Aber unten liegt ein Land,

Manchmal aber presst die Stadt uns zu schnell durch ihre Adern, manchmal schlägt ihr Puls uns mit eisernen Hämmern auf die Schläfen, und die Nacht reißt den Rachen auf und haucht dich an, dass du fast zu Boden gehst vor lauter Fäule. Manchmal bist du dann müde, viel zu müde für den Strom aus Lärm und Stimmen, und dann liegst du nachts im Bett und schaust mit offenen Augen an die Decke. Unter dir schreit die kleine Tochter der Nachbarn, und selbst das Haus, in dem du wohnst, ist so unruhig wie du.

Manchmal rufst du den Schlaf dann vergeblich, und die Gedanken beginnen herumzuwandern, von rechts nach links und zurück, sitzen wie schwarze Spinnen über dir an der Wand, und der, der neben dir schläft, schnappt im Schlaf nach Luft, denn so dünn ist die Stadtluft geworden, dass sie nicht länger frei macht, sondern nur unruhig, getrieben mit weit geöffneten, müden Augen. Dann kneifst du die Lider zusammen, dann malst du dir ein anderes Leben aus, vielleicht in einer kleinen Stadt an einem großen Fluß, Wasser, vielleicht Berge, und eine Erde unter den Füßen, die sich nicht schneller dreht als du. Dann malst du dir das Haus aus, in dem du wohnen würdest, Stockrosen und Dahlien im Garten, Efeu am Giebel und grüne Fensterläden aus Holz.

Am Morgen würdest du aufwachen, stellst du dir vor, und Kipferln mit Butter und Honig essen, statt einfach so loszulaufen, weil es doch immer zu spät ist, und die Nacht immer zu kurz. Viel ausgeschlafener wärst du in dem kleinen Haus, und eine rot-weiße Katze hättest du, die würde auf einem Kissen am Fenster sitzen, und morgens käme sie angesprungen und säße auf dem Plumeau. Mit dem Fahrrad würdest du zur Arbeit fahren, statt mit der BVG, und die Zeit würde sich locker über den Tag spannen, der lang wäre, viel länger als hier.

Vielleicht würdest du in der Uni arbeiten, etwas beforschen, was zehn Jahre dauert oder zwanzig, Aufsätze schreiben, die du sorgfältig immer wieder lesen würdest und deine Sätze wägen könntest und lange überlegen. Vielleicht würdest du auch mittags um die Ecke lange essen, in einem Gasthof „Zum Goldenen Lamm“ oder so, zwei Scheiben Braten, Rosenkohl und Knödel dazu, gebratene Forelle mit buttrig glänzenden Kartoffeln und Gurkensalat statt einer schnellen Sushiplatte oder einem Sandwich mit Pastrami.

Am Abend würdest du mit dem, der auch da wohnt, daheim sitzen oder bei den Nachbarn grillen, und ihr würdet dicke Bücher lesen und euch mit einem Glas Wein im Garten erzählen, was in den Büchern steht. Du würdest einkaufen und kochen, du würdest Leute einladen und mit deiner Katze spielen, und einmal in der Woche würdest du in die einzige Buchhandlung gehen, die es am Ort gibt, und Bücher bestellen, denn das, was du haben willst, hätten sie ohnehin nicht da.

Bestimmt würdest du dich langweilen nach ein paar Wochen oder Monaten. Vielleicht würden dir die Freunde fehlen, die ein so schnelles Leben führen wie du jetzt, ein paar hundert Kilometer weiter im Norden. Vielleicht zögest du dann irgendwann wieder die Stadt, weil die Unruhe Berlins nicht an den Steinen, nicht am Asphalt und nicht an dem bröckelnden Putz der Stadt haftet, sondern an dir. Vielleicht führest du, wie vor fünf Jahren, auch diesmal wieder mit deinem Umzugswagen nachts am Funkturm vorbei, vorbei an der Siegessäule, die Linden hoch, bis der Fernsehturm dir anzeigen würde, dass du hier richtig bist, und die Stadt nicht zu schnell für dich, sondern nur dein Lauf zu hastig für dein Herz und deine Lungen.

18 Gedanken zu „Aber unten liegt ein Land,

  1. Kaum ist das Wetter endlich mal schön in der launischen Stadt, schon gehen die Träume von der Landflucht los. Mein Umzugswagen würde wohl nicht erst nach fünf Jahren wieder zurückfahren. In der unruhigen Stadt merke ich die eigene Unruhe nicht so sehr wie auf dem Land. Und Berlin ist doch eigentlich die faulste, angenehmste Großstadt der Welt! (Wenns gar nicht mehr geht: Ausflug nach Lübars)

  2. Wirklich schöner Text. Der modestes erster, in dem ich mich wiedergefunden habe. Man kann sich an das Leben in der Provinz gewöhnen. Habe ich auch nie gedacht, als ich noch in Berlin wohnte. Nach einer Weile auf dem Land sieht man, dass der morbide Charme einer Grossstadt einfach nur Verfall ist.

    Jeder muss selber finden, was im Leben zählt. Den Blick vom Schreibtisch auf ein Dutzend Stuten mit ihren Fohlen würde ich nicht gerne eintauschen gegen den Blick über die Dächer einer Grossstadt.

  3. Ja,

    wenn ich in meiner Heimat bin, denke ich auch oft, dass die Menschen es dort leichter haben. Alle sind ein bisschen direkter, ehrlicher und herzlicher als hier in der Großstadt, wo alle versuchen, ihr Gesicht zu wahren, sich nicht zu binden und sich alle Möglichkeiten offenzuhalten. Man besucht sich häufiger, man ruft nicht erst an und fragt nach einem Termin für ein Treffen in der nächsten Woche, sondern geht einfach hin, weil man weiß: Der andere ist bestimmt da. Kein gehetztes Herumgelaufe zwischen Autos und Baustellen, statt dessen mit dem Fahrrad zum nahen See fahren und den Nebel auf den Wiesen genießen. Alles ist überschaubarer und nicht so überspannt. Aber dennoch: Wenn man einen ruhigen Platz in der Großstadt gefunden hat, an den man sich zurückziehen kann, und zu dem wirklich kein Ton dringt, dann kann man es auch hier wunderbar aushalten und von dort aus die vielen Möglichkeiten der Großstadt genießen.

  4. Im ersten Moment fiel mir ein, mein blogmotto zu posten, aber ich möchte mehr schreiben.

    Auch ich musste Berlin für einige Zeit verlassen, nicht freiwillig, der Arbeit hinterher reisen. 8 Monate sind vielleicht keine lange Zeit, aber wenn man in dem Wissen fährt, dass man nie wieder zurück kommt, kann sie unendlich werden.

    Rastlos bin ich durch diese Kleinstadt gelaufen, in der um 18.°° Uhr die Bürgersteige hochgeklappt wurden. Ein unfreundliches Volk, dass dort hauste. Ein schrecklicher Meilenstein in meinem Leben.

    Glück hatte ich, dass ich nach kurzer Zeit zurück „durfte“. Mag sein, dass ich einfach vor 6 Jahren noch zu jung war, meine Stadt, meine Freunde, meine Luft, einfach alles zu verlassen. Mag sein, dass es in vielleicht 30 Jahren anders ist.

    Ich liebe Berlin mit allen Höhen und Tiefen, mit allen Gesichtern, mögen sie noch so hässlich sein.

  5. Berlin bringt einen um…

    …aber woanders kann ich auch nicht leben. Glaube ich.

    Vielleicht, Burnster, hast Du mich ja unterbewusst inspiriert. Wie ich mit Vergnügen gelesen habe, bist Du ja aber nicht nur nicht verstorben, sondern sogar wieder in Berlin. Hier ist man ja vielleicht verfallen, Herr Strappato, aber immerhin lebendig, wenn auch, und da haben Sie, Mlle. Händel, natürlich recht, schrecklich faul. Oder wäre es zumindest gern.

    Eine ruhigen Platz in der Stadt, Frau Kathrin, habe ich eigentlich schon – allein, ich bin selten zu Haus, denn auswärts mag’s anstrengend sein, daheim geht es auch nicht. Ein Dilemma. Und natürlich liebe ich Berlin, Frau Lore. Hier gehe ich nicht mehr weg. Hier lasse ich mich eingraben, glaube ich. Mit einer Flucht in die Einsamkeit ist es letztlich doch nichts mit mir, Herr Tradem.

    Obwohl es schön wäre. Die Stille über einem See. Am frühen Morgen ein paar Vögel. Die Luft. Da, wo du nicht bist… – ist ja immer so.

  6. Berlin is missing…

    Windgespräch

    Hast nie die Welt gesehen?
    Hammerfest, Wien, Athen?

    ‚Nein, ich kenne nur dies Tal,
    bin nur so ein Lokalwind –
    Kennst Du Kuntzens Tanzsaal?

    Nein, Kind,
    Servus! Muss davon!
    Köln, Paris, Lissabon.

    (Christian Morgenstern)

  7. Gerade die sensiblen und aufmerksamen Menschen müssen in der Großstadt lernen sich abzugrenzen und ihre individuellen Filter so einzustellen, daß sie die Masse an Informationen ertragen können.Ein enormes Potential für Kreativität aber eben auch nicht immer einfach das passsende Maß für sich zu finden.Ein Refugium,eine kleine Oase in der Gr0ßstadt ist da fast schon ein Muß um Kraft zu tanken.Meine Zeit in Paris möchte ich nicht missen aber etwas beschaulicher darf es jetzt doch sein. Wer weiß, vielleicht zieht es mich irgendwann ja doch wieder in eine Metropole.Solche Entscheidungen müssen ja nie endgültig sein…

  8. REPLY:

    Ich bin in meiner Provinzgroßstadt wohl aufgehoben, sozusagen das Mittelding zwischen Modeste und Strappato. Unter der Woche abends auszugehen, dazu fehlen mir Zeit und Geld, insofern wäre es egal, was sich an Nachtleben abspielt, und am Wochenende in die Metropole zu düsen ist ja keine große Aktion.

    Auf dem Land zu leben wäre für mich undenkbar, doch könnte ich mir durchaus vorstellen, in der Metropole zu leben. Dann aber nicht Berlin, sondern eher London oder Barcelona.

  9. Ach,Morgenstern. Den mag ich, Herr Wallhalladada. Und Honig mag ich natürlich auch, Ole.

    Das Hin und Her, Reh, hat natürlich auch seinen eigenen Reiz, auch die Bewegung kann ja etwas Beständiges sein. Und etwas zwischen Großstadt und Dorf, Che, das geht natürlich auch immer. Der Berliner zieht dann ja nach Potsdam.

  10. Klassischer Stil, solide gemacht, nicht dieser krampfige Tiefsinn der aktuellen literarischen Jungmänner und Jungmänninnen. (Wieso schreibt es mir über den Kasten hinaus??)
    Großstädte erscheinen widerspüchlich, da sie es sind: die Zusammenballung des größten Schwachsinns und der höchsten Kultur. Walter Benjamin hat das in „Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ einfangen wollen. Die Stadt war größer als selbst er; das Passagenwerk blieb unvollendet.
    Man kann auf die Seite ‚Schwachsinn‘ abheben und die große Stadt bashen. Das geht immer; die Übel die sie produziert, liefern genug Stoff.
    Nun kann auch das Landleben ungesund sein. Die Region, in der ich wohne, umfaßt eine Ecke, in der vor Zeiten die „Tatort“-Folge „Tod im Hächsler“ spielte. Die Empörung kannte keine Grenzen. Land und Leute seien verleumdet und schwerstbeleidigt. So sei das nicht gemeint gewesen, beteuerte der Sender, irgendwo müsse so ein „Tatort“ doch spielen, alles Fiktion.
    Wer die Gegend aber kennt, wußte, daß es dort genau so ist. Der Film war, was die Atmosphäre betrifft, in der die Seele stirbt, dokumentarisch. Zwei Jahre später gab es dort einen Mord, der dem im Film aufs Haar glich.
    Doch damit nicht genug. Es gibt ein idyllisch gelegenes Dorf, dessen Einwohnerschaft aus zwei Großfamilien besteht. Die Besonderheit: Sie sind bewaffnet, und Meinungsverschiedenheiten werden per Shoot-out mittags auf der Straße ausgetragen. Die Polizei traut sich dort nur noch in Mannschaftsstärke hin, denn wenn sie kommen, wird auf sie geschossen, von beiden Clans.
    Das Problem kriegt man seit Jahrzehnten nicht in den Griff. Leserbriefschreiber forderten schon, eine Mauer drumherum zu bauen.
    Soviel zum Leben und Sterben im ländlichen Raum.

  11. Ganz toll geschrieben. Aber ein nicht auflösbares Problem behandelt. Ich z.B. bin Münchner – durch und durch. Trotzdem hab ich an vielen der hier verbrachten Tage mit irgendwas gehadert. Ohne Sinn, denn weggelaufen bin ich bisher ja auch nicht. Es klappt nämlich nicht „Stadt“ gegen „Land“ abwägen zu wollen, denn das Problem liegt woanders. Die globalisierte (welch ein Scheisswort!) Welt dreht sich für und Menschenkinder ungesund schnell. Die Jagd nach Reichtum beginnt uns krank zu machen. Klingt pathetisch, ist nach meiner Überzeugung aber nur eine ganz banale Wahrheit. Wir würden gerne etwas anderes leben, aber das hiese im Lotto gewinnen oder verarmen. Beides haut nicht hin.

  12. REPLY:

    Ja, wo Stil geboten wird, kennt der Nörgler sich aus, ob nun bei Blogbeiträgen oder
    Krimis. Tod im Häcksler war großartig, sowohl von der Machart als auch der
    Realitätswiedergabe her. Ich glaube ja eh, dass der Krimi, ob nun literarisch (z.B.
    Sjöwall/Wahlöö, Manke, – ky oder Reichs bzw. die Klassiker wie Hammett) oder in Form
    der Tatort-Serie längst zu dem Genre geworden ist, das gesellschaftliche Realität am
    Genauesten und vor allem am Lakonischsten, am Trockensten wiedergibt.

  13. REPLY:

    Es ist ja heute nichts mehr für die Ewigkeit. Auf dem Land beerdigt werden, kann ich mir noch nicht so recht vorstellen. Umzüge sind reine Routine, kein Weltuntergang.

    Relevant ist einzig, dass man sich in der jeweiligen Lebensphase mit der Umgebung wohl fühlt. Alles andere macht krank. Das sollte man nicht zulassen. Man lebt nur einmal.

  14. Ja, Herr Noergler, da haben Sie wohl recht. Das Land als die gesunde Idylle, der Gegenentwurf zur hastigen, zivilisationsverdorbenen Stadt, das ist am Ende auch nur ein jener Legenden mehr, mit denen die Schlacht gegen die Moderne einmal geschlagen wurde. Aber Totgesagte leben bekanntlich länger, und gegen die ruralen Schäferidyllen scheint kaum ein Kraut gewachsen. Trotzdem, jetzt an einem See zu sitzen…

    Dass Krimis ein zutiefst welthaltiges Genre darstellen, Che, glaube ich gerne, gerade weil sie die Unterseiten der Gesellscaft gell beleuchten, denn am Ende ist ja jeder Kriminalfall ein Ausdruck der Disfunktionalität der Zivilisation. Und auch ein Lottogein, Herr Mayer, würde an der Sehnsucht nach dem anderen Leben nicht viel ändern. Wir wollen vielleicht alle gar nicht anders leben. Wir hätten nur gerne mehr Leben, statt nur des einen, und die verpassten Leben mögen es sein, die treiben und schmerzen.

  15. REPLY:

    Ja, Strappato, Umziehen ist letztlich großartig. Neu sein mit einer neuen Umgebung, und das Festwachsen spüren. Zu wissen, dass man ja nicht muss, weil man ja immer weiterkonnte.

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