Vom Ende der Welt

Anlasslos eigentlich stelle ich mir vor, die Welt ginge unter. Von einem Tag auf den anderen verschwänden Buchstaben, verblassten in den Büchern und würden beim Sprechen auf einmal nicht mehr gefunden. Erst fielen nur wenig genutzte, selten vermisste Lettern ins Nichts. Das „X“ etwa. Oder das „Q“. Dann aber beschleunigte sich der Verfall, das „G“ schwände dahin, eines Tages das „T“, die Vokale gar, und angstvoll liefen die Menschen stumm durcheinander.

Eines Morgens wären alle Katzen nicht mehr da. Die Pferde zerflössen als blutiger Schaum in den Ställen. Die Kühe aber stünden noch Wochen auf den Weiden, schaukelten mit den Köpfen und vergäßen, dass das Gras zum Fressen da, und das Wasser trinkbar sei. Den Menschen selbst verliefen erst die Gedanken wie flüssige Farben im Ausguss. Schmerzlos, weit jenseits von Wort und Gedanken, säßen viele des Nachts in den Ecken und betrachteten glucksend die eigene Hand. Am Tag danach blieben manche liegen und verhungerte binnen Tagen im Bett. Andere vergäßen zu atmen. Manche Herzen schlügen abends um sechs nicht mehr weiter. Die Toten liefen dann noch ein paar Tage herum.

Die Töne blieben aus. In den Oktaven klafften Lücken: Schmerzhafte Momente der Stille. Die Farben der Welt würden verschwimmen, komprimierten zu immer weniger Variationen, und auch der Raum selbst würde mürbe, fadenscheinig und fiele zusammen. Löcher täten sich auf, die keiner mehr sieht, bis am Ende die Erde zittern würde, und die Brandung sich ein letztes Mal an den Steilküsten bricht. Hell würde es werden, sehr hell, wenn alle Zeit ein Ende hätte; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.

12 Gedanken zu „Vom Ende der Welt

  1. REPLY:
    kann ich auch nachvollziehen

    – obwohl ich mich eher an träume erinnere, in denen wir zum beispiel nur mehr holzplanken oder bäume mitten in der stadt, um uns darauf zwischen den häusern fortzubewegen, benutzen konnten. und wohl auch durch die wiederholungen dieses traums sehe ich dieses bild heute noch deutlich …

  2. REPLY:

    Ja, dieser Weltuntergang wäre sehr, sehr individuell.

    Aber auch bedrohlich real (auch wenn das jetzt vom eigentlichen Text wegführt). In der Arbeit mit „sich und andere verwirrende Menschen“ (so wohl die politisch korrekte Bezeichung für Demenzkranke) gibt es, so las ich jüngst, therapeutische Einsätze mobiler Erinnerungsmuseen. Koffer mit alten Fotos, originalen Eintrittskarten, Kinobillets, Stadtansichten – alles aus einer Zeit, als die Erinnerung, die Welt also, noch vorhanden war. Auch wenn es sich dabei nicht um die individuellen Memorabilia handelt, wirkt doch das kollektive Gedächtnis, blitzt wohl im Erkennen vergangener Zeiten und ihrer Relikte die „Welt“ wieder auf. Ein tröstlicher Gedanke für die Zeit, wenn einem die Bilder und die Sprache wegbrechen.

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