Erwartung

Irgendwo in der Frau, die ich im Spiegel sehen kann, wartet der Tod und versteckt sich einstweilen. Vielleicht eine Lungenzelle, die einstweilen völlig unbeobachtet in meinem Brustkorb vor sich hin atmet, und eines Tages mutiert, klumpt und wuchert, und dann das Krankenhaus, Haarausfall und der achselzuckende Arzt. Oder der Herzfehler, der sich eines Tages von einer Petitesse auswachsen wird zu einem ernsthaften Problem, das Herz will dann nicht mehr, und ohne Herzschlag, heißt es, lebe es sich ja mäßig und meist nicht besonders lang. Oder der Tod wächst mir in einem andern entgegen, einem nachlässigen, betrunkenen Autofahrer, der heute morgen nüchtern an seinem Schreibtisch sitzt, eines Tages mit Freunden ausgeht, vergnügt ist, und die Kosten des Taxis scheut? Oder der Herbeigerufene, Herbeigesehnte, Geliebte und eines Tages vielleicht dann doch Verlassene trägt meinen Tod in seinem Kopf, und steht eines Tages mit dem Messer im Hauseingang, ein kurzer Schreck, ein scharfer Schmerz und das Ende.

In den letzten Momenten, so heißt es, gingen noch einmal spektakuläre Dinge vor, das ganze Leben zöge an einem nochmals vorbei, und es würde hell, ein letztes Mal würden alle Register gezogen, und erst dann sei es aus, man könne sich loslassen, entschwinden ins Nichts, oder in Sphären, von denen ich nicht weiß.

Es mag aber auch sein, dass auch in diesem Augenblick nichts weiter wartet als die letzte, endgültige Enttäuschung: Zu liegen, hilflos, in Schmerzen und nackter Angst. In der Gewissheit, dass diese Schmerzen nicht mehr enden werden, die Welt verglasen zu sehen, schreien zu wollen und nicht zu können. Größtmögliche Einsamkeit. Sich noch einmal aufrichten zu wollen, ein letztes Mal „Ich“ zu denken, und aus dem Dunkel der Schmerzen, allein und in schriller, lähmender Angst in ein Dunkel hinübergezogen zu werden, das nichts Gnädiges an sich hat.

17 Gedanken zu „Erwartung

  1. REPLY:

    naja, lustig… ?
    ich sehe überdrehtheit und melodramatik. verdammt, ja, das ist wahrlich komisch. besonders, wenn es auch noch derart heißt ist, draußen, die verwesung quasi auf der straße liegt. es riecht aber auch entsprechend.

  2. Lebenshaltung

    Ach Modeste, ach, das ist die ganz falsche Einstellung. Natürlich, wir sind,
    um mit Marx zu sprechen, Leichen auf Urlaub. Im Prinzip könnte man jedem Baby nach der Geburt ja eintätowieren „Dieses Leben endet tödlich“, aber wäre das nicht etwas übertrieben? Gerade weil Gevatter schon öfters in meiner Nähe weilte, weiß ich das Leben nicht nur sehr zu schätzen, sondern sehe sehr optimistisch nach vorne, denn es ist wohl so, dass Gevatter mich nicht will. Vor nicht allzulanger Zeit hatte ich mit meinem Fahrzeug einen ungebremsten Frontalaufprall mit 160 Sachen. Zwei Operationen und etliche Monate später fand bei mir ein gesundheitlicher Generalcheckup statt. Davor hatte ich ziemlichen Bammel, denn ich wäre kein Che, würde ich nicht dem Mojito und der Caipirinha zusprechen, außerdem trinke ich viel Rotwein und rauche auch und bin ein Gourmet. Ich fürchtete also eine Gardinenpredigt in der Richtung: „Das ist aber ein fürchterbares Geschmadder in Ihnen drin. Wenn Sie sich nicht am Riemen reißen und abstinent werden, wird das ein schlimmes Ende nehmen!“ Stattdesssen erfuhr ich, dass ich die Gefäße eines Jugendlichen habe, das Herz, Leber und Niere toppfit sind, und dass ich gute Aussichten hätte, über 90 zu werden. Dann ließ ich die ganzen brenzligen Situationen revue passieren, die ich schon erlebt hatte – den Sturz in eine Gletscherspalte, den Abstieg aus über dreitausend Metern Höhe an einer Granitwand bei Gewitter, jenes Handgemenge, bei dem eine Pistole gezogen wurde, die Nacht, wo wir, beide Seiten mit Schlagstöcken, den Neonazis gegenüberstanden, der Messerstecher, der auf mich losgehen wollte, die Nacht in der Wüste, wo ich in ein Minenfeld hineintaperte, der Tauchgang, wo ich einen sehr großen sehr hellen Fisch traf, der Wagen, der direkt vor der Tür von meinem Hotel vor meinen Augen in die Luft gesprengt wurde… bei keiner dieser Situationen hatte ich das Gefühl, besonders bedroht zu sein. Also war mein Schutzengel immer auf Posten.

    Und schon um des 2001 in meinem Nick willen muss ich amFernsehschirm dabei sein, wenn Menschen auf dem Jupitermond Europa landen. Also werde ich sehr alt werden.-

  3. REPLY:

    Ob eine gewisse Beschäftigung mit dem Tod „falsch“ ist, vermag ich nicht zu sagen, und möchte es eher verneinen. Und ob wir alt werden, ob der Zeitpunkt des Abschiedes noch in sehr weiter Zukunft liegt, ändert nichts daran, dass er eines Tages eintreten wird. Ich sehe das, alles in allem, auch eher positiv, die Idee der Unsterblichkeit übt keinerlei Anziehungskraft auf mich aus. Alle Schönheit, auch aller Genuss wäre nichts ohne den dunklen Hintergrund, den das Leben zum Strahlen braucht. „Memento Mori“ hat eben auch eine sehr lebensbejahende Seite.

  4. REPLY:

    Na ja, Modeste, ich verstand Dein Posting beim ersten Lesen anders, als es gemeint war, nicht als eine mit bittersüßer Ironie getränkte Überlegung „was könnte sein“, sonder eher als etwas Depressives.

  5. Erinnert mich an einen Colin-Dexter-Krimi, in dem die letzten Sekunden der Opfer immer sehr anschaulich beschrieben werden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, das außer dem Lebenshunger des eigenen Körpers wenig da ist in solchen Momenten.
    Ich glaube nicht, das der Tod schon da ist, der hat mit seinen Opfern genug um die Ohren, war das nicht ein Canetti-Stück, jeder mit einer Kapsel um den Hals, darin der eigene Todestag? Ich erinnere nicht, wie es ausgegangen ist, aber es war nur der Hinweis auf die eigene Sterblichkeit, nicht der Tod, der da um den Hals hing, und beides hat glaub ich nicht viel miteinander zu tun, das eine eine Lebensbedingung, das andere das Fehlen von allem, vom Leben. Die Register sollte man ziehen, wenn man noch in vollem Saft steht, nicht, wenn es zum Spielen schon zu spät ist.

  6. REPLY:
    Der Tod ist ein Skandal

    … und kein Dandy. Sagen Sie, werte Frau Modeste, haben Sie kein Tödlein auf Ihrem Schreibtisch stehen? So einen kleinen barocken Begleiter, der uns beide Seiten des Lebens hinhält? Oder spielen Sie vor für „Der Tod und das Mädchen“ und üben für den Jedermann?

  7. REPLY:

    Ach, in den helleren Momenten hoffe ich ja, der Tod möge ein Feuerwerk sein, der ein Gartenfest beendet, Fontänen von Licht und dann ein Absinken und Verlöschen. Indes macht die Realität ja leider meist keine Anstalten, meinen Erwartungen gerecht zu werden.

    Der Jedermann aber, der mag mir nicht gefallen. Und einen Dandy erwarte ich nicht, wohl aber hoffe ich auf den, der von sich sagen kann,

    Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe!
    Aus des Dionysos, der Venus Sippe,
    Ein großer Gott der Seele steht vor Dir.

    … und der zu Unrecht geringer geschätzt wird als das Salzburger Spektakel.

  8. REPLY:

    Als Anhänger schöner Begräbnisstätten gewinne ich immer wieder den Eindruck, daß jeder Friedhof seine eigene Allegorie auf den Tod bereithält.
    Der Gevatter Tod als muffiger Hausmeister mit Schnapsfahne zwischen Einfamilien- und Reihenhausgräbern an einem langweiligen Ort, als mythenumrankter Local Hero und gefürchteter Widersacher unsichtbar präsent auf wunderschönen halbverfallenen Inselfriedhöfen zwischen den Seemannsgräbern der Walfänger, als schriller, klappernder Sensenmann Hüter barocker Berühmtheiten wie des Nürnberger Johannisfriedhofs, mit höflicher Gleichgültigkeit abwesend auf manchem Friedhof der Namenlosen.
    (Mein Lieblingstod, vermute ich, ist der alte Kiezbewohner von gegenüber, den die Wende in ihrer Eile vergessen hat, und chillt auf dem halbleeren kleinen Friedhof direkt vor meiner Haustür, inmitten von Stätten der abendlichen Lustbarkeit.)

  9. Über den Tod nachzudenken

    finde ich wichtig, weil er zum Leben gehört, zum Leben meiner Seele. Fr. Dr. Kübler-Ross – eine berühmte Sterbebegleiterin – hat sehr viel über den Tod nachgeforscht und mit vielen Leuten, die kurzweilig Tod waren und zurückgekommen sind , gesprochen.
    Immer ist die Rede davon, daß der Tod nicht schmerzhaft sein soll, daß keiner sich einsam in diesen Übergang fühlt. Es soll von wunderbaren Licht begleitet sein.
    Nicht der Tod an sich scheint schmerzhaft zu sein. Ich habe viel mehr Angst davor,
    einen lieben Menschen durch den Tod zu verlieren.

  10. REPLY:

    Danke, das freut mich. Wenigstens Sie haben offenbar gelacht.

    Die Protokolle dieser Sterbeforscherin, Frau Lotusblüte, habe ich selber nie gelesen, bezweifele aber ein bißchen, dass Leute, die so erfolgreich reanimiert werden können, überhaupt so weit über die Schwelle des Sterbens gelangt sind, dass ihre Erfahrungen diesbezüglich großen Wert haben – aber wir werden sehen.

    Nur bloggen können wir diese Erfahrung dann vermutlich nicht mehr.

  11. REPLY:

    Exactement! Die Ergebnisse der Sterbeforschung und die Berichte von erfolgreich reanimierten Personen lehren uns allenfalls etwas darüber, was zunehmender Sauerstoffmangel im Gehirn anrichtet. Über das Jenseits, das qua definitionem hinter dieser Schwelle liegt, wissen wir damit immer noch nichts gescheites.

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