„Lebst du noch? Du hast tagelang nichts von dir hören lassen!“, mein Vater lacht leise in den Hörer und fragt nach Gesundheitszustand und Ernährung. „Als Kind warst du nie krank.“, sagt er, und nun sei alle paar Monate irgend etwas, was er fehlerhafter oder unzureichender Ernährung zuschreibt, der Hektik der Stadt, die ihm fremd ist, und mangelhafter Fürsorge Dritter sowieso. „Als Kind warst du die Gesundheit selber. Du hast den ganzen Tag gelacht.“, sagt er, und lässt die alten Zeiten hochleben: Ich im Tragetuch auf dem Wochenmarkt, fest vor seine Brust geschnürt. Im Sommer die ganze Terrasse mit einer riesenhaften Brio-Bahn zubauend. Zum Fasching als Hexe verkleidet, fünf Jahre alt.
„Das weiß ich noch.“, sage ich. „Da habe ich tagelang geheult, weil ich als Prinzessin gehen wollte und nicht durfte.“ – Prinzessinnen erschienen meiner Mutter als abgegriffen, unoriginell und daher unvertretbar. „Bist doch immer die Prinzessin.“, beschwichtigt mein Vater den längst vergangenen Kinderzorn, und fährt fort.
Vier Jahre alt bei einer Ballettvorführung. Achtjährig auf dem Geburtstag meines Großvaters, den „Taucher“ aufsagend, im dunkelroten Taftkleidchen und Lackschuhen. Zehnjährig beim Klavierspielen. „Du warst immer gut in der Schule.“, sagt mein Vater, und klagt ein bißchen über die unverständigen Lehrer der exakten Wissenschaften, denen ich immer wieder begegnet sei, und die das glänzende Abitur auf dem Gewissen hätten, das ich wegen ihrer mangelnden didaktischen Begabung nicht besitze.
„Ballett habe ich gehasst.“, versuche ich die Vergangenheit wieder ein wenig zurechtzurücken. In meiner Erinnerung springe ich in einer für Außenstehende sicherlich außergewöhnlich komisch anmutenden Manier als eine Art Walross zwischen lauter Nixen herum. Die auswendiggelernten Darbietungen deutscher Dichtkunst bei eigentlich allen Zusammentreffen der väterlichen Familie rufen mir noch heute, gut zwanzig Jahre später, die Erinnerung an die würgende Aufgeregtheit zurück auf dem Weg zu meinen Großeltern. Die lachende, turbulente Familie, die mit ihrer Heiterkeit meist nicht hinter dem Berg hielt. Die absurde Angst, eine Zeile zu vergessen, und die ganze Feier zu ruinieren mit meinem faux pas. Noch heute verfüge ich über ein imposantes Repertoire deutscher Balladen vorwiegend des 19. Jahrhunderts. – Ich bin eine miese Klavierspielerin, und in sämtlichen Naturwissenschaften wäre ich überhaupt immer und unter allen Umständen mangels jedweder Begabung eine Totalversagerin gewesen.
Mein Vater streitet alles ab. Als Kind sei ich nicht so negativ gewesen. Man dürfe sich nicht der Manier hingeben, in jedem Apfel nach dem Wurm zu suchen, und notfalls den Wurm hineinzudenken. „Das hast du recht.“, sage ich, und dass ich müde sei.
„Dann schlaf schön.“, sagt mein Vater. Und dass ich genug essen soll. Und sagen, wenn ich etwas brauche.
„Mir geht´s bestens.“, sage ich.
mein opa sagt immer: pilze suchen, basteln und vögel bücher gucken waren meine lieblingsbeschäftigungen als kind. in wirklichkeit habe ich nie wieder pilze gesammelt, ignoriere die tatsache, dass es verschiedene vogelarten in deutschland gibt und ich kann nicht mal eine cd an weihnachten einpacken. soviel zum basteln.
REPLY:
@burnston: Mein Vater sagt, ich hätte eine behütete Kindheit gehabt. Tatsächlich wurde
ich über Jahre täglich von den Kameradenschindern verprügelt, teilweise öffentlich vor
versammelter Klasse und bis hin zu Stichverletzungen. Soviel zur Weltsicht der
Großen-
Ich habe gelernt, damit zu leben, dass jede Generation ihre eigene Erinnerung an die scheinbar faktisch so objektiven Ereignisse hat… Am lustigsten wird das bei Geschehnissen, die meine Eltern, meine Tochter und mich betreffen – jede(r) erinnert sich anders daran, an andere Schwerpunkte.
Ich glaube, das kann man einfach nur hinnehmen. Und da, wo es noch immer Auswirkungen hat, mit der nötigen Gelassenheit zu korrigieren versuchen. („Das hast Du doch immer so gerne gegessen“ – Nein, nie. Aber seitdem ich diese Diskussion sowohl als Kind wie als Vater kenne, kann ich entspannter damit umgehen.)
REPLY:
Auf welche Umstände dieses leicht verzerrte Bild der eigenen Eltern zurückzuführen ist, ist ja im Nachhinein gar nicht mehr aufzuklären. Vielleicht hat man auch selbst einfach den Mund gehalten. Im Falle des versägten Ballettunterrichtes war das sicher so, ich habe mich als Kind für das Versagen in der Ballettschule aus irgendwelchen Gründen irrsinnig geschämt, übrigens im Nachhinein grundlos. Auf den Photos der Vorführungen ist ganz deutlich zu sehen, dass die anderen Kinder gar nicht zierlicher waren. Man sollte – als KInd wie als Erwachsener – Unbehagen wahrscheinlich deutlicher artikulieren, rennt aber mit diesem Wunsch stetig gegen die Glaswände der eigenen Hemmungen.
REPLY:
Da magst Du recht haben. Aber diese Sprachlosigkeit schon zwischen denen, die einem nahestehen, wirft ein ungutes Licht auf die Schwierigkeiten der Verständigung mit Menschen, die noch entfernter sind.
REPLY:
@che: Da ist der Wunsch wohl Vater des Irrtums. Können Eltern sich eingestehen, dass sie nicht wirklich wissen, wie ihre Kleinen dies oder jenes erlebt und empfunden haben? Sich eingestehen, dass die Bemühungen vergebens waren, dem Kurzen eine behütete Kindheit angedeihen zu lassen?
@40something: Kannte das alles bisher ja auch nur aus der Kind-Perspektive. Bin wirklich gespannt, ob ich davon irgendwas in meine Existenzform als Vater rüberretten kann.
REPLY:
Sei Dir bitte bewusst, dass es nahestehende Menschen sind – aber die Rollen sehr klar definiert sind. Und viel tiefer in uns drin stecken als wir manchmal glauben.
Bei anderen, nicht verwandschaftlich gebundenen nahe stehenden Menschen ist diese Rollenfestschreibung viel, viel lockerer.
REPLY:
Ja und nein, liebe modeste. In Kinder werden von vornherein eigene Wünsche,
Ansprüche, Ideale, Lebenserwartungen hineinprojiziert. Bei Freunden, die einem
nahestehen, die man aber unter der Voraussetzung der eigenen Reife und
Ungebundenheit kennenlernt, ist ein rationaleres Verhältnis zueinander möglich.
Ich habe Freunde, die mich sehr realistisch beurteilen und mir viel sagen können
und umgekehrt. Mit meinen Eltern wäre das nicht möglich, meine Schwestern sind
so dazwischen (die Verhältnisse in einer Liebesbeziehung lasse ich mal außen vor,
weil viel komplizierter und ambivalenter). Komunikation ist nur zwischen Gleichen
möglich, und Eltern und Kinder sind von vornherein ungleich.
Ches Argument der apriorischen Ungleichheit von Eltern nd Kind ist nicht von der Hand zu weisen. Aber zumindet hat Frau Modeste in dem Punkt recht, dass das Mundaufmachen viel dazu beitragen kann, elterliche Fehlprojektionen zu verringern. Nicht, dass in unserer Familie mit ihrer zum Teil sehr phonstarken Streitkultur Missverständnisse Mangelware gewesen wären. Aber zumindest sind so grundsätzliche Verpeilungen à la „Du hattest doch ne Menge Spaß in der Bibelgruppe“ oder „tief im Herzen warst Du doch dankbar ffür die körperlichen Züchtigungen“ eher rar gesät.
REPLY:
Als Kind lernt man zuerst gehen und sprechen, dann stillzusitzen und den
Mund zu halten (Marcel Pagnol).
In früheren Generationen wurde gar nicht Mund aufgemacht, entsprechend
vielfältig waren die Mißverständnisse und Lebenslügen.
REPLY:
Als Kind bleibt man gegenüber seinen Eltern immer Kind, egal ob man schon erwachsen ist und sogar selbst Kinder hat. Besonders nach der Geburt meines Sohnes ist mir das immer wieder aufgefallen. Daran erkennt man auch, wie tief diese Strukturen sitzen und wirken.
REPLY:
Ja, ganz recht
Mein fast 80jähriger Vater gibt mir Marketingtipps und versucht, mir zu erklären,
wie er meinen Job machen würde, dabei versteht er von dem ganzen Business nichts.
Meine Mutter redet mich mit „Kind“ an. Und dabei bin ich doch deutlich über 30.
REPLY:
Das ändert sich also nie? Mein Vater wird also auch in zehn Jahren noch versuchen, mir die Nase zu putzen und Päckchen mit Kuchen und Plüschbären schicken? Aber was soll´s – es gibt Schlimmeres.