteilsfähigkeit gelitten hat in den letzten drei Jahren?
Ach, M., denke ich da. Armer M., die drei Jahre waren zuviel für dich. „Komm zurück!“, tippe ich deswegen ins Mobile. „Kommt her“, summt M.´s Nachricht, keine Minute später.
Als wir kommen, steht M. in T-Shirt und Pyjamahose vor der offenen Balkontür und wärmt sich die Hände an einer Schale Tee. Seine neue Freundin raucht, und was er weder T. noch mir jemals erlaubt hat – sie raucht in seiner Wohnung. Eine Menge „Marlboro Lights“-Stummel mit roten Lippenstiftspuren liegen in einem gläsernen Aschenbecher neben der Spüle.
M. sieht unglücklich aus. Mechanisch und schweigend stellt er Teekanne und Zubehör auf ein Tablett. „Ich mag dich,“ sagt C. zu ihm, und streicht ihm über Schultern und Rücken. Das war wohl falsch. M. fängt an zu weinen. Er schluchzt an C.´s Schulter, die ihn festhält wie ein Kind, das sich wehgetan hat.
Ich ertrage keine Tränen, ich stelle mich zu T. auf den Balkon. Wir rauchen und es ist kalt.
Als C. und M. aus der Küche kommen, ist es wieder gut. Oder zumindest vorbei. Dann bricht C. auf, auf sie warten daheim Freund und Katze. Auf uns wartet keiner. Wir wickeln uns in Decken ein und trinken den süßen Tee mit Sahne. M. stellt sein Notebook auf die Kommode vor dem Bett und wir schauen Helmut Berger als traurigem König zu.
„PISA“, so T., sei der Sieg der Sozialdemokratie über den Geist: Dieser Glaube, Bildung diene der ökonomischen Verwertung, sichere Industriearbeitsplätze und habe etwas mit Ganztagsschulen und Kindertagesstätten zu tun.
„Ja,“, sage ich achselzuckend und winke dem Kellner. Das möchte wohl so sein. Aber was der durchschnittliche Fünfzehnjährige weiß, kann oder denkt, bewegt sich außerhalb meiner Sphäre. Die PISA-Debatte ist mir vollkommen egal.
T. wirkt leicht verstimmt.
Ich habe T. im Verdacht, seine Reden an die Nation und andere Völkerschaften sorgfältig vorzubereiten. Und so ist mir klar, dass ich der Rede nicht entgehen werde über Bildung, PISA und die Sozialdemokratie, die zu T.´s Privatobsessionen gehört.
Als mit einiger Verspätung R. erscheint, ist es dann soweit. Während ich in den erkaltenden Resten meiner Tagliolini stochere, erledigt T. den funktionalistischen Bildungsbegriff, die Bundesbildungsministerin und jene Lehrer, die das Heil der Ausbildung darin sehen, die Erstellung von Präsentationen zu vermitteln und die Fähigkeit, Inhalte aus dem Internet zu laden als eine wesentliche Kulturtechnik ansehen.
Nach einer effektvollen Pause, die ich zur Bestellung des Desserts nutze, fährt T. fort. Nostalgie senkt sich über die karierte Tischdecke, während T. eine Vergangenheit beschwört, die niemand von uns durch Erfahrung kennt. Damals, als die Großväter noch fließend Latein sprechen konnten. Als der Student in Goethe das Gute, Wahre und Schöne suchte und fand.
„Die Sozialdemokratie,“ dekretiert T., „hat Kritik und Rezeption zu Unrecht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis vermutet.“ Ich ächze ein bißchen. Allerdings ist T. erfahrungsgemäß gegen den Vorwurf der Weltfremdheit ebenso immun wie gegen unzureichende Faktenbasis, und so schweige ich und schaue den träge durch den Raum ziehenden Rauchschwaden meiner Zigarette hinterher.
Mit R., die ich nicht sehr gut kenne, hat T. offenbar ein dankbareres Publikum gefunden. Begeistert breitet die ruhige, etwas unscheinbare Frau die Arme aus. T. habe artikuliert, was sie schon immer gedacht habe. Ich denke kurz an die befristete halbe Assistentenstelle, mit der die kluge R. nicht ein Fünftel soviel verdient, wie ihre Klassenkameraden. Dann schaue ich aus dem Fenster, sehe Mütter mit Kind die Kollwitzstraße herunter schlendern, und ordere noch einen Espresso.
R. befindet sich nun im Zustand gehobener Erregung. Auf ihren Wangen bilden sich zwei erdbeerrote Flecken, sie atmet hörbar und trompetet:
„Und dann ist auch noch Manfred Fuhrmann gestorben!“
Wenn einem der Gäste des Delizie d´Italia dieses Faktum noch unbekannt gewesen sein sollte, so ist es R.´s Verdient, für Aufklärung gesorgt zu haben. Ein dicker, etwas pickliger Mann schaut sich auch prompt nach uns um. Besonders traurig wirkt er allerdings nicht, höchstens etwas besorgt, wobei die Sorge mehr dem Zustand der R. als dem Heil Fuhrmanns gelten dürfte.
Nun sind alle Dämme gebrochen, T. verlässt das Drehbuch und geht zur Improvisation über und zitiert aus Fuhrmanns großartiger Cicero-Übersetzung. Gegen Verres. Pro Sexto Roscio Amerino.
Wer im Angesicht Ciceros einen Digestif zu trinken vermag, hat keine Seele, sagt der T.; so zahlen wir und laufen die Straße herab. Die Straßenzüge rechts und links täuschen eine bürgerliche Vergangenheit vor, die es so nie gegeben hat, zumindest nicht hier. R.´s Schritte schlagen hart auf die Gehsteigplatten, und T., der die Häßlichkeit der Welt mit eleganten Gesten beklagt, beschwört eine arkadische Vergangenheit aus ehrwürdigem Papier.
„Sie können den Vortrag auch mit einem Partner vorbereiten.“, sagt Dr. V..
„Vielleicht nicht schlecht.“, sage ich. Denn ich habe genug auf dem Schreibtisch, und ein Vortrag macht Arbeit, noch mehr Arbeit macht dann der Beitrag für den Tagungsband, und so frage ich Dr. V. nach Namen.
„Der Dr. F. würde auch gerne. Schafft´s aber nicht mit einem eigenen Beitrag. Da finden sie sich bestimmt zusammen. Denken sie drüber nach und melden sie sich“, Dr. V. hängt auf.
F., denke ich. F. sagt mir was. F. kenn´ ich. – Und brühe mir eine frische Kanne Tee.
Und dann, auf einmal, als käme er just zur Tür hinein – sehe ich F. Klein, mit dünnen, stark behaarten Armen. Wieso mir gerade diese Arme so vor Augen stehen?
Natürlich. August 2001. Die Terrasse. – Sein Institut hatte seine Büros an der Südseite des Juridicums. Und an der Südseite gab es eine Terrasse. Und auf dieser Terrasse hatte F. mir gegenüber gesessen, mit hoch aufgekrempelten blaukarierten Hemdsärmeln. Und um einen Vortrag ging es auch, allerdings nicht um meinen, sondern um den meines Chefs, der mit F.´s Chef einen Gemeinschaftsbeitrag erarbeiten wollte. Und F. und ich sollten den Entwurf schreiben.
„Du bist Modeste“, begrüßte mich der F. damals, gute zehn Jahre älter und schon tief in der Habilitation, deren Besprechung ich letztes Jahr irgendwo überflogen habe .
Ich setzte mich ihm gegenüber. F. fuhr fort, an seiner Zigarette zu ziehen und blies den Rauch über die Brüstung.
„Wie hast du dir den Vortrag vorgestellt?“, F. sah mich an, und ließ den Blick wieder lässig übers Tal schweifen. Ich zog meine Notizen aus der Mappe und fing an. F. unterbrach mich.
„Hast du schon Vorträge ausgearbeitet?“ Ich verneinte. F. seufzte. Alles würde also wieder ihm hängen bleiben. Er kenne das schon. Zumindest die Recherchen könnte ich aber machen. Das sei ihm schon eine Hilfe. Und an einer ersten Grobfassung könne ich mich ja mal versuchen. Mein Konzeptpapier sei nicht schlecht, an sich. Er werde das Papier überarbeiten und mich anrufen. Oder er werde mir die Arbeitsaufträge faxen. Und die Koordination mit den Vortragenden könne er auch machen, das sei eine Sache der Erfahrung. Ob ich mitkäme zur Tagung? Ich könne mir den Aufwand natürlich auch sparen. Er sei ja schon das dritte Jahr dabei, er könne die Präsentation machen. Ich nickte, leicht verwirrt. Dann deutete F. an, er müsse jetzt arbeiten, und ich ging sehr eingeschüchtert und mit dem leichten Gefühl, übers Ohr gehauen worden zu sein, davon.
In den nächsten Wochen geschah alles, wie F. sagte. Es war eine Menge Arbeit. Nachdem ich meinen Entwurf bei F. abgeliefert hatte, hörte ich nie wieder vom Vortrag, und nie wieder vom F.
Am Nachmittag rufe ich also bei Dr. V. an. V. sei nicht da, teilt mir seine Sekretärin mit. Wo er sei? Sie sei seine Tippse und nicht seine Kindergärtnerin. Ich könne später anrufen. Oder morgen. Ich schreibe ein Post-It: V. anrufen, und vergesse die ganze Sache.
Als ich spät heimkomme, blinkt der Anrufbeantworter. Es ist F. Dr. V. muss ihm die Nummer gegeben haben.
Dumpf, wie aus dem Inneren einer leeren Dose quäkt F. aus meinem Uraltanrufbeantworter. Und er sagt:
„Modeste, du bist ja inzwischen auch ein alter Hase im Metier. V. sagt, du kannst mir ein bißchen Arbeit abnehmen. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Vielleicht kannst du ein paar Vorarbeiten machen, Recherche, erster Entwurf. Um den Rest kann ich mich kümmern. Bist du bei der Tagung die ganze Zeit dabei?“
In Beziehungen, so sagt der Romantiker, sollen wir ganz wir selbst sein dürfen. Bedingungslos angenommen vom anderen, geborgen vor den kalten Winden des äußeren Lebens. Dies beinhaltet auch Ehrlichkeit, absolute Offenheit, insbesondere in Bezug auf die eigene Vergangenheit. Und so gehen die Jahre ins Land, und irgendwann schleppen wir viel Vergangenheit in amore mit uns herum. So viele Jahre hat sich der Richtige nun schon nicht blicken lassen. Und die Falschen kommen und gehen.
Aber wenn der Richtige kommt? Mr. Right, so die Mehrzahl der Diskutanden einer Debatte, die vor einigen Tagen beim Weib geführt wurde, werde die eigene Vergangenheit nicht uns zum Nachteil gereichen lassen. Er werde die Wünsche und Begierden teilen, und die Asche der früheren Leben werde kein Hindernis darstellen, eben weil er der Richtige ist.
Hinter dieser Utopie verborgen lebt der Glaube, für jede und jeden von uns gebe es diesen Richtigen, der für uns bestimmt ist. Der alle Vorzüge aufweist, die uns wichtig sind und nur die Nachteile hat, die uns nicht unüberwindlich stören. Der uns liebt, weil wir so sind, wie wir sind. Mit den scharfen Kanten und Brüchen, den Beschädigungen und Fehlern, die wir mitgebracht oder erworben haben auf dem langen Weg. Wir müssten ihn nur finden.
Ich glaube das nicht. Oder nicht mehr. Es gibt sicher mehr oder weniger passende Kombinationen. Aber diejenigen, die die Frau suchen, die wir nun einmal sind, die sind selten. Weist einer die erforderlichen 90 % Übereinstimmung mit dem gewünschten Ideal auf, ohne die das neue Paar nicht einmal den ersten Urlaub übersteht, wieso sollte er dann auch noch die erforderliche Toleranz für ein unkonventionelles Privatleben mitbringen?
Ich führe kein so mutiges Liebesleben wie das Weib. Was ich betreibe, ist mit dem häßlichen Namen der seriellen Monogamie nicht schlecht getroffen. Zurückweisung für eine Episode meiner Vergangenheit hat mich wohl auch daher erst einmal getroffen. Und es ging um eine einzige Nacht, lange bevor ich den Mann traf, der die Geschichte von Bekannten erfuhr. Er hat über dieses Wissen nicht direkt gesprochen. Aber es war deutlich zu verspüren, dass ich ihm weniger teuer war, meine Gefühle ihm weniger berücksichtigenswert erschienen, und dass er sich hütete, mehr in mir zu sehen, als die Freundin eines kalten Winters. Ich habe ihn wirklich geliebt, und die spürbare Zurückhaltung tat weh.
Vielleicht wäre er derjenige gewesen, an dessen Hand ich heute mit Kind auf dem Arm auf dem Kollwitzplatz Gemüse kaufen könnte. Vielleicht kommt der Richtige noch, mit dem ich es aushalte. Hoffentlich hält er es dann auch mit mir aus, so launisch, unzuverlässig und anstrengend, wie ich bin. Ob mein Vorleben dann noch als möglicher Stolperstein auf den Tisch gelegt werden muss, bezweifele ich. Eine Unwahrheit über mich wird dieses Schweigen nicht beinhalten. Denn ich werde mich zeigen, wie ich bin. Nicht wie ich war.
Wie benutzt man x-stats? Laut Anleitung muss der Code auf der Homepage eingebaut werden. Das überfordert meine Kompetenzen leider komplett. Anleitungen, die auch mein dreijähriger Neffe verstünde, bitte in die Kommentarfunktion oder per Mail. Es winkt meine ewige Dankbarkeit.
Cousin G. legt gar nicht ab. Mit der rechten Hand schiebt er seinen Sohn in meine Wohnungstür. In der Linken hält er eine karierte Tasche, in der sich Kleidung und Spielzeug für zwei Tage befinden. Ich gehe in die Knie, fasse Junior an die Schultern und begrüße ihn bei mir. Junior zuckt zurück und erinnert sich ganz offensichtlich nicht die Bohne an Cousine Modeste. Dann lehnt G. den angebotenen Kaffee ab, denn unten wartet das Taxi. G. verschwindet sodann und hinterlässt Junior, die Tasche und eine schriftliche Junioranleitung.
Der Junior ist drei, ein hübsches, zartes Kind mit dunklen Locken, als Bub kaum erkenntlich. Schüchtern sitzt er auf dem Sofa und blättert in einem mitgebrachten Bilderbuch. Ich biete Schokolade an, Saft und Kuchen. Junior schüttelt kaum wahrnehmbar den Kopf. Dann eben nicht. Ich gehe an den Schreibtisch, lasse die Tür zum Wohnzimmer angelehnt und horche manchmal, ob Junior sich bewegt. Ich höre nichts.
„Mach´ dich breit“, sage ich zu Junior. „Nimm Dir aus dem Kühlschrank, was Du willst.“ Junior nickt. Ich verspreche einen Spaziergang auf den Spielplatz in den Nachmittagsstunden und arbeite weiter.
Eine knappe Stunde später steht Junior in der Tür, als ich mich umdrehe. Wie lange er da schon steht? Nun hat er doch Hunger, ich brate Kalbsschnitzel und decke den Tisch.
Junior ist ziemlich klein und hat Mühe, die Stühle zu besteigen. Ob das normal ist mit drei? Und ob er schon Messer und Gabel benutzen kann? Ich schneide das Fleisch sicherheitshalber vor. Überhaupt: Kinder trinken keinen Kaffee, soviel ist klar. Aber trinken sie Tee? Schwarz oder grün? Ich beschließe, dass Junior an schwarzem Tee nicht eingehen wird, brühe eine Kanne Earl Grey auf und schütte ordentlich Zucker hinein. Dann werfe ich alle Süßigkeiten, die ich habe, auf den Tisch, Junior greift sich was, und ich arbeite weiter.
Auf dem Spielplatz drückt sich Junior an den Rand des Sandkastens und buddelt ein bißchen vor sich hin. Zu den anderen Kindern schaut er gar nicht hin. Ist das ein normales Durchgangsstadium für einen Dreijährigen, überlege ich, oder ist Junior kontaktgestört und wird als Erwachsener einmal sehr merkwürdig? Dann wird mir langweilig, und ich überlege, Kuchen zu holen. Aber kann man Junior alleine auf dem Spielplatz lassen oder läuft er dann auf die Straße und wird überfahren?
Konfrontiert mit meiner absoluten Kinderinkompetenz lese ich doch G.´s Brief. Junior, schreibt mir G., darf auf keinen Fall:
– Süßigkeiten essen, außer Fruchtschnitten und einer bestimmten Sorte Sojakeksen, die in der Tasche sind.
– Zuckerhaltige Getränke trinken.
– Fleisch und Fisch essen. Eier sind erlaubt.
– länger als 19.00 Uhr aufbleiben.
– Kraftausdrücke vernehmen.
Das hilft mir nicht weiter. Woher wissen eigentlich Mütter, wie man mit Kindern umgeht? Meine eigene Mutter weilt telefonisch unerreichbar im Urlaub. Meine Freundinnen sind kinderlos. Ratlosigkeit. Ich betrachte das ruhig vor sich hin spielende Kind. Was für ein Quell von Ungewissheiten.
„Gefällt´s dir bei mir?“, frage ich hilflos Junior. Junior, inzwischen etwas aufgetaut, bejaht freudig und schokoladenverschmiert. Immerhin. Na also.
Und als Sie so gegen Mittag aus dem U-Bahnhof Weinmeisterstraße gekommen sind, dann haben Sie bestimmt aus dem Jeansladen gegenüber eine Frau mit leicht verschnittenen schwarzen Haaren stürzen sehen? Eine Papiertüte in der Hand? Und einen jungen Mann hinterdrein im braunem Cordanzug? Sie nicken??
Schade. Sie können nichts dafür. Bestimmt sind Sie nett. Aber ich möchte Sie nie treffen. Denn Sie haben mich in dem Moment der größtmöglichen Demütigung gesehen. Und ich bekenne unter Tränen:
Ich heiße Modeste und bin zu unförmig, Jeans zu kaufen.
Aber alles schön der Reihe nach:
Sie kennen Ihre Jeansgröße, oder? Und wenn Sie in ein Bekleidungsgeschäft gehen, dann probieren Sie alles sorgfältig an. Wenn es passt, lassen Sie es zurücklegen, um es sich nochmal zu überlegen. Und wenn es nicht passt, dann sagen Sie zur Verkäuferin, Sie möchten diesen Pullover nochmal eine Größe kleiner haben.
Ich dagegen probiere nie im Geschäft an. Das würde ich nicht aushalten. Ich kaufe, was ich brauche, nach Augenschein und Größenangaben und ziehe daheim alles an. Wenn es nicht passt, bringe ich es zurück in den Laden. Weil ich genug behalte, ist das den Verkäuferinnen meist egal.
Bei Jeans geht das aber nicht. Überdies weiß ich meine Größe nicht. Und so begab ich mich denn, in Begleitung des unentbehrlichen T. in besagtes Geschäft. Eine dünne Verkäuferin kam auf mich zu und fragte nach der Größe. Ich zog die Schultern hoch. Die Verkäuferin sah mich an, als sei ich Analphabetin. Dann sah sie auf meine Beine, dann auf die Hüften und sprach: 29.
Sie wissen genau, was das bedeutet? Ich weiß es nicht. Aber es klingt fett.
Ich griff mir ein paar Hosen und zog mich in die semitransparente Kabine zurück. Die Hose saß nicht. Die nächste auch nicht. Und in der nächstgrößeren Jeans hatte ich keinen Hintern. Und alle waren zu lang.
Die Verkäuferin sprang um mich herum und zog die schwarze Tunika hoch, die ich mit gutem Grund trage. Ich zog um eine Viertelsekunde zu spät den Bauch ein. „Hier kneift es ein bißchen.“, meinte die Frau. Ich sah zu Boden. „Haben Sie auch Jeans, die ein bißchen kürzer und dafür weiter sind?“, fragte ich und sah sie flehentlich an.
Nein, haben sie nicht. So etwas gibt es nicht. So etwas braucht außer mir wohl auch keiner, denn sonst würden sie solche Dinger ja produzieren, wie das so ist im Kapitalismus.
Ich habe aufgegeben. Ich habe ein T-Shirt gekauft, um mehr Sport zu machen. Und ich habe alles bereut. Die abgeschmelzten Gnocchi von heute mittag. Den gebratenen Aal und die Pfifferlingtorte gestern. Und überhaupt das warme Essen zweimal täglich. Die Patisserieschlachten bei Albrecht und die Weißwürste vom Frühstück. Den fingerdicken Liptauer, und dass ich der letzte Mensch bin, der dick Butter auf sein Brot schmiert.
Und da lief ich weg. Ich zahlte das T-Shirt und rannte auf die Straße nach Hause. T. keuchend immer hinterher.
Und jetzt sitze ich daheim. Ich habe mir einen Salat gemacht mit ganz wenig Öl. Der schmeckt nicht. Und wenn Sie mich heute nacht sehen, ein Glas Wasser in der Hand, dann sprechen Sie mich bloß nicht an.
Tun Sie ja sowieso nicht, mit der Bohnenstange an Ihrer Seite. In Jeans.
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