Die blicklosen Gärten

Wievieler fremder Menschen Fuß die Gehsteigplatten berührt haben mag, über die ich frierend die Kastanienallee entlang nach Hause laufe? Wieviele Küsse in der dunklen Toreinfahrt getauscht wurden, wessen Leiche das Treppenhaus heruntergetragen, welches Glück in den Räumen gelebt haben mag, in denen ich die Hände um eine Tasse Tee lege, um ein wenig gewärmt zu werden in dieser kalten Stadt? Wer hat vor dieser Haustür auf jemanden gewartet, der nicht kommen wollte, wer hinter jenem Fenster die Straße entlanggeschaut, welche Hoffnungen sind hinter den dunklen Scheiben eines Eckhauses gestorben – die Steine sprechen nicht zu mir, stumm bleibt der Wind, und meine Finger spüren nichts von der Erregung, der Wut, dem Glück derer, die vor mir auf diesen Straßen gelebt haben. Unberührt, gleichgültig, schaut die Stadt uns zu, die Bäume wollen nichts wissen von unseren Sehnsüchten, der getriebenen Jagd nach etwas Ungenanntem, den kurzen Schauern und einem ohnmächtigen Sinken, das wohl warten mag irgendwo, wenn nicht hier.

Die Tasse weiß nichts von dem, der mit mir Tee trank, Abende lang, um so leise, so unvermisst zu verschwinden, wie er aufgetaucht war. Die Widmung in einem schmalen Band, die von einer Reise spricht, die niemals stattfand. Das hölzerne Nilpferd, das mein Vater in Afrika kaufte. Der Sessel, in dem der Hund gern schlief, als die Polster noch weiß waren, und der Hund noch lebendig. Die Vase mit den Lilien, die auf dem Schreibtisch meiner Großmutter stand, das Bild, das mir ein Allerliebster malte, als er der Liebste noch war, und am Morgen warm und schützend neben mir erwachte. Stumm bleiben die Dinge, und nur in meiner Erinnerung knüpfen sich Fäden an die Dinge, die mit mir verschwinden werden und – von Zeit und Entfernung beschwert – schon täglich loser zu Boden hängen. Und am Ende werden die Dinge, die ich täglich in den Händen halte, vielleicht in einer anderen Wohnung zu stehen, wenn auch ich nicht mehr sein werde als bloße Materie, die sich aufgibt und zurücksinkt ins Ungeformte, wo alle Sehnsucht endet.

8 Gedanken zu „Die blicklosen Gärten

  1. Wenn irgendwann altersbedingt alle Erinnerungen verblasst sind, man sich an nichts mehr erinnert, seine Liebsten nicht mehr erkennt und nur noch auf den Moment der Wahrheit wartet – hat es dann einen Sinn gemacht?

  2. Spurensuche

    Ich möchte ein wenig widersprechen. Die Dinge erzählen. Ihre durch Gebrauch und Zeit geförderte Patina, die Kerben und Verwachsungen, die sie erlitten, sprechen. Auch deshalb meide ich nach Möglichkeit die seriell gefertigten Dinge und kaufe gern auf Flohmärkten. Auch deshalb meide ich die allzu glatten Gesichter und die allzu schönen Körper.

    Vielleicht erzählen sie nicht die Wahrheit. Aber Geschichten erzählen sie. Wahrheiten, vielleicht.

  3. REPLY:

    Ja, wer in dieser Wohnung gelebt hat, was diese Wände gehört haben, wüsste auch ich gern. Bei Mietshäusern ist leider nicht einmal leicht herauszufinden, Herr 500Beine, wer hier gelebt hat, bei Häusern, die gemeinhin der Eigentümer bewohnt, kann man – gute gründe vorausgesetzt – immerhin Einsicht in die Grundbücher oder die Bauunterlagen nehmen.

    Dass, Herr MC, sich auch all das am Ende gelohnt haben wird, was man nicht mehr weiß, ist meine feste Überzeugung. Mit allem, was wir tun oder lassen, lösen wir Gefühle oder Vorgänge aus, die ihre Wirkung auch dann entfalten, wenn wir selbst es nicht mehr wissen, und auch sonst keiner. Die Pyramiden ständen nicht ohne die namnelosen Bauarbeiter, und ohne die Atmosphäre der Pariser Salons mit ihren vergessenen Gästen gäbe es die Recherche nicht.

    Dass an vielen Gegenständen Geschichten hängen, Herr Kid, macht die Dinge auch mir teurer, als sie es frisch von IKEA wären. Leider weiß ich nicht, was aus dem Brautpaar von 1926 geworden ist, dessen Bild ich beim Photoladen bei mir um die Ecke gekauft habe, weil die Braut so glücklich strahlt. Ist er vielleicht im Krieg gefallen? Hat sie ihn betrogen und verlassen? Sind sie zusammen glücklich und alt geworden? Wer hat das silberne Mokkagedeck einmal gekauft, dass auf meiner Komode steht, und auf dem ich meinen Schmuck aufbewahre? War das ein geschenk? Wenn ja, wer hat es geschenkt, wie wurde es aufgenommen, wurde es geliebt, benutzt, vererbt? Wie ist es zu dem Trödler gekommen, bei dem ich es leicht verstaubt gefunden habe?

    Ich wüsste es gerne. Aber niemand wird es mir erzählen. Und die Dinge, da stimme ich Herrn Stimme zu, sprechen ziemlich undeutlich.

  4. REPLY:

    Nein. Die sprechen nicht undeutlich. Laden Sie mich mal ein, dann übersetze ich und erzähle Ihnen die Geschichten vom Foto und den Mokkatassen. Ich weiß auch, was die Muscheln am Strand raunen.

    (Ich klimpere auch nicht mit den Augen oder mache irgendwelche Faxen. Aber Stück Kuchen wär‘ nett…)

  5. „Die blicklosen Gärten“

    ist ein fantastischer Titel. Was ist ein blickloser Garten? Undurchsichtig? Unsichtbar? Ein Garten ohne Einblick?(Zur Sicherheit, ich meine es nicht ironisch). Das Bild des „blicklosen Gartens“ gefällt mir richtig g gut, auch wenn ich nicht verstehe, was damit ausgedrückt wird. Faszinierende Vorstellung. Fast zu schade für einen so kurzen Text. Sollte ein Buch drunterstehen oder ein Film.

  6. REPLY:

    Danke, Herr Konradin.

    Die Gärten der Überschrift sind tatsächlich diejenigen Gärten, die man meint, wenn man davon spricht, seinen „Garten zu bestellen“: Das Leben, das an all dem haftet, mit dem wir uns tagtäglich umgeben, und von dem Hofmansthal spricht, wenn es in seinem Lebenslied um die schwebend unbeschwerten Abgründen, und die Gärten des Lebens geht, von denen die Erben getragen werden, die wir ja alle letztlich sind, Erben einer reichen und müden Vergangenheit, an denen die Dinge nicht mehr recht haften wollen, die durch unsere Hände gleiten. Blicklos sind die Gärten tatsächlich, weil ich keinen Einblick habe in diese fremden Leben, in denen sich einer einmal das grüne Sofa gekauft hat, um 1820, das nun vor meinen Büchern steht. Und ein wenig schwingt in diesem Bild mit von Georges totgesagten Park, der hoffentlich so tot nicht ist.

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