Der gewöhnliche Leser

Sechs, acht oder zwölf Jahre alt zu sein und am Nachmittag mit einer ganzen Tasche voller Bücher im Bett zu liegen, eine Tüte Kartoffelchips, die ich unters Bett schiebe, wenn auf der Treppe hoch zu mir Schritte lauter werden oder einer ruft. Hingerissen sein, weggespült werden und sich willig überwältigen zu lassen von dem, was einer mit 26 Buchstaben kann.

Größer zu werden. Groß, erwachsen sogar, und weiterzulesen im Bett, auf dem Sofa, im ICE, sich in Büchern zu suhlen wie in warmem, leuchtendem Schlamm. Schöne Worte, funkelnde Sätze abzulecken, glattzulutschen, zu kauen, zu schlucken und auswendig zu lernen, was man ganz und gar besitzen will.

Berührbar bleiben. Jedes Buch treffen wie eine Person. Ungerecht sein dabei: Den einen mag man, aller Unarten zum Trotz, und schließt ihn in die Arme mit allen Manierismen, Sommersprossen und Haaren an der falschen Stelle, und nimmt nicht einmal die falschen Konjunktive übel. Den anderen mag man nicht einmal gut gekämmt bei sich haben und wirft ihn beim ersten falschen Wort hinaus. Der Genuss, regellos zu lesen, lässig schwankend in den eigenen Maßstäben und den Experten in Redaktionen und Instituten von sehr weit weg zusehen, die ein anderes Metier betreiben als das des gewöhnlichen Lesers, den nicht Erkenntnisinteresse treibt, was und wie Bücher denn wären, nicht das bestellte Berufsrichtertum, auch nicht der literarische Verbraucherschutz für andere Leute, sondern einzig und allein die Freude, von dem zu sprechen, was man liebt.

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4 Gedanken zu „Der gewöhnliche Leser

  1. Bravo!

    Bravo, Madame Modeste! Just fasste ich den Vorsatz, im angebrochenen Jahr mich auch von Tod und Teufel persönlich nicht davon abbringen zu lassen, ein gutes Buch pro Woche zu lesen und schon unterstützen Sie mich auf diese wunderbare Weise mit einer Essenz an Rezensionen in der Auswahl. Schlicht und einfach: Danke!

  2. Ich habe mich schon einmal darüber ausgelassen, wie anmaßend und unausstehlich ich die Moderatoren der diversen Literatursendungen empfinde, mögen sie non MRR oder Iris Radisch heißen.
    Ähnlich erfrischend wirken die Kritiken des „gewöhnlichen Lesers“, die in mir einen weiteren Vergleich aufkommen lassen.
    Es gibt eine Seite, die vor allem in Österreich sehr praktisch ist: http://www.speising.net/
    Dort lese ich nicht die üblichen Tages- und Wochenzeitungs-Restaurantkritiken sondern die Meinungen von Essern, die wie ich bestimmte Lokale aufsuchen. Ich erfahre viel mehr über ein unbekanntes Lokal, wenn ich die Kritiken verschiedener Menschen lese und feststelle, wie sie über mir bereits bekannte Lokale geschrieben haben.
    Ich mag das „ungerecht sein“. Letztlich gibt es Bücher, bei denen man warm wird und andere, durch die man sich ein bisschen quält, weil man glaubt, es gelesen haben zu müssen. Der Mann ohne Eigenschaften zählt zu diesen. Obwohl ich den zweiten Teil recht amüsant finde, kann ich dabei kein richtiges Lesevergnügen empfinden.
    Anders herum hatte ich mich nach den ersten dreißig Seiten der Strudelhofstiege so festgelesen, dass ich diese doch immerhin mehr als 1000 Seiten immer wieder gerne zur Hand nehme.
    Vielleicht fehlt in der oben stehenden Betrachtung noch ein Aspekt, den ich auch sonst selten angesprorchen sehe: dass man ein Buch wieder und immer wieder lesen kann.
    Bei Kinderbüchern und bei Lyrik scheint es zwar selbstverständlich zu sein, bei Romanen schätze ich aber den Umstand, dass sich ein Roman auch beim zweiten oder zehnten Mal lesen noch frisch anfühlt, sehr hoch ein. Es fallen mir einige dieser Art ein, aber die werde ich nicht zu nennen brauchen.

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