1982. Erster Schultag. Neben dem Rektor stehen die Lehrerinnen und warten auf ihre Klassen, und ich kneife die Augen ein wenig zusammen, um ihre Gesichter zu sehen. Der Dicke schaut nett aus, denke ich, von ganz weit hinten in der Aula. Die Blonde daneben lächelt gutmütig und knetet ein bißchen verlegen die Hände. Sympathisch finde ich das, denn auch ich bin mächtig verlegen, meine Sarah-Kay-Schultüte im Arm, mit langen Zöpfen, und die ganzen anderen Kinder vor, hinter und neben mir, die ich mir selbstbewusst vorstelle, klug und fleißig und mir haushoch überlegen.
Als aber die Namen aufgerufen werden, komme ich weder zum netten Dicken noch zur verlegenen Blonden, sondern zu Frau S. Frau S. gefällt mir nicht. Ein strichdünner Mund, harte Falten die rechts und links der Nase gezirkelt scharf zum Kinn führen, und ein magerer Hals, aus dem die Knochen herausstehen. Alles an Frau S. ist hart und spitz, denke ich, und verkrieche mich nach hinten.
Vor uns stehen Schilder mit Namen, und jeder soll etwas sagen. Wie viele Geschwister er hat beispielsweise, wo er wohnt, und was der Vater macht, wenn er ins Büro geht. „Telefonieren!“, sage ich, und die anderen Kinder lachen. – So klug sind sie auch nicht, wie ich gefürchtet hatte, denn als ich stolz erzähle, dass ich schon lesen kann, erhält Frau S. auf ihre Frage, wer denn sonst schon der Schule ins Handwerk gepfuscht habe, nur eine weitere Antwort, die nicht „nein“ lautet.
„Das haben wir hier nicht so gern.“, sagt Frau S. zu mir, und ich nicke beschämt. Auch Schreiben hätte ich daheim bestimmt ganz falsch gelernt, nicht nach der Ganzwort-Methode nämlich, wie Frau S. beim ersten Elternabend meine Eltern zurechtweist, und deswegen werde ich später kein ganzheitliches Verhältnis zu Texten erwerben. Außerdem male ich die Buchstaben falsch, die schön geschwungenen Bögen unter dem „f“ sind zu kurz und zu gerade, der Wasserhahn links am „u“ fehlt, und überhaupt mache ich alles falsch, bin viel zu vorlaut und lasse die anderen Kinder nicht zu Wort kommen.
Modeste hat Probleme, sich einzufügen, steht in meinem ersten Zeugnis.
Ein ganzes Jahr lernen die anderen Kinder die Buchstaben. Ich träume aus dem Fenster, denke mir Geschichten aus, in denen die Katze des Hausmeisters, die langen, goldenen Zöpfe der K. neben mir, und der Keller der Schule eine große Rolle spielen, in dem man sich verlaufen kann, wie ein Großer aus der dritten Klasse versichert. Mir ist langweilig. Aus lauter Langeweile steche ich die beliebte, hübsche K. mit meinem Lineal in die Rippen, sie quiekt, und Frau S. schickt mich auf den Flur. Da stehe ich ganz allein, noch zehn Minuten bis zur Pause, und wische mir die Tränen von den Wangen. Die Schule hatte ich mir anders vorgestellt.
Wegen des Lineals und auch sonst will die K. nicht mehr neben mir sitzen, und Frau S. findet es ohnehin besser, wenn ich direkt vorne sitze, genau vor ihr, damit ich nichts mehr anstellen kann. So sitze ich also am äußeren Ende des „U“, direkt neben M., der immer ein bißchen schlecht riecht.
Am Morgen bin ich immer schlechter aus dem Bett zu bekommen, zur Schule gehe ich immer ein bißchen ungern, außer, wenn in der ersten Stunde Sport ist oder Kunst, denn diese Fächer unterrichtet die nette Frau D., die meine Bilder und meine Übungen am Reck großartig findet die mich vorturnen lässt und meine Bilder allen Kindern zeigt. Das kostet mich die wohl letzten Sympathien.
Von den anderen Kindern bin ich enttäuscht. Nur mit C. und M. bin ich befreundet, jeden Nachmittag treffen wir uns, streicheln die Pferde auf der Koppel, verkaufen Lose an Nachbarn, erzählen uns erfundene Geschichten und versichern, sie seien wahr. Als ich Geburtstag feiern soll, lade ich nur C. und M. ein.
„Hast du sonst keine Freunde?“, fragt meine Mutter ein wenig enttäuscht, und ich verneine. K. sei doch nett, ermahnt mich meine Mutter, die Tochter unseres Augenarztes, oder L., die nur ein paar Häuser entfernt wohnt, und schon seit zwei Jahren Geige spielt. Ich mag K. und L. nicht, lade sie trotzdem ein, und gleichfalls voller Abneigung erscheinen sie mit Geschenken, die ihre Mütter gekauft haben, die wiederum mit meiner Mutter auf der Terrasse sitzen und Kuchen essen.
K. und L., bin ich mir sicher, hätte meine Mutter lieber als Kind, auch wenn sie das Gegenteil versichert. Ich kann nicht Maß halten, erkenne ich. Ich bin zu laut, zu nachlässig, zu unpünktlich und zu verträumt. Gut in der Schule bin ich, gut werde ich sein bis ich 13 bin und keine Lust mehr habe, dass meine Arbeiten vor der Klasse vorgelesen werden, und Kinder abwehrend über mich kichern, mit denen ich befreundet sein will. Ein gutes Zeugnis bekomme ich deswegen am Ende der ersten Klasse, das Frau S. nicht gern geschrieben haben wird und mir verkniffen überreicht, und ich ahne, dass es nicht einfach sein wird, egal was, und dass das Leben schöner wäre, wäre ich jemand anders.
Dass das nicht geht, ahne ich nicht.
(Hier eine Schulgeschichte vom Herrn Che, die nicht in den Kommentaren untergehen soll.)
Vom Linealdolch bis zum renitenten Gemüt schon damals die Modeste, die man liebt und schätzt.
Provoziert erschreckende Rückblicke
Ich habe diesen Blogeintrag zum Anlass genommen, mein Zeugnisheft der Grundschule hervorzukramen und mal die Beurteilungen der ersten und zweiten Klasse zu lesen. »Seine schriftlichen Arbeiten sind nicht immer sorgfälig, aber sachgerecht.« … »bei der formalen Gestaltung von Lernergebnissen hat er allerdings leichte Schwierigkeiten« … und dann steht da noch einiges mehr und ich war damals noch doch so ein kleiner Steppke und kann mich an kaum etwas erinnern außer wie der Pupel (wie hieß er eigentlich wirklich?) drei Mal gekotzt hat, einmal davon zwischen Tür und Angel, so daß wir alle den Notausstieg benutzen durften… aber erschreckend, wie viel der kleine Steppke und ich gemeinsam haben.
vonwegen goldene, unbeschwerte kindheit und so …
bis auf die mutter (meine war ganz anders, erzählt habe ich ihr trotzdem nichts) war das ganze ganz ähnlich.
„Esperame wirkt für ihr Alter überdurchschnittlich reif und vernünftig. Diesen Vorsprung setzt sie in der Klassengemeinschaft gern in Machtansprüche und gezielte Einflussnahme um. Sie ist aber einfühlsam, einsichtig und hilfsbereit.“
diese garstige kuh von grundschullehrerin hat es mir dabei so schwer wie möglich gemacht.
ich denke gerne, dass heute in den schulen sowas anders läuft, aber wenn ich mir die entsprechenden studenten so ansehe …
REPLY:
Interessante Geschichte. Für mich war die Grundschulzeit – 1982 war ich ja
schon erwachsen – vor allem eine Zeit täglicher Prügeleien. Die Schulhofschlägereien
gingen bis zum Arme ausrenken. Wenn ich Zeit finde, schreibe ich mal was drüber.
Ich hätte so rein emotional übrigens gedacht, die Frau Modeste wäre als Kind braver
gewesen – so kann man sich täuschen.
Ja, heute scheint manches anders zu laufen,
in der Grundschule, erzählte mir am Wochenende mein Bruder (Grundschulrektor in NRW). Inzwischen müsse es für jedes Kind einen individuellen, ständig fortgeschriebenen Förder- und Entwicklungsplan geben. Gebe dann die zuständige Lehrerin am Ende der vierten Klasse „nur“ die Empfehlung „Hauptschule“, sei sie in der Beweispflicht, dass sie das Kind über die vier Jahre hinweg auch genügend gefördert habe. Und die Eltern wüssten in aller Regel von ihren Rechten und pochten auch hierauf. Da weht heute ein anderer Wind.
Ich wollte damals, vier Jahre nach Deinem ersten Schultag und noch ein paar Wochen vor meinem, ja Helmut Kohl mein ganzes Taschengeld versprechen, wenn ich nicht zur Schule muss. Lesen konnte ich schon, bis 100 zählen auch, und was sollte einem die Schule da noch beibringen können? 🙂 Heute bin ich in vielfacher Hinsicht sehr froh, dass Helmut Kohl auf meinen frühkindlichen Bestechungsversuch nicht reagiert hat. 🙂
Zu meiner Zeit gab es noch keine Beurteilungen in Worten, nur kurze , knappe Zahlen. Aber dafür wartete schon eine Gang auf mich, als wir wieder in die selbe Stadt kamen aus der wir weggezogen waren. Und zufällig waren alle Mitglieder in meiner neuen Klasse. Das hieß nun aufpassen auf dem Nachhauseweg. Sich immer neue Strecken überlegen, sonst war ich dran. Hätte ich bloß zurück hauen können…
Jedenfalls sind die Anführer von damals schon längst von der Erde verschwunden. Der Alkohol und die Magersucht haben sie erledigt. Und ich hab immer noch nicht gelernt, wie man prügelt, aber das Wort ist eh die bessere Waffe.
Ja, Don, ein wenig renitent mag ich schon gewesen sein, dabei wäre ich wirklich gerne brav gewesen und hätte mich im vollen Glanze des lehrerischen Wohlwollens gesonnt. Ging nur nicht. Immerhin scheint es weniger ärgerlich gewesen zu sein als die Grundschulzeit vom Herrn Che. Hört sich übel an, Du hattest irgendwann so etwas schon einmal angedeutet. Ich bin gespannt auf die Geschichte. Kinder sind ja Biester, aber letztlich geht’s uns, wie der Frau Croco, heut‘ doch besser als den Schulhoftyrannen.
Dass man, letztlich sehr man selber bleibt, ist doch auch ein wenig beruhigend, oder? Und daran werden unterschiedliche Unterrichtsmethoden, Frau Esparame und Herr Sokrates, nichts ändern. Auch, wenn es gut ist, wenn das so ist. Immerhin, Ole, muss ja auch nicht mehr Herr Kohl bestochen werden. Allerdings macht Frau Merkel einen ziemlich unbestechlichen Eindruck. Beim Kohl hätt’s ja auch klappen können.
REPLY:
Bei Kohl hät´s klappen können *kicher*. Die Wiedervereinigung ist laut Titanic ja auch
eigentlich ungültig, weil Kohl gedopt war. Die Geschichte meiner Schulzeit kommt
am Wochenende, wäre schön, wenn Du das verlinken tätest.
Grüße vom Che
REPLY:
Die Schulzeit des Che
Ich war mächtig aufgeregt, als ich eingeschult wurde, freute mich aber sehr über die riesige Ostertüte (Schultüten hießen damals Ostertüten, weil die Einschulung bis wenige Jahre vorher zu Ostern erfolgte). Als die Namen der Neuschüler aufgerufen wurden, meldete ich mich an der falschen Stelle mit „hier“: Es wurde der Name eines Schülers vorgelesen, der den gleichen Vor- aber einen anderen Nachnamen hatte als ich. Dass es überhaupt Leute gibt, die meinen Vornamen tragen, wusste ich bis dahin nicht. Na, immerhin wurde Derjenige mein Freund. Es war auch beruhigend, dass etliche meiner bisherigen Spielgefährten in meiner Klasse waren. Trotzdem kam eine harte zeit auf mich zu. Schule war Krieg.
Zum Einen waren da mein Wissensvorsprung und die Lehrer, ein Kapitel für sich. Am ersten Tag des Religionsunterrichts zu Anfang der zweiten Klasse widersprach ich der Auffassung der Lehrerin, als ich sagte, die ersten Menschen wären nicht Adam und Eva, sondern die Neandertaler gewesen. Als es in der 4. in Sachkunde hieß, beim Gewitter donnere es, weil die Wolken aufeinanderprallten, widersprach ich und sagte, Wolken seien nichts als Nebel, das Donnern komme von elektrischen Entladungen, und als es in Physik in der 8. hieß, wenn etwas verbrennt, würde die Masse erhalten bleiben, teils im Rauch, teils in der Asche, die zusammen die ursprüngliche Masse der verbrannten Substanz enthielten, sagte ich, nach e=mc² könne das nicht sein, weil ein Teil der Masse inEenergie umgewandelt wird. ch war ein Überflieger, aber keinesfalls ein Streber: Mit meinen Wissensbekundungen stellte ich die Autorität der Lehrer in Frage, ließ sie manchmal gar als Volltrottel dastehen. Das machte mich nicht unbedingt besonders beliebt. Hinzu kam, dass ich sehr klein und schwach war; wie sich später herausstellte, litt ich an Anämie, die mich 2 Jahre in meiner Entwicklung zurückwarf. Damit war ich Freiwild, denn mich zu verprügeln war risikolos. Ich konnte mich nicht wehren. Zeitweise wurde ich einmal täglich verprügelt, ich war irgendwann so weit, dass ich mich einfach wideerstandslos zusammenschlagen ließ, und einmal wurde ich von einem Mitschüler schulhoföffentlich verprügelt, nur, um zu demonstrieren, dass ich es so gewohnt sei, verhauen zu werden, dass es mir schon nicht mehr ausmachte. Immerhin war ich noch nicht so weit unten wie jener Mitschüler, der es von seinem gesamten Sportkurs in der Umkleide besorgt bekam und an dessen gellenden Schreien sich die Mitschüler ergötzten.
Ich zog aus diesen Erfahrungen meine Konsequenzen und lernte Judo. Als mich mal wieder einer meiner Peiniger anfiel (inzwischen waren wir auf dem Gymnasium), warf ich ihn zu Boden, nahm ihn in einen Haltegriff, setzte mein nie unter seinen Arm und sagte. „Lass mich von jetzt an in Ruhe, oder ich brech Dir den Arm!“ Das war ernst gemeint, und ich hatte keinerlei Hemmschwelle, es zu tun. Es wirkte, ich hatte mir Respekt verschafft.
Die Gewalt war allgegenwärtig. Auf Schulhofprügeleien wurden schon mal arme ausgekugelt, ein Mitschüler rammte mir im Werkunterricht eine Schusterahle bis aufs Heft in den Oberarm, und auch die Lehrer straften uns bisweilen noch mit Schlägen, auch wenn sie dies offiziell nicht mehr durften. Schule in den 1970er Jahren war vor allem Mangelverwaltung: In der 5. und 6. waren wir 48 Kinder in einer Klasse, es gab aber nur für 36 Stühle und Tische, der Rest musste sich mit dem Fußboden begnügen. Da kam es besonders gut, wenn man dem verhassten Mitschüler direkt vor einer Klassenarbeit den Stuhl aus dem dritten Stock warf.
– Die Quälereien gingen, wenn auch weniger intensiv, bis ins Alter von 17 Jahren weiter, und auch dann wurde noch viel Scheiß gebaut, etwa auf einer von mir veranstalteten Fete der Kartoffelsalat auf die Scheiben meiner Fenster geschmiert. Immerhin kamen einge zeit später einige meiner Freunde, z.B. ein Judo-Kumpel, zum aufräumen und Saubermachen – mein Vater war wutschnaubend eine Nacht ausgezogen. Andererseits waren meine Feten als Kuppelparties sehr beliebt, denn gegen Ende unserer Pubertät war der einzige Sinn und Zweck einer Fete der, mit jemand Anderem zu liegen zu kommen. Und so ging schließlich die grausame und brutale Schulzeit in das nicht minder actionreiche, aber im Vergleich heitere, fröhliche und hedonistische Studentenleben über. Rückblickend gesagt, kann ich, wenn ich die skandalisierende Berichterstattung in den Medien über Gewalt an Schulen verfolge, dort nichts finden, was es nicht schon zu meiner Schulzeit gegeben hätte, außer Schusswaffengebrauch, wie in Erfurt. Nun, den hatte es zumindest in Amerikanien gegeben, von nichts anderem handelt Bob Geldofs „I don´t like Mondays“. Ich weiß, dass wir als 8 jährige die Straßenseite wechselten, wenn uns 15 jährige entgegenkamen, „die großen Jungs kriegen alles fertig“ hieß es, und unsere Erwartungshaltung war, von ihnen in den Fluss geworfen zu werden. Früher muss es noch schlimmer gewesen sein, den eine Lehrerin erzählte aus ihrer Kindheit, dass sich da regelmäßig die Jungs aus der C-Straße mit denen aus der F-Straße auf dem alten Exerzierplatz getroffen hatten, um ihre Auseinandersetzungen mit Schlagstöcken auszutragen.
Die Gewalt an Schulen war damals für die Presse kein Thema. Erstens war die mit RAF und kommunistischer Unterwanderung wo man hinschaut und überhaupt beschäftigt, zum Anderen berichteten die großen Medien über Kinder vor allem auf eine pädagogisierende, stark die Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit in den Vordergrund rückende Weise; da hätte das Thema Gewalt an Schulen einfach gestört. Und für die konservative Bürgerpresse waren Kinder viel zu unwichtig, um über ihre täglichen Hauereien zu berichten. Die Generation der Älteren hatte dazu eh die Meinung „Da fehlt der Rohrstock.“
Ich weiß nicht, Modeste, inwieweit das für Dich eine ganz andere, fremde zeit war, aber soviel Abstand ist ja gar nicht zwischen diesen beiden Kindheiten – nicht sehr viel mehr als 10 Jahre.
Danke für den Link 😉