Zuerst fiel es mir im Studium auf.
Man hat im Jurastudium jahrelang ohne Ende Zeit; und so tat ich mich ein bißchen um. Einzelne Veranstaltungen in der Philosophie, ein bißchen Germanistik, alte Geschichte und zwei politologische Seminare später war ich zumindest um die Erkenntnis einer Armut reicher: Mir fehlt ein Standpunkt. Ein fester. Das, was man eine Weltanschauung nennt.
Der Hedonismus Birnbachers schien mir einleuchtend. Die Kritische Theorie aber auch. Die Frankfurter Schule beeindruckte, aber ich hatte selten mehr Spaß als beim Seminar zu Schmitts „Politischer Theologie“. –
Gegen den Gottesgedanken habe ich auch nichts einzuwenden. Was ich glaube, ist tagesformabhängig. – Zwar bestach insbesondere das Colloquium zum Kirchenrecht nicht durch besondere intellektuelle Brillanz, aber sei´s drum: Als eine der wenigen Nichtkatholiken dieser Welt verfüge ich über einen Seminarschein, den ich für eine Arbeit über die verfahrensrechtliche Seite der Heiligsprechung erworben habe.
Irgendeine Art des inneren Widerwillens gegen in sich schlüssige Ideen habe ich nie verspürt. Virtuosität einer Gedankenführung imponiert mir, noch mehr indes die des sprachlichen Ausdrucks.
Meine Umgebung, sofern überhaupt in der Lage, nachvollziehbare Positionen zu artikulieren, hatte sich frühzeitig festgelegt. Ich war und blieb für so gut wie alles begeisterungsfähig, und selbst für den baren Humbug blieb mehr über, als ein rein dokumentarisches Interesse.
Gegen Ende des Studiums begann mir dieses Defizit aufzufallen. Ich grub, aber da war nichts. Am Schlimmsten war, dass dieses Fehlen einer Weltanschauung sich auch auf allen anderen Gebieten bemerkbar machte. So gibt es kaum k.o.-Kriterien, mit denen man sich aus meiner Wertschätzung endgültig verabschiedet. Vielleicht abgesehen von Fällen extremer Geschmacklosigkeit und erdrückender Langeweile. Meine persönliche Moral hängt im wesentlichen an der Wertschätzung, die ich demjenigen entgegenbringe, um den es gerade geht.
Praxiserfahrung vermochte an dieser Indifferenz nichts zu ändern. Noch als Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft war mir ungefähr jede Position gleich recht. Als Freundin bin ich für meine Freunde, als Familienmitglied für die Familie, und als Liebende für den jeweiligen Mann, solange die Liebe dauert.
Bemühungen, sich auf einer rationalen Grundlage einen Maßstab zu schaffen, bleiben erfolglos. Ich bin und werde zum Glück nicht Richterin, Abwägungen liegen nicht in meiner Hand. Die Diss, die ich schreibe, könnte auch zu einem völlig anderen Ergebnis kommen – es wäre mir egal.
Im Rahmen von Diskussionen bin ich im Allgemeinen für das Gegenteil dessen, was mein Gegenüber vertritt. Oder zumindest für die Minderheit der Anwesenden. Ich bin die geborene Opposition und finde meistens das Haar in der Suppe. Und es ist nicht meine Schuld, dass in den meisten Suppen ganze Perücken schwimmen. Nur – einen festen Standpunkt, den habe ich immer noch nicht. Vielseitig verwendbar nennt man das wohl, und für einen Juristen mag dies gleichermaßen Chance und Gefahr bedeuten. Can´t help it.