Monatelang liegt der Himmel so tief und schwer über Berlin, als wolle er die Stadt erdrücken. Jede Wolke wiegt ungefähr so viel wie ein ganzer Verein von Sumoringern, wenn sich denn auch diese Menschen in Vereinen zusammentun, und der Wind pfeift durch die Straßen der Stadt, als gelte es, Berlin einmal kräftig abzukärchern, was die Stadt auch einmal gut abkönnte, denn porentiefe Reinheit gehört nicht zu denjenigen Attributen, mit denen die Fremdenverkehrszentrale Berlins um Gäste werben könnte.
„Sauber wie Berlin“ wird wohl auch in den nächsten Jahren nicht zu den stehenden Redewendungen gehören, die ausländischen Studierenden beigebracht werden, wenn sie sich mit der deutschen Phraseologie bekannt machen, und aus der „Berliner Reinlichkeit“ wird wohl kein Pendant zur „Schwäbischen Sparsamkeit“ oder der Dummheit, die man den Ostfriesen gerne nachsagt, allerdings zu Unrecht, wie ein bekanntes, ursprünglich ostfriesisches Beispiel lehrt, aber wer wird schon ein Vorurteil über Bord werfen, nur weil es nicht stimmt, denn Vorurteile, wie man weiß, hat der Mensch ja nicht, um sie nach erfolgter Falsifikation zu verwerfen.
Genauso gut wäre es natürlich möglich, dass die Berliner mit den Jahren ihrer eigenen Propaganda irgendwann glauben und anfangen würden, tatsächlich sehr sauber zu werden, ihren Abfall in eigens zu diesem Zweck aufgestellte Behälter zu werfen und den Kot ihrer Hunde in Tüten zu tun und ebenfalls der Vernichtung in Müllverbrennungsanlagen zuzuführen. Weil der Berliner, wie das diesmal berechtigte Vorurteil weiß, allerdings geradezu stolz auf seine Widerborstigkeit ist, wird daraus vermutlich nichts werden. „Klinisch rein wie Friedrichshain“ wird auf riesigen Plakaten stehen, auf denen Stadtoberhaupt Wowereit einladend ein Staubtuch schwenkt, aber der Berliner wird nicht erst von Gewissenbissen gezwackt und dann sauberer, nein, er wird vielmehr abfällig durch die Nase prusten und dann seinen kalbsgroßen Köter extra auf den Bürgersteig machen lassen als ein Akt der stolzen Renitenz gegen die Obrigkeit, und die liebe Frau Fragmente wird auch bei ihrem nächsten Besuch an Panke und Spree dem heimeligen Duft Friedrichshains nicht vermissen. „Herzlich willkommen, liebe Frau Fragmente!“, wird Berlin ihr entgegenstinken, und alle Hunde dieser Stadt wedeln stolz mit dem Schwanz.
Berlin wird also nicht sauberer werden, der Berliner Winter nicht erträglicher, in dem, wie diesmal eher die Fama als das Vorurteil weiß, schon in den zehn Minuten vom „Visite ma tente“ bis zum 103 mehrere Leute so im Zeitraum Januar bis März erfroren sein sollen. Der Berliner Sommer allerdings, der Berliner Sommer ist großartig, und um ihn, um die vier, fünf Monate im Jahr, in dem die Stadt Kapriolen schlägt und lacht, und der Sommer selber auf dem Falkplatz Würste grillt, um diesen Sommer lohnt es sich, auszuharren und auszuhalten, wenn die Stadt im Winter alle zehn Minuten einmal kräftig die morschen Zähne fletscht. Der Sommer ist also toll. Einen Frühling, um noch ein bißchen zu nörgeln, einen Frühling gibt es hier aber nicht.
An einem, sagen wir: Donnerstag, trägt die Berlinerin einen Mantel über dem zentimeterdicken Schurwollpullover, Handschuhe verhüllen ihre blauen Finger, und mit einer gestrickten Mütze auf dem Kopf läuft sie ganz schnell von der Tram bis in die nächste Bar. Selbst Strecken von zehn Minuten zu Fuß fährt sie mit dem Taxi, und nachts schläft sie unter zwei Decken, von denen eine aus Schaf gemacht ist und so schwer ist wie der Schafe zwei. – Am Samstag aber schon sehen wir die selbe Frau im Polohemd mit einer Sonnenbrille auf dem Helmholtzplatz sitzen, sie hält ein Eis in der Hand, sie spielt Boccia, sie überredet den T., den Grill anzuwerfen, und den J., im Prater das erste Weizenbier des Jahres zu trinken. Sie packt alle ihre T-Shirts und Tops aus und betet, dass es dieses Jahr gelingen würde, einen Bikini zu kaufen, in dem sie nicht ausschaut wie ein dickes rasiertes Schaf kurz vor der Schlachtung oder ein Friedrichshainer Hund. Am Freitag aber, am Freitag fand der Frühling statt, die Zeit der Trenchcoats und der Baumwollpullover, die Zeit, in der man Fahrradfahren kann, ohne zu erfrieren oder zu schwitzen, die Zeit, in der die Bäume grün werden, was tatsächlich in Berlin in aller Regel innerhalb von maximal drei bis vier Tagen geschieht, denn auch die Bäume sind Berliner und lieben die Gemächlichkeit nicht: Entweder tun sie nichts, oder sie tun es ganz, ganz schnell.
Dann ist der Frühling vorbei, und manchmal, wenn in der Zeitung oder in Büchern, deren längst verstorbene Autoren irgendwo anders gewohnt haben, der Frühling bedichtet wird als ein übermütiger, feingliedriger Jüngling, ein knabenhafter Pan in den maigrünen Wäldern, ein junges Mädchen mit Flöte und Blumenkranz, dann erinnere ich mich, dass auch ich den Frühling gesehen habe, letzte Woche in Friedrichshain. Ein junger, leicht abgerissener Kerl war’s, in eigenhändig bemalener Lederjacke, unbestimmt blond und etwas struppig dazu, und einen unförmigen, knochigen Hund hatte er an der Leine. Hund samt Herrchen lungerten über den durchaus etwas räudigen Platz. Ein bißchen bleich sieht er aus, dachte ich bei mir, aber genau, so ganz genau kann ich ihn nicht beschreiben: Nur einmal lief er um den Platz, und war viel zu schnell wieder weg. Wer genau hinsah, konnte einen Pflasterstein und ein Paket Zündhölzer in seiner Hand sehen, denn mit dem gemeinsamen Werfen von Pflastersteinen und dem Entfachen ritueller Opferfeuer, bei denen ganze Kraftfahrzeuge den Stadtgöttern dargebracht werden, pflegt der Berliner jährlich am 1. Mai die warme Jahreszeit zu begrüßen.
„Ey, haste’n bißchen Kleingeld für was zu trinken für mich oder einen Fahrschein, den du nicht mehr brauchst?“, hat er dieses Jahr, glaube ich, zu mir gesagt, aber das kann auch ein Missverständnis gewesen sein.
hach, für diesen text hat es sich gelohnt, den computer nach dem kinobesuch noch einmal hochzufahren! großartig! allerdings ist es zu dieser stunde gerade verdammt kalt draußen. meine ohren frieren noch vom fahrradfahren. selber schuld, wenn man im sonnenschein das haus verlässt und nach mitternacht heim kommt.
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Kenn‘ ich, Frau Saoirse, geht mir gerade genauso: Heute mittag im Rock und mit Halbschuhen aus dem Haus, kurze Jacke, dünnes Oberteil, und dann auf dem Rückweg dermaßen gefroren, dass ich voraussichtlich nächste Woche an Lungenentzündung sterben werde.
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Dann gibt es für mich, die sich hier mit Dauerregen und Schneefallgrenze bis 800 m abfinden muss schon zwei Troste (Tröste? Trosts?):
1. Bleiben mir derlei kleidungsklimatische Probleme erspart, da es nachts nicht viel kälter ist als tagsüber.
2. Lebe ich in der Hoffnung, nach dem siebten Rückfall des Winters, demnächst den achten Frühlingbeginn dieses Jahres zu erleben.
Und wenn das alles nicht helfen würde, Ihr Text, Frau Modeste, weckt gleichzeitig Frühlings- und Sommergefühle! (Tralla-la. Hot town, summer in the city. Back of my neck …)
Ihr Text,
liebe Frau Modeste, der etwas melancholisch auf mich wirkt, lässt mich daran denken, vielleicht doch mal wieder den Sommer in Berlin zu spüren. Bisher kenne ich zumeist den Winter dort – und auch den ausgefallenen Frühling; da ziehe ich dann das Freiburger Land vor , das Oberbayerische und auch den Mittelrhein. Vor allem aber dieser ungebändigte und allfällige Schmutz in Berlin! Mich überrascht immer wieder, dass Menschen sich das in diesem Maße antun. An München, meine ich, sieht man, dass es auch anders geht, dass ein solcher Schmutz nicht notwendig das Schicksal einer Großstadt sein muss.
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Lieber Herr Sokrates,
Sie sind doch nicht wirklich so einfältig, oder?
„An München, meine ich, sieht man, dass es auch anders geht, dass ein solcher Schmutz nicht notwendig das Schicksal einer Großstadt sein muss.“
Das ist, als würden Sie so über schlechten Wein beim Norma sprechen:
„An meinem gut sortierten toskanischen Weinhändler meine ich, sieht man, dass es auch anders geht, dass eine solche Säurehaltigkeit nicht notwendig(erweise) das Schicksal eines Rotweins sein muss.“
Was ich sagen will, ist: Lassen Sie da nicht ein wenig die Hintergründe ausser Acht?
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Doch, ich bin so einfältig, Herr Burnston,
welches wären denn die Hintergründe?
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Ach, Frühling, Sommer – hier wird es auch jede Nacht noch schrecklich kalt, aber die Straßen sind voll, heute habe ich auf der Bergmannstraße draueßn gesessen, gerade war ich auf ein Glas Crémant in der Visite ma tente Bar, und kann und will mich alles in allem nicht beschweren. Allerbeste Frühlingswünsche in den Süden jedenfalls – der Frühling ist unterwegs.
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Der Herr Burnston meint bestimmt, dass Berlin um einiges größer und um viel mehr ärmer ist als München, und zumindest stadtteilweise von lauter Leuten bewohnt ist, die nach Berlin gekommen sind, um hier einmal so richtig herumhausen zu können, nicht wie daheim wie in Rendsburg, Bonn, Rosenheim oder Bregenz. So hat halt jeder seins.
Anzumerken ist, Herr Sokrates, aber der Fairness halber, dass nicht alle Stadtteile gleich schmutzig sind. Ich habe ja auch einmal in F’hain gewohnt, da war es gar grausig, das Gros der vier- wie zweibeinigen Bewohner fand ich ungefähr gleichermaßen unangenehm, und auch ein Mensch, der keine überhöhten Ansprüche an die Sauberkeit des Straßenkörpers hat, fühlt sich ein wenig beschmutzt, wenn er das Haus verlässt. Im Haus selber wohnte auch noch ziemlich komische Leute mit merkwürdigen Lebensgewohnheiten. Da hat’s mir nicht gefallen. Auf der anderen Seite – Berlin ist dreckig, aber wie heute die Biennale und ein paar Galerien in der Auguststraße abzulaufen, im Mauerpark Bücher zu kaufen, in Kreuzberg vorm Café am Meer in der Snne Weizen zu trinken und den Tag morgens um drei beim Crémant und einem Teller Assortie mixte ausklingen zu lassen – das ist dann halt woanders auch nicht drin. Zumindest nicht so. An solchen Tagen lacht die Stadt, dann mag man die hässlichen Hunde und ein bißchen sogar ihre Besitzer.
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Danke, Frau Modeste,
für die nette Aufklärung, die für mich sehr eindrücklich die beiden Seiten des Stadtlebens zum Klingen bringt. Mir als eingefleischtem Dorfbewohner (derzeit im Westerwald), der nur punktuell und sehr zweckgebunden Städte aufsucht, war es immer wichtiger, weite Wiesen und Wälder vor Augen zu haben als Steine und Asphalt sowie überdies mit den mir begegnenden Menschen zumindest in einen Grußkontakt zu treten. Da spielen wohl tiefe Prägungen eine Rolle, die oft weit in die Kindheit zurückreichen.
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Berlin ist vor allem eine ziemlich facettenreiche Stadt, mit sehr unterschiedlichen Ansichten und Aussichten. Je nachdem, wo man gerade unterwegs ist, kann man die Stadt lieben oder hassen.
Mir gefällts.
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Er ist sogar schon (wieder) angekommen. Danke!
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Dankbar verbeuge ich mich stellvertretend für alle meine „Landsleute“ für die Generalamnestie und die längst fällige Klischeeaufräumaktion. Noch vor einiger Zeit war ich ja auf Hundertachtzig als ich lesen durfte, dass die TU Dresden für ihr neues englisch-deutsches Wörterbuch als deutsche Entsprechung des Wortes „nerd“ die Worte „Verrückter“, „Spinner“ und… „Ostfriese“ auserkoren hatte. Ob sie Ostfriesennerz irgendwie falsch verstanden haben, weiß ich nicht, aber großer Dank für den sowieso grandiosen Text und überhaupt nochmal im Hier und Jetzt von mir. 🙂
Frage des Standpunkts
Nachdem Ole sich schon im Namen meiner Landsleute für die ungewohnt (nicht bei Ihnen ungewohnt, verehrte Modeste, sondern bei diesem Thema) differenzierte Sichtweise bedankt hat, möchte ich noch darauf verweisen, dass Schmutz ja etwas sehr Relatives ist. Und damit meine ich nicht den Geschlechterunterschied („Das willst Du doch nicht noch mal anziehen, oder?“ „Och, ich dachte, …“).
Als ich als Jungstudent aus der Kleinstadt ins große Berlin zog, kam es mir auch sehr schmutzig vor, für eine Kommilitonin war jedoch die außerordentliche Sauberkeit der Hauptunterschied zu ihrer Heimatstadt: Seoul. Welcher der schon im Vergleich mit München erwähnten Aspekte Größe und Geld hier eher eine Rolle spielt, vermag ich nicht zu beurteilen.
*lächelt*
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Schöner Frühling
Mensch, und ich war gestern anläßich des obligaten Maiwandertags in Andechs, wo ich mich unter die Völkerscharen gemischt habe und eine halbe Stunde allein darauf gewartet habe, ein Helles zu bestellen.
Der Text ist wunderschön, und ich kann mir vorstellen, dass der Sommer in Berlin ebenso schön ist, weil man die übrigen 8 Monate drauf verzichten muss. Vor zwei Jahren habe ich anläßlich eines Seminars für eine Woche in Schalottenburg (oder wie dieses Grüngemüseviertel heißt) gewohnt: war wirklich schön, morgens bin ich durch mehrere Parks und Villenviertel in irgendein Klinikum spaziert – und woanders bin ich tunlichst – bis auf die zwangsweise Stadtrundfahrt – nicht gewesen. Vielleicht sollte ich mit Herrn Sokrates zusammen (damit man notfalls gemeinsam von Bayern schwärmen kann) tatsächlich mal dem Sommer ein paar Berliner Tage abzwacken.
Vielleicht. Wenn zwischen Kloster Andechs und Oberbayern mal Zeit für die Hauptstadt ist.
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Der Ostfriesennerd. Ich sehe ihn vor mir.
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Andechs, auch nicht schlecht. Aber Berlin, Berlin ist schon großartig, wenn warm ist.
(Weitere Hymnen spare ich mir aber für heute)
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Da sprechen Sie wahre Worte, Herr Aufpasser. Ich verlasse die Stadt ja ungern, aber wenn ich mal auswärts bin, dann fallen eigentlich alle anderen Städte mir als geradezu ungemütlich aufgeräumt auf. Pure Gewöhnung, und solange es nicht unhygienisch wird…
Und an so einem Sonnentag kann man eigentlich nur zurücklächeln.
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Und wie sieht er aus?