Man darf sich da nicht blenden lassen: Usedom atmet durchaus den Charme vergangener Zeiten. Es sind allerdings nicht die Zeiten, an die man denkt, wenn man etwas von „Kaiserbädern“ liest und an den schön restaurierten Villen vorbeiläuft, die sich die Berliner Bankiers der vorletzten Jahrhundertwende an die Ostsee gestellt haben. Das ist alles da, es sieht auch gut aus, aber es prägt nicht den Geist des Ortes, wie man so sagt, die Atmosphäre hat nichts mit der Opulenz des Fin de siècle zu tun, nicht einmal in einer preussisch-kargen Version. Wer hier spazieren geht, trifft nicht Max Liebermann. Wer hier Urlaub macht, trifft Erich Honecker. Der ist nämlich gar nicht tot. Der lebt hier und hält sich fit mit Nordic Walking.
Hier gibt es noch Rentner, die beigefarbene Westen tragen, und Rentnerinnen, von deren Donnerbusen ein Motivshirt im Winkel von 90° zum Boden hängt. Hier hört man mehr sächsisch als auf dem Bahnhof von Leipzig. Hier fahren Leute in komplettem Sportdress von Tchibo so langsam auf Fahrrädern herum, dass die Helme ganz und gar logisch erscheinen: Die Gefahr, umzukippen, ist verhältnismäßig groß, wenn man sehr, sehr langsam fährt.
Hier haben Frauen bis 50 grundsätzlich zwei Haarfarben – rot und schwarz etwa – und Frauen, die älter sind, eine kurze, graue Dauerwelle. Die meisten Leute wirken irgendwie teigig und verformt. Ich kann nicht schätzen, wie alt diese Menschen sind, aber ich fürchte, viele sind jünger als man so denkt.
„Was macht man hier eigentlich abends?“, frage ich mich irgendwann so gegen neun und schaue durchs Fenster auf die Strandpromenade und über den Strand aufs Meer. Es ist menschenleer. Hier scheint es keine Bars zu geben. Das einzige Kino hat, wie ich höre, inzwischen dicht. Einkaufen ist auch ein eher mageres Vergnügen. Wenn die anderen nicht wären, wenn der J. und ich hier allein herumsäßen, dann wäre das hier nichts für mich, und auch so schließe ich die Augen und denke an Kampen, an Cannes, an Sanary-sur-Mer, und beschließe, dass man sich das hier mal anschauen kann, dass man mit der I. und dem S., der M. und dem M., ja fast überall hinfahren kann, aber dass ich hier nicht wieder herkommen werde, denn hier bin ich falsch.
Oh.
Genau so.
Gibt’s das L&W in Heringsdorf nicht mehr? Und im Bernstein haben wir mal hervorragend gegessen.
Ansonsten ist mir nichts nachhaltig in Erinnerung geblieben – außer, dass Usedom tatsächlich etwas beigefarben ist…
Die von dir so treffend beschriebenen Typen trifft man wohl überall an – aber den Nordic walkenden Erich Honecker würde ich mir gerne mal im Original anschauen.
„Donnerbusen“ und „90°-Winkel“ sind zum Prusten schoen!
Bei allem Verständnis zum New-Lower-Mittelstand: Dank für den „Sportdress von Tschibo“! 😉
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Dem schließe ich mich an; auch ich hätte nämlich eher an Liebermann gedacht.
die beiden mittleren passagen sind zum niederkien schön und treffend beschrieben.
p.s.: dafür muss man aber nicht bis nach usedom reisen. das ist die normalbevölkerung die mindestens die absolute mehrheit stellt. so schlecht man sich das auch manchmal vorstellen kann. aber dafür gibt es ja professionelle abhilfe …
http://www.mopo.de/ratgeber/living/das-ist-deutschlands-haeufigstes-wohnzimmer/-/5066772/8600700/-/index.html
Himmel! Sanary-sur-Mer! Das sind jetzt aber Erinnerungsrückstürze. Die ganze Ecke bei Bandol. Die duftenden Kiefernwälder. Wo man nachts noch am Strand sitzen kann, den Wellen in der Dunkelheit zuhören und tagsüber große Hüte und noch größere Sonnenbrillen tragen. Erinnerungen machen. Vergessen wir nicht, eines Tages sind wir alt.
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Ach. Südfrankreich. Abends am Bahnhof anzukommen. Das Licht, die Gerüche.
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Puh. Das ist, nun ja, hart.
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Ich frage mich immer wieder, warum Leute für körperliche Bewegung, die nicht über das Normalmaß des Alltäglichen hinausgeht, besondere Kleidung brauchen, nehme aber an, es ist was Psychisches.
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Ich frage mich immer, ob diese Frauen auch einmal jung und hübsch und lustig waren, und was sie denken, wenn sie sich unversehens in einer Schaufensterscheibe spiegeln.
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Ich habe seit letzter Woche eine ziemlich präzise Vorstellung.
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Die Gastronomie ist insgesamt gar nicht übel, es ist mehr so das Gesamtflair, das etwas irritiert.
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Leider.
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Ich auch, ansonsten wäre ich nicht hingefahren.