„Ach was.“, sage ich und zerteile meinen Pancake sorgfältig in vier gleich große Stücke. „Dann haben die Kinder mit den übereifrigen Mamas halt die besseren Abiture.“ Mein Begleiter nickt mit vollem Mund und bestreicht ein Croissant mit Orangenmarmelade. „Das ist doch egal.“, bestätigt er, verrührt einen Löffel Zucker in seinem Tee und winkt dem Kellner um ein Schälchen Honig.
Wir zum Beispiel haben beide kein gutes Abi. Als wir zur Schule gingen, gemeinsam, irgendwann in den Neunziger Jahren, war der Ehrgeiz ja quasi noch nicht erfunden. Niemand von unseren Eltern hatte Angst, dass Inder oder Chinesen mit doppelt soviel Wissen und dreimal so viel Fleiß uns den Rang ablaufen würden. Zwischen meinen Eltern und mir gab es die unausgesprochene Abrede, dass sie sich nicht einmischen und ich nicht sitzen bleiben würde. Weil meine Eltern offenbar überhaupt nicht in Frage stellten, dass ich meine Versprechungen in Hinblick auf eine ungestörte Schullaufbahn auch halten würde, nahm mein Vater pünktlich zu jedem Halbjahrszeugnis die warnenden Briefe zur Kenntnis, in denen stand, dass ich wegen zwei Fünfen in Chemie und Physik versetzungsgefährdet sei. Ich glaube, es hat ihn keinen Tag beunruhigt.
Auch die Mutter meines Begleiters zog Schulversagen nicht weiter in Betracht. Ich glaube, sie wusste nur sehr ungenau, welche Leistungskurse ihr Sohn so besuchte und sprach nie mit ihm über seine auffallend asymmetrischen Zensuren, die entweder (in Latein, Griechisch oder Geschichte) durchweg auf eins oder (in Mathematik, Physik oder Sport) maximal auf einer Gnadenvier für ein freundliches Wesen standen.
Guten Noten maßen wir auch bei anderen keinerlei Bedeutung bei. Wir wussten ziemlich genau, wer geistreich und wer zumindest belesen war und wer sich nur Königs Erläuterungen drei Tage lang merken konnte. Diffus war uns von Anfang an klar, dass aus den fleißigen Mädchen in unserer Klasse keineswegs die erfolgreichsten Erwachsenen werden würden, und wir verachteten die Mädchen mit den sauberen Heften schon vorab ein bißchen für so viel unnütz aufgewandte Arbeit.
Ich habe für mein Abi nicht gelernt. Der NC für Jura war bei 2,5 damals, da war klar, dass jeder spätestens im Nachrückverfahren einen Platz bekommen würde. Mein Begleiter lernte eine Woche für Mathe, weil er ansonsten durchgefallen wäre und ein Jahr verloren hätte. Wir haben beide nie auch nur im Ansatz in Betracht gezogen, dass man uns das Abitur verwehren könnte. Am Ende standen wir in der Aula, ich hielt die Abirede. Er spielte, meine ich, vierhändig Mendelssohn-Bartholdy. Es gab ziemlich salbungsvolle Worte und mittelmäßiges Essen. Ich hatte ein weißes Kleid an und sehe auf den Photos, die es gibt, irgendwie ungebürstet aus.
Das ist nun fünfzehn Jahre her. Wir haben beide ziemlich gute Examina. Seine Diss ist sehr, sehr gut und meine immerhin ansehnlich. Man lädt uns zu Kongressen ein, um dort zu sprechen und wir publizieren ab und zu in Zeitschriften, was wir uns über dies und das so denken. Es läuft, wie man so sagt, alles recht gut.
„Meine Sekretärin hat ein besseres Abi als ich.“, sagt er und blättert in der Teekarte. Ich nicke. Es ist ganz egal, was passiert, bevor es losgeht, sage ich laut und korrigiere mich sofort: Nein. Es ist nicht egal. Aber das, was man in Schulen lernt, das ist egal, und die Mühen der Mamas vermutlich ganz vergeblich.
Können Sie aus eigener Beobachtung sagen, welche Sorte Eltern aus Ihrer Sorte Abiturienten und Abiturentinnen wird? Denn ich frage mich schon auch, wie wohl die eigenen Schulerlebnisse der Arschhinterherträgereltern aussehen.
Interessant. Das Abi-Erfolg, Studienerfolg und späterer Lebenserfolg nicht kongruent sein müssen, kann ich bestätigen. Ich habe einen Maturaabschluss mit 1.0, einen Studienabbruch mit fertiger Diplomarbeit und Studienassistentenstelle und darf heute wieder an Unis unterrichten. (Schon ein bisschen komisch)
Aber ich möchte dem Inhalt des Links „was man in schulen lernt, das ist egal“ widersprechen. Gute Lehrer bringen einem zwei Dinge bei:
a) wie man lernt
b) wie man Interesse und Neugier für ein Fach entwickeln kann.
wenn das nicht gelehrt wird, ist allerdings der Rest wirklich egal.
Wir hatten offensichtlich das Glück, ziemlich gute Lehrer zu haben.
Wie kann man es sonst erklären, dass ein Deutschlehrer, der stotternd Lyrik vorliest, ein Drittel der Klasse in einen Beruf verführt, der mit Sprache zu tun hat. Chefredakteure, Uniprofessoren etc.
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Das habe ich mich auch gefragt. Ich habe keine Ahnung. Meine Freunde haben noch keine großen Kinder. Vielleicht werden wir so wie mein Vater, der ein lausiger Schüler war und schulischen Erfolgen schon deswegen nie den geringsten Wert beigemessen hat und mich völlig unbeirrt trotz schlagendster Gegenbeweise bis heute für hochbegabt und fehlerfrei hält.
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Aber muss man dazu wirklich in die Schule? Diese entsetzliche Zeitverschwendung, geht das nicht auch daheim?
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Also ganz ehrlich gesagt, ich glaube nicht. Ich setz mich zuhause nicht einfach zum Lernen hin. Außer ich muss unbedingt.
Das mit der Zeitverschwendung stimmt schon. Der Stoff, der gelernt wird, kann auch in einem Jahr durchgenommen werden.
Für den Physikstoff der Oberstufe hat man auf der Uni vielleicht einen Monat Zeit, ihn selbstständig zu lernen.
Weil ich Trottel aus Mitleid mit dem Physikprofessor in Physik und nicht in Mathematik maturiert habe, habe ich 60 Stunden lernen müssen. Mathematik hätte ich mit 0 Stunden geschafft.
Aber das Problem ist auch, dass alles seine Zeit dauert. Ich glaube, ich hätte auch mit 13 Jahren maturieren können, bin aber trotzdem froh über meine Kindheit. Auf die Weise war alles spielerisch und kein Zwang.
Und mich so zum Klavierüben hinsetzen, wie ich es jetzt mache, wäre ich ohne Zwang nicht instande gewesen – und mit Zwang schon gar nicht.
http://soundcloud.com/hanshartmann/widmungliszt
Nur zur Untermauerung was „nebenbei“ möglich ist.
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Ich würde die Schulzeit schon belassen, aber den Lehrplan mehr oder weniger radikal ändern. Aber das habe ich schon öfters ausgeführt:)
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Danke für diesen mich gerade sehr erheiternden Nebensatz „geht das nicht auch daheim?“
(mein temporäres Herrschaftswissen über die Kultur der Maya und Azteken erlangte ich im übrigen im Alter von ca. vierzehn Jahren durch eifriges Selbststudium mit geliehenen Bildbänden auf einem Jägerhochsitz im Wäldchen meines Heimatdorfes. Die Schule war ein Dorf weiter. Das Selbststudium fand sehr diszipliniert während der regulären Schulstunden statt. Ich war halt nur woanders. Lernen.)
REPLY:
ich habe thomas mann immer schon schrecklich gefunden und in meinen fehlstunden dostojewski gelesen. der war vor 20 jahren im lehrplan nicht vorgesehen. nachdem ich das – aufgrund meiner fehlstunden – sehr leidenschaftlich meinem stufenleiter vorgetragen habe, hatte ich endlich etwas ruhe.
p.s.: das problem des abiturs ist doch die tatsache, das es eine größere gruppe von schülern gibt, die bei dem allerweltsanspruch überhaupt noch nicht gefordert werden und daher ohne irgendeine beteiligung, fleiß oder interesse ein mittelmäßiges abi hinbimmeln, für das sich wiederum ein anderer größerer teil der schüler den arsch bis zum himmel aufreissen muss. als ausgleichende gerechtigkeit für die zeitverschwendung haben erstere nach 20 jahren immerhin die größte selbstständigenquote mit den besten berufen – wohingegen die noch nicht angesprochene einsertruppe überwiegend angestellt ist.
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Naja, ich gehöre wohl zur Einsergruppe und bin mit dem Angestelltsein durchaus zufrieden. In der einen Firma bin ich Prokurist, in der anderen Geschäftsführer:)