Deutsches Theater in der Volksbühne, 23.12.2008
Irgendwann, so gegen Ende, wurde das 19. Jahrhundert seiner selbst sterbensmüde. Der soziale, technische oder medizinische Fortschritt hatte mehr Sicherheit mit sich gebracht, weniger Menschen waren gezwungen, den ganzen Tag an nichts anderes als an ihr Überleben zu denken, aber statt dass die Menschen glücklicher wurden, wurde ihnen nur langweilig.
Vielleicht war die Langeweile in einer Hinsicht sogar noch unangenehmer als die Angst und die Unsicherheit, denn ein Kranker oder Hungriger kann meist sehr genau sagen, was passieren muss, damit sich sein Leben verbessert. Ein kluger Gelangweilter jedoch weiß meist ganz genau, dass nichts, was geschehen könnte, die Langeweile beendet. Er ist am Ende aller Hoffnung angekommen. Der Hoffnungslose aber hat wenig Grund, weiterzuleben, und so ist der Schuß durch den eigenen Kopf am Ende von Tschechovs Möwe wohl nicht Ausdruck eines pathologischen, aber temporären Aufregungszustandes Kostjas, sondern dass, was man gemeinhin als einen Bilanzsuizid bezeichnet: Die Selbsttötung als rationale Konsequenz des unabänderlichen Scheiterns.
Dass Kostja als ein am Ende erfolgreicher Künstler verzweifelt und stirbt, gehört zu den genialen Zügen der Möwe, die der Autor als Komödie bezeichnet hat, obwohl im gesteckt vollen Raum der Volksbühne (das Deutsche Theater wird gerade renoviert) keiner lacht. Überhaupt sind die Erfolgreichen ebenso hoffnungslose Fälle wie die, denen Zufall wie Schicksal den Erfolg nicht vor die Füße gelegt haben. Die Arkadina ist nicht glücklicher als die erfolglose Schauspielerin Nina, ihr Bruder Sorin, dem am Ende seines Lebens nichts bleibt als unerfüllte Wünsche, nicht mehr zu bedauern als Sohn Kostja, dem der Erfolg nicht hilft, und das echte Liebeselend der Mascha nicht schwärzer als die ambivalente, monochrome Langeweile, in der der Arzt Dorn ebenso einhertreibt wie der Schriftsteller Trigorin, der Nina – so ahnt man – nicht aus Begehren, gar aus Liebe ruiniert, sondern einfach so, wie Kinder an einem sonnigen Sonntagnachmittag im Garten eine Libelle oder einen grünschillernden Käfer fangen, quälen und sterbend liegenlassen.
Dankenswerter Weise hat Regisseur Jürgen Gosch darauf verzichtet, die träge, sommerwarme, unbewegliche Luft der Möwe auszutauschen gegen die elektrische Atmosphäre, die das Berliner Theater oft auch ohne Ansehung des Stücks vorzieht. Umso greller wirken die kleinen Entladungen, die Versuche der Kontaktaufnahme zwischen den Protagonisten, und besonders laut gellt die an sich nicht aus dem Rahmen der Bühne (insbesondere der Volksbühne) fallende Szene, in der Corinna Harfouchs Arkadina Trigorin zu sich zurückholt, als er sie wegen Nina verlassen will. Zuletzt wird, aber das zu sehen erspart uns Tschechow, die alte Schauspielerin die junge nicht nur im Theater, sondern auch in der Liebe besiegen.
Den Untergang der Nina spielt Kathleen Morgeneyer als eine Klimax der Intensität. Unhübsch, fragil, ganz Gefühl und Nerven, fällt im Laufe der mehr als drei Stunden dieses Abends jede komische oder rührende Arabeske von ihr ab, bis in der letzten Szene nurmehr der blanke Schmerz auf der Bühne steht. Jirka Zett kann da nicht mithalten, allzu blond wirkt sein Kostja an Leib und Seele, und auch Alexander Khuon als Trigorin macht es den Zuschauern durchaus schwer nachzuvollziehen, was gleich zwei Frauen an ihm finden, aber vielleicht macht es sich Gosch auch nur ein wenig leicht mit diesem ein wenig kanaillesken Routinier der Kunst, derweilen er ihm die Nachsicht versagt, die aus Tschechovs todtraurigem Stück von der Vergeblichkeit des menschlichen Lebens, von der Tödlichkeit der Langeweile dann doch eine Komödie macht, denn was wäre eine Komödie anderes als eine Geschichte von der Unüberwindlichkeit der Differenz zwischen Sein und Sollen, die ihre Komik aus dem Umstand bezieht, dass es den Ort gar nicht gibt, nach dem alle suchen, den goldenen Zustand jenseits der Ausweglosigkeit der Langeweile, es sei denn im Moment der letzten Pointe: Dem Schuß.
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