Entzündungsherde, die bleiben. Empfindliche Sensoren eines zerschundenen, krustigen Fluidums: So braunes Haar. – Am Freitag über ihn sprechen, nachts auf den staubgrünen Polstern einer Bar. Ihn lächelnd abtun, der vernarbt ist auf der Oberfläche meiner Seele. – Am Samstag morgen beim Photographen Li um die Ecke in den Kästen graben, die vor der Tür stehen: Alte Photographien, verblasste Hochzeitspaare, Stück einen Euro, ein Bub mit Mütze, verkrampft in die Kamera blickend im Jahre 1924. Eine Straße in Berlin, schwarzer Sommerschatten und von Früchten üppig hängende Äste am Wegesrand.
Irgendwann inmitten des Stapels, in fremden Kleidern, ein Käppchen auf dem Kopf, schaut er mich an: Das dunkle, volle Haar, die starke Nase. Die Augen ganz entleert. Neben ihm liegt ein Instrument auf einem Polster auf einem geschnitzten Stuhl. – Es ist das Richtige. Wilmersdorf, steht auf dem unteren Rand des Bildes, und der Name des Photographen. 1943.
Ohne Bilder komme ich atemlos heim und weiß für einen Moment, für zwanzig Minuten wieder genau, wie er aussah. Seine Stimme, dunkel, und ein bißchen langsam, schleppend, als dächte er stetig nach, was er sagen solle, und war doch bloß Camouflage, die Langsamkeit, für das kalte, präzise Gehirn eines hochbegabten Alligators. „Die Dämonen“, die er in einem rußígen Kellerlokal las, als ich ihn warten ließ, stundenlang, weil ich nicht wusste, ob ich hingehen sollte, oder es einfach lassen. Die kräftigen, fast bäuerlichen Hände, die ich sofort erkannt habe an den Armen eines anderen Mannes in einer Winternacht. Die eckige Schrift mit den steilen Unterstrichen. Das kalte Lachen, endend in einem schrillen, schmerzenden Laut.
Sinnlose Zeichen.
Vorgestern wollte ich einen Flyer wegwerfen, der sich als Kuvert für ein altes Kirmesfoto entpuppt hat. Ich mit Luftgewehr, linkshändig, ihren Rucksack über der rechten Schulter, sie neben mir, vom Blitzlicht überrascht, in ihrem Gesicht etwas Kummervolles, Leidendes, wie es bei Menschen zu sehen ist, die lieben und wiedergeliebt werden, aber ahnen, daß sich beide am Ende damit nur unglücklich machen.
Abgedrückt, das Foto ausgelöst – und mit fünf Jahren Abstand sich selbst ins Herz getroffen.
Die nepalesischen Gurkhas tragen an der linken Hand eine blutige, immer frische Wunde, da ihre berüchtigten Kukri-Dolche aufgrund eines alten Aberglaubens nach jedem Ziehen mit Blut in Berührung kommen müssen, um ihre Schärfe nicht zu verlieren.
Verletzungen erneuern als Mittel gegen Abstumpfung…
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Nein, ich glaube in dieser Hinsicht eigentlich nicht an Selbstgeißelung zum Zwecke der Erhaltung der Empfindungsfähigkeit. In dieser Hinsicht bin ich ein bißchen abergläubisch und habe mir eine komplizierte und etwas irrsinnige Theorie zurechtgelegt, nach der die zerhauenen Reste des Fluidums, der Verbindung zwischen Menschen, vielleicht schwächer werden, kraftloser, aber kaum je vollkommen verschwinden. Man mag an den Resten der Ketten zerren, man mag sich weit entfernen, aber zertrennen kann man die Bande letztlich nicht.
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Dem würde ich zustimmen, es hat aber zur Voraussetzung, selber ein im Grunde treuer,
den jeweils Anderen verbundener Mensch zu sein.
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Liebe Modeste,
gibst Du eigentlich neuerdings Deinen Namen für Möbelbeschläge her?
Zahlen die gut?
http://search.ebay.de/modest_W0QQfclZ4QQflsZ3QQfrppZ50QQfsooZ1QQfsopZ3QQsaatcZ77QQsalicZ77QQsalisZ77
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neinnein, das ist die andere, die ich gerade nicht finde. da fehlt doch ein e.
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Soo irrsinnig
finde ich Ihre Theorie gar nicht, Frau Modeste. Im Gegenteil. Ich denke auch, dass immer etwas Verbindendes zurückbleibt. Meines Erachtens hat es wenig Sinn, diese Bande gewaltsam zerreißen zu wollen. Dazu müsste man auch einen Teil von sich selber töten.
Wirklich sinnlos?
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Das ist eine völlig vernünftige und schlüssige Theorie, wobei ich aber
auch workingclasshero Recht gebe: Bei kalten und herzlosen Menschen
funktioniert sie nicht, nur bei gefühlvollen.
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Sonderbar aber, dass diese Verbindende, was auch immer es sein mag, diese Restaura, offenbar ihre ganz eigene Intelligenz hat, und sich stets dann mit einem Ruck an der Kette meldet, wenn man eine Geschichte gerade endgültig in die Registratur verfrachten möchte. Sonderbare Vorstellung übrigens, eines Tages, wenn man einmal alt ist, durch eine Welt zu laufen, die arm ist an gegenwärtigen Ereignissen, weil ja alle tot sind oder im Altenheim herumsabbern, aber die Ketten noch da sind, die einen halten. Weil man ja ein ganzes Leben hinter sich hat, werden es dann auch viele, viele Bindungen sein: Ein gespenstisches Museum seiner Vergangenheit. Schnüre, an denen man zappelt.
Ach ja, Che – Du traust mir also zu, meinen guten Namen für Schrankgriffe von Ikea herzugeben, ja? Schrankgriffe! Und im Gegenzuge schenkt mir Ikea ein Jahresabo Köttbullar, was?
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Kleines F, ich hoffe ganz schwer, es handelt sich um völlig sinnlose Zeichen, denn andernfalls müsste ich befürchten, dass jener Herr, mit dem im Zweifelsfall nicht besonders gut Kirschen essen ist, irgendwo in dieser Republik herumsitzt und Stecknadeln in ein eigens zu diesem Zweck gefertigtes Püppchen steckt.
Und das ist keine schöne Vorstellung.
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Nein, Modeste, ich traue Dir das nicht zu. Ich hatte nur Deinen Namen bei
Google eingegeben, mich vertippt (e vergessen), und dann landete ich bei
IKEA und lachte mich erstmal schlapp 🙂
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Ich glaube, diese Verbindungen bestehen nur so lange, so lange die Geschichte eben nicht völlig ad acta gelegt sind. Sind sie es aber erst einmal tatsächlich, dann lösen sich auch diese unterschwelligen Verbindungen. Aber das DAUERT. Je bedeutsamer die Geschichte war, desto länger.
Vernarbtes Fleisch wird gefühllos, heißt es. Aber manche Narben schmerzen bei jedem Wetterumschwung. Ganz zu schweigen von den Phantomschmerzen, die man haben kann.
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Aus eigener ERfahrung kann ich sagen: vernarbtes Fleisch wird nicht gefühhlos,
der zweite Satz hingegen stimmt. Doch solange sie sich nicht wie Nachtmahre
gebärden, finde ich es schon in Ordnung, die Schatten der Vergangenheit mit zunehmen.
Wer keinen Schatten hat, ist ein Schlemihl, ein Seelenloser.
Also ich finde die Schatten-Theorie absolut überzeugend. „Ketten“ klingt mir zu belegt, nach Sklaverei und Galeeren und so weiter, aber Schatten finde ich ein passendes Wort. Irgendwas bleibt immer hängen, sonst würde man sich vermutlich auch nie verändern und weiterentwickeln, Fehler in der Endlosschleife immer wieder machen und sich auf nichts Neues einlassen. Wäre auch schade – oder?
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Ein guter Teil der Tragik des Lebens besteht doch in der Tatsache, dass man die selben Fehler immer wieder macht, obwohl man sich ganz genau erinnern kann.
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Ich mache ganz bestimmte Fehler immer wieder (oder doch jedenfalls öfter),
aber andere bestimmt nie mehr. Aber ich würde mein Leben auch nicht als
tragisch bezeichnen.