„Weißt du,“, sagt mein Begleiter, „Berlin ist mir eigentlich zu groß.“ Daheim, so erzählt er, kenne er die Bäckersfrau und den Metzger, alle Nachbarn die Straße hinauf und hinunter, und wenn er den Leichenwagen sehe, wisse er ebenso genau, wer gestorben sei, wie er den Anlass der verstreuten Reiskörner kenne, die vor der einzigen Kirche des Dorfes liegen, in dem er aufgewachsen ist, und in das er zurück möchte, irgendwann. – Auch ich, so antworte ich, während der Tee in lichtem, hellgrünen Strahl in die Tasse fließt, kenne die Verkäuferin beim Bäcker. In denjenigen Bars, in denen ich regelmäßig meinen Wein trinke, fällt mir auf, wenn eine neue Bedienung hinter dem Tresen steht, und meine Nachbarn kenne ich ausnahmslos alle. Die Vorzüge der Großstadt aber, die Opernhäuser, die Konzerte, Lesungen, Parties und Vernissagen, die habe er in seinem Kaff doch keinesfalls, und am Abend in die Stadt fahren zu können, sei nie dasselbe, wie dort schon zu sein. Der eigentlich Reiz einer großen Stadt aber – und hier trinke ich ein wenig vom viel zu heißen Tee – sei aber ein anderer. Ich wisse aber nicht, sage ich, ob er dies verstünde:
Durch die Stadt zu laufen, ziellos, unter den Linden einige Gesprächsfetzen von Passanten aufzufangen und einem Pärchen zuzulächeln, das im Lustgarten auf dem Rasen sitzt. Weiterzulaufen, in die Schaufenster zu schauen, und sich vorzustellen, wer einen prächtigen schilfgrünen, paillettenbesetzten Rock mit Plisseeeinsätzen kaufen wird. Hoffen, dass das Mädchen, dass beim Schuhgeschäft an der Ecke begehrlich ein paar Schuhe in der Hand wiegt, diese auch kaufen kann. Bei einem Antiquar einen Stapel Bücher zu kaufen, und über die Ex Libris ein wenig traurig zu werden, und an denjenigen zu denken, der sich diesen hübschen Linolschnitt im Stil der Neuen Sachlichkeit hat schneiden lassen. Bestimmt ein Arzt, denke ich, denn in einer Ecke prangt ein Stethoskop. Einem offiziell aussehenden Autokonvoi hinterherzuschauen und zu überlegen, wer darin sitzen mag. Durch die Scheibe einigen Männern in einem afrikanischen Telephonladen zuzuschauen, die so heftig diskutieren, dass ihre Rastalocken heftig hin und her schwingen. In einem Café beim Zeitungkesen zuhören, wie die Kellnerin schniefend leise telephoniert, und auf einmal laut wird und brüllt „Du Dreckskerl. Dann hau´ doch ab.“ – Drei, vier U-Bahnstationen von meiner Wohnung entfernt in der Fremde zu sein, eine neugierige Touristin, die den verschleierten Frauen hinterherschaut und überlegt, ob die Frau mit dem safranfarbenem Kopftuch über einem geschmackvollen Mantel glücklich ist. – Vielfalt des fließenden Lebens.
Mein Begleiter schüttelt den Kopf, und ich versuche es mit einer anderen Geschichte.
„Weißt du,“, sage ich, „als ich acht war, hatte mein Vater in London einen Termin bei einem Notar, und ich sollte warten. Irgendwann wurde mir langweilig und ich verließ das Haus, ließ meinem Vater eine Notiz da, ich ginge zum Hotel zurück, und lief die Straße hinab. Ich hätte,“ fuhr ich fort, „das Hotel gefunden, das war ja gar nicht weit. Ich bin aber nicht abgebogen, sondern einfach weitergelaufen, immer weiter, dann in jede lockende Straße hinein, ab und zu in Geschäfte, habe ein wenig geschaut, irgendwann an einem Brunnen an einem ruhigen, baumbestandenen Platz ausgeruht und immer weitergelaufen. Irgendwann veränderten sich die Geschäfte, die Stimmen wurden lauter, die Gerüche andere, und ich hatte schon ganz vergessen, dass ich eigentlich zum Hotel zurücklaufen wollte. Bei einem Bäcker habe ich mir ein bißchen Kuchen gekauft, da muss ich schon lange gelaufen sein, und wie im Rausch bin ich die Straßen im Zick-Zack immer weiter gegangen, stundenlang, und habe mich vergessen und verloren an diese riesige, verführerische Buntheit einer Stadt.“
„Hast du keine Angst bekommen?“, fragt mein Begleiter, der den Reiz, den wirbelnden Zauber der großen Stadt nie verstehen wird, und ich lächle achselzuckend und spreche über Dinge, die wir beide mögen.
Online-Flanieren
Gerade komme ich vorbei und denke mir, wie schön es doch wäre, jetzt einen neuen Text von Modeste zu lesen. Ich halte an, finde den neuen Text, lese ihn und fühle mich wunderbar entführt. Dann merke ich, wie sie mich dazu gebracht hat, nochmal drüber nachzudenken, ob es wirklich so sinnvoll wäre, aus der Stadt heraus zu ziehen. Naja, erstmal flaniere ich online weiter und schaue bei den anderen nach fast so schönen Beiträgen.
REPLY:
Ich kann mir gar nicht vorstellen, in einer kleinen Stadt oder einem Dorf zu leben, ländliche Idylle halte ich selten länger als ein paar Tage aus. Gerne würde ich nochmal ein Jahr in Paris oder London leben, Moskau oder Bangkok wären auch nicht übel, leider halten sich da meine Möglichkeiten, beruflich irgendetwas zu machen, in Grenzen.
100%ige Zustimmung
Interessanterweise sehen Neu-Berliner (sprich alle, die nicht mindestens in 4.ter Generation in dieser Stadt leben 😉 die Stadt immer als groß, erstickend und völlig überdimensioniert.
Dem ist aber nicht so, wenn man in Berlin geboren ist. Ich würde sagen, daß ich mindestens in die Hälfte aller zwölf Berliner Bezirke nie einen Fuß gesetzt habe. Oder wenn, dann nur einmal ganz kurz. Das heißt, das Leben konzentriert sich auf Mitte, Prenzlauer Berg, Schöneberg und Friedrichshain. Wenns hochkommt, dann noch Wilmersdorf und Kreuzberg dazu. Das war’s dann schon. Und das macht es dann schon viel übersichtlicher, und gar nicht mehr so groß und unpersönlich.
Und wenn man in Berlin geboren ist und seinen Heimatbezirk besucht, kann man sich fast sicher sein, daß man einen alten Freund oder eine alte Freundin trifft.
Also: Nur Mut. Berlin ist gar nicht so groß und unpersönlich – sondern eher mehrere große Dörfer nebeneinander.
Und wie die geschätzte Frau Modeste schon schreibt: Ohne alle diese kulturellen Attraktionen wäre das Leben kaum lebenswert. Und selbst wenn man nicht alle nutzt, allein das Gefühl zu haben, sofort auf die Straße treten zu können und das zu bekommen, worauf man Lust hast – das ist unbezahlbar.
Wo kann man schon vormittags segeln, nachmittags im Biergarten sitzen, abends in die Oper gehen, anschließend ausführlich essen gehen, danach ein paar Drinks in einer Bar – um dann final dann durch vier Clubs zu ziehen. Vielleicht noch ein Frühstück danach. Anyone?
Überhaupt ist – um noch eine finale Lanze für diese Stadt zu brechen – Berlin eigentlich die einzige Stadt in Deutschland (!), in der man sich schnell daran gewöhnt, um jede Uhrzeit quasi alles zu bekommen und machen zu können. München – Sperrstunde? Putzig. Baden-Würtemberg: Mittagspause von 12-4? Lustig.
Das erinnert mich an eine Episode in Baden-Würtemberg. Ausgestattet mit allen wichtigen Restaurantführern fuhr ich durch das Land, wo sich gegen halb zwei ein gewisses Hungergefühl einstellte. Kurzer Anruf beim empfohlenen Restaurant in der Nähe:
Ich: „Guten Tag. Gibt es bei Ihnen ein Mittagessen?“
Er: „Es ist 14:30 Uhr!“
Ich: „Das ist mir bewußt. Also gibt es nichts mehr zu essen?“
Er (entrüstet): „NATÜRLICH nicht.“
Ich: „Bis wann hätte es denn etwas gegeben?“
Er: „Seit elf. (Kunstpause) Von elf bis zwei. (Kunstpause) Das sind DREI Stunden.“
Ich: „Also gibt es bei Ihnen jetzt nichts mehr?“
Er: „Wir sind doch kein McDonalds!“
Ich: „Danke für das Gespräch.“
*klick*
Welcome to the real world.
If you once fell in love with Berlin, you’ll never leave it.
So, und jetzt viel Spaß für alle Berlinhasser bei den Kommentaren. Gute Nacht.
P.S.: Und das nächste Mal erzähle ich die Geschichte, warum es in Berlin keine Sperrstunde gibt.
P.P.S: Und vielleicht ist es ganz gut, daß alle Münchener da bleiben, wo sie es besonders schön, hübsch und aufgeräumt finden 🙂
REPLY:
Bangkok ist klasse. Da moecht ich auch mal laenger bleiben. Am liebsten mit Unterkunft im Rembrandt Hotel.
REPLY:
Ich habe mal ein paar Monate in Bangkok gelebt und ein bißchen geht es mir mit Bangkok wie dem einen oder anderen Liebhaber des überschaubaren Landlebens mit Berlin – die Stadt ist mir irgendwie zu groß, zu widlwuchernd, zu unüberschaubar, auch ein bißchen zu dekadent. Der Alltag in so einer Stadt fordert einem viel ab. Gleichzeitig faszinieren mich diese tropischen Metropolen, diese Über-Städte, Bombay oder auch Mexiko-City, diese heftigen, schrillen Gegensätze, die Buntheit von Städten, die nichts Gediegenes an sich haben, aber unendlich intensiv sind.
REPLY:
Die Zugfahrt vom F’hafen in die Stadt war wie durch einen Tarkovsky-Film zu fahren: eine Nach-apokalyptische Welt in tiefes Gruen getaucht, dazu Codes und Regeln, die nicht intuitiv einsichtig waren.
Ich denke also nicht darueber nach, wie es sich „praktisch“ dort leben liesse (uff), sondern ich schwaerme, wie Bangkok als mehrmonatiges Traumzeiterlebnis wohl waere: Tropische Ueber-Stadt ha-ben will.
REPLY:
Ja, Bangkok hat etwas Unwirkliches an sich, einen brutalen Charme, dem man sich nur schwer entziehen kann, eine Steigerungsform von Verrottung und Betriebsamkeit, die man in Europa so nicht findet. Vielleicht, irgendwann – ein Jahr oder nur ein paar Monate.
REPLY:
Steigerungsform von Verrottung und Betriebsamkeit: Wenn in Europa, dann wohl im ehemaligen Ostblock? Meh, da war ich auch noch nie gewesen.
REPLY:
Was Berlin auszeichnet, was Berlin auch unterscheidet von anderen europäischen Städten gerade in Westeuropa, ist die Gebrochenheit der Stadt, eine Nervosität, die sich nicht in Betriebsamkeit Bahn bricht – Berlin ist ja keine Stadt, in der Geld verdient oder Karrieren gemacht würden. Ein großer Spielplatz aus Dreck und einer Melancholie, die nie elegisch daherkommt, sondern handfest, aber selten realistisch.
ich liebe Berlin. Das Runde, Harmonische, Heile hat mich nie gereizt.
Dem Zauber der sanft geschwungenen, grünen Hügel der Landschaft meiner Kindheit, kann und will ich mich niemals entziehen.
Doch es ist die Landschaft die ich anziehend finde, die vielen guten Erinnerungen an meine Kindheit. Dort leben auf Dauer, wäre mir unerträglich. Ebenso wie in meinem derzeitigen Wohnort, der mittelgrossen Stadt, die eigentlich nur ein grösseres Dorf ist.
Es war nicht das grössere Freizeitangebot oder das kulturelle, warum mir meine Zeit in der Großstadt so wertvoll und wichtig war und ist. Es waren die Menschen, die vielen Fremden unter und bei denen ich mich wohl fühlte und weil die Großstadt mir die Freiheit bot, frei von den Zwängen überschaubarer Gemeinschaften das eigene Leben zu leben.
„Stadtluft macht frei“, hatte ich von einer Schriftstellerin? des 19. Jahrhunderts gelesen und — „Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird“, schrieb Christian Morgenstern. Zusammengenommen beschreibt es am besten, was mich an echten Städten, am liebsten in einem fernen Land, anzieht.
Berlin, das ist jetzt allerdings ein reines Vorurteil, würde ich eher weniger in Betracht ziehen. 😉
berlin hin, berlin her. es ist die größe der großstadt, die einem verbirgt was hinter der nächsten ecke steckt. deshalb geht man weiter, deshalb lässt man sich treiben. wenn man neugierig ist und den mumm hat. berlindiskurs ist fad.
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Ein wenig paradox ist ja, dass der Reiz des großstädtischen Soziallebens ja in ganz wesentlichen Teilen darin besteht, dass eben nicht alle Welt v ersucht, einen zu verstehen, zu kennen oder zu bessern, sondern einem in wohltuender Gleichgültigkeit gegenübersteht.
REPLY:
Na, Herr Burnston, wenn das stimmen würde, wären ja alle Großstädte gleich – die Atmosphäre auf den Boulevards von Paris unterscheidet sich doch aber fundamental von einem Abend in einem Moskauer Park, von einem Morgen am Wannsee oder von einem Rundgang durch einen Basar in den Tropen. Was diejenigen Städte ausmacht, die man besonders mag – darüber nachzudenken lohnt sich, glaube ich, immer.
Berlin. Alle aufgezählten Vorzüge inkl. Kultur wird bezahlt vom Steuerzahler (auch denen, die auf dem Land wohnen) – aber genutzt von Transferleistungsempfängern. Denn Berlin ist ja keine Stadt, in der Geld verdient oder Karrieren gemacht würden.
REPLY:
In der Stadt können Sie sich Ihre Freunde und Bekannte aussuchen, in die Dorfgemeinschaft hineingeboren, hat man sie, womöglich ein Leben lang. Das ist ähnlich wie mit manchen Verwandten, man trägt schwer an der Verwandtschaft zu ihnen und es kostet viel Kraft sich aus der Rolle zu befreien, in die man von klein auf hineinwuchs.
Und die gegebenenfalls idyllische Landschaft, die blitzsauberen Häuser und die Freundlichkeit Fremden gegenüber sind trügerisch. Das Elend ist oft genauso gross wie in den Slums der Großstadt; die Masken fallen innerhalb der Familie, hinter den Toren der Bauernhöfe und viele Familientragödien verbergen sich hinter unüberwindbaren Mauern des Schweigens. Ich kenne das aus eigener Anschauung, aber richtig krass von zwei Freundinnen, denen es gelang diesem Horror zu entkommen.
REPLY:
Eventuell ein Trost. Das Durchschnittsalter des Berliners ist in den letzten 12 Jahren um 2,5 Jahre gestiegen sagt die Wikipedia. Da besteht ja durchaus Hoffnung, dass sich die finanziellen Probleme in einigen Dekaden auf natürlichem Wege lösen. 😉
REPLY:
Ach ja, der Steuerzahler… das gebeutelte Wesen, das sein Geld natürlich um ein Vielfaches lieber für Fahrradwege im Breisgau ausgeben würde, als für drei Opern in Berlin. Nein, im Ernst, Kultur kostet Geld. Und natürlich kann man in diesem Segment Geld einsparen, muss sich aber darüber klar sein, welcher kulturelle Verlust damit verbunden wäre.