Man wundert sich

Man wundert sich. Man wundert sich sehr. Und ich wundere mich auch.

Am meisten wundere ich mich, dass andere Leute offenbar nur Menschen kennen, die denken wie sie selbst. Wie machen die das? Ich schätze mal, die meisten meiner engen Freunde wählen grün, weil sie – wie ich auch – ökologische Themen wichtig finden und gesellschaftspolitisch die Interessen von Frauen, Migranten oder Kindern aus kleinen Verhältnissen besonders verbesserungsbedürftig und -würdig finden. Ich kenne aber auch gar nicht so wenig Leute, die liberal oder konservativ wählen oder sogar Mitglied einer bürgerlichen Partei geworden sind. Ich weiß gar nicht, was man macht, um solche Bekanntschaften zu vermeiden. Man kommt doch irgendwo her. Mein ältester Freund und Tanzstundenpartner etwa ist Mitglied der FDP. Der wohnt heute einen Kilometer entfernt von mir ebenfalls in Berlin und arbeitet für eine Unternehmensberatung. Mein Tischherr vom Abiball ist der CSU beigetreten. Notar in Oberfranken. Und mein Schulschwarm ist Professor in Süddeutschland, alter Herr einer katholischen Verbindung. Mitglied einer Vertriebenenorganisation, Berater der unsäglichen Preussischen Treuhand, die Pommern wiederhaben will. Ich will gar nicht wissen, was der letzten Sonntag gewählt hat.  Dass ich als Berliner Juristin viele Juristen kenne, die sicherlich CDU gewählt haben oder teilweise auch direkt im Berliner Betrieb fürs bürgerliche Parteienspektrum arbeiten, versteht sich vermutlich von selbst.

Anders als Frau Nuf meint, sind die meisten meiner konservativen Freunde und Bekannte alles andere als unaufgeklärt. Das sind zum Teil sehr kluge, sehr illusionslose Menschen, die nicht über weniger kritisches Bewusstsein verfügen als Linke oder Linksliberale. Sie finden nur andere Fragen wichtig. Dass die CDU in der Spähaffäre keine gute Figur gemacht hat, sehen die meisten bürgerlich Konservativen genauso. Ich kenne auch niemanden, der das Betreuungsgeld wirklich toll fand. Auch die Wählerin der CDU ist in der Regel – wie etwa eine gute Freundin von mir, die für die Fraktion arbeitet – eine (zumindest in Teilzeit) berufstätige Mutter mit mehr Interesse an der Ausstattung der Kita (nicht: am kostenlosen Kitaplatz) als an 100 Euro fürs Sparschwein. Was meine Bekannten mit CDU oder FDP-Parteibuch aber vom Grün- oder gar Links- oder Piratenwähler unterscheidet: Andere Themen sind ihnen deutlich wichtiger.

Zum einen hätte, so meint man auf dieser Seite des politischen Spektrums, die CDU nicht viel falsch gemacht. Es geht der Bundesrepublik – und damit auch den meisten Menschen, die hier wohnen – besser als anderen EU-Mitgliedstaaten. Die Finanz- und Europapolitik gilt als verlässlich und bewährt. Das ist wichtig, wenn man ein bißchen Vermögen hat. Und in diesem Punkt traut man der SPD nicht so recht über den Weg. Zum zweiten misstraut man Rot-Grün in Sachen Wirtschafts- und Sozialpolitik. In vieler Augen war da etwas sehr viel von Wohltaten zugunsten von Leuten die Rede, die man auf dieser Seite des politischen Spektrums nicht schätzt. Zum dritten subsumieren viele Menschen unter „Freiheit“ viel weniger die Freiheit, nicht überwacht zu werden, sondern viel eher die Freiheit, einzustellen, wen man will (also ohne Quote) oder zu wirtschaften, wie man will (also ohne Mietpreisrestriktionen bei Neuvermietungen oder strengere Umweltauflagen). Insofern meine ich: Auch wenn der bei wirres oder Frau Nuf zitierte Bauer aus der Rhön noch so gut aufgeklärt würde, würde er vermutlich immer noch eher die Abbildung seines Hauses bei google dulden als die Abschaffung des Ehegattensplittings oder die Erhöhung des Spitzensteuersatzes, der in der Bundesrepublik ja schon bei verhältnismäßig übersichtlichen Einkommen greift.

Hinzu kommt noch etwas anderes. Es gibt in der Bundesrepublik bis heute recht klar voneinander abgegrenzte Milieus. Wir verkörpern eins. Die großstädtischen, verhältnismäßig gebildeten und relativ gut verdienenden Menschen mittleren Alters. Wir halten uns für das Leitmilieu, weil die Leitmedien von Menschen geschrieben werden, die uns relativ ähnlich sind. Der J. und ich merken das immer wieder, wenn wir die ZEIT lesen und vor allem im Magazin exakt unser Berlin auftaucht. Unsere Cafés, die Restaurants, die Ausstellungen, die Spielplätze, auf denen der F. spielt, Gegenstände, die wir kaufen, Gewohnheiten, die wir haben. Wir sind aber nicht Deutschland. Es gibt zum einen die kleinen Leute. Um die wollen sich die linken Parteien kümmern. Es gibt zum anderen aber auch die überkommenen bürgerlichen Milieus. Den Hals-Nasen-Ohrenarzt in Mettmann, der jeden Samstag Tennis spielt. Die geschiedene Gymnasiallehrerin in Verden. Den Unternehmer aus Rastatt, der Gartenmöbel fertigt und im Amateurquartett Bratsche spielt. Den Abteilungsleiter der Stadtwerke in Andernach. Die waren einmal das Leitmilieu. Zumindest fühlten sie sich so. Die alte Republik, die Bonner Republik, wurde von diesen Leuten getragen. In den Romanen dieser Jahre der Walser, Grass und Frisch tauchten diese Leute auf, ihre Befindlichkeiten, ihre Wünsche, ihre ganze Welt. In den letzten zwanzig Jahren hat dieses Milieu einen empfindlichen Bedeutungsverlust durchgemacht. Das Zentrum ist jetzt woanders.

Es ist nicht unverständlich, dass dieser Bedeutungsverlust die Leute schmerzt. Wer ist schon gern auf einmal provinziell und – zumindest in der medialen Wiederspiegelung – ein bisschen lächerlich. Auch deswegen gibt es eine breite Strömung, die an das Bestehende, das Alte, die untergegangene Bonner  Republik anknüpft und die CDU wählt, weil sie ihr – trotz aller Brüche – am ehesten die Kontinuität ihrer Welt zu verkörpern scheint. Das ist nicht verwunderlich. Und wenn es den anderen Parteien nicht gelingt, mit anderen Themen und anderen Personen diesem Marginalisierungsgefühl abzuhelfen, dann wird man sich vielleicht noch ziemlich oft wundern.

11 Gedanken zu „Man wundert sich

  1. mein artikel ging ja weniger darum, dass ich niemanden kenne der anders denkt als ich selbst (ich kenne sogar bauern in der rhön), sondern um genau die erkenntnis, dass unsere ballungsraumfilterblase (oder wie du es nennst, milieu) uns meinungsbilder und diskurse vorgaukelt, die eben in den nicht so geballten räumen keine so grosse rolle spielen. und eigentlich war es noch mehr mein ärger darüber, dass viele leute glauben, mich leider immer wieder eingeschlossen, dass man anderen leuten, leuten die andere prioritäten haben, nur erklären muss was uns umtreibt, um sie zu den gleichen prioritäten oder denkmustern zu bewegen.

    wenn man das so aufschreibt, scheint die erkenntnis, dass wir und grosse teile der medien in einer relativ hermetischen blase leben und denken, wie eine binsenweisheit. im alltag, auch in meinem, spielt diese erkenntnis aber leider keine allzu grosse rolle. das liegt wohl daran, dass wir im alltag unser eigenes leben führen und uns (im alltag) weniger mit dem reindenken in andersdenkende beschäftigen.

    ich glaube auch, dass es zum niederreissen der filterblasen mehr bedarf, als leute die anders denken zu seinem bekanntenkreis zu zählen. hinter jeder geplatzten filterblase steckt nämlich eine weitere filterblase. und mit jedem milieu in dem man durch bekanntschaften einblick zu haben meint, kommen hunderte von milieus, die einem völlig fremd sind und wohl auch bleiben.

    eigentlich wollte ich mit meinem artikel nur ein bisschen demut üben. aber das hat keiner gemerkt. ich sollte vielleicht mal über meinen schreibtstil nachdenken.

    1. kennen und kennen sind ja zwei paar schuhe. ich erinnere mich, dass ich einst meine große schwester fragte, wie es mir entgehen konnte, dass es jede menge menschen gibt, die anders sind als wir. es scheint, antwortete diese, ein reflex, sich mit den anderen nicht weiter abzugeben. und weil das eine so schnelle, unterbewusste entscheidung ist, könne man schon leicht auf die idee kommen …
      natürlich ist es nicht d i e art von kennen, von der hier die rede ist. und natürlich ist einem schon klar, dass andere sich in anderen umfeldern bewegen, andere erfahrungen und lebensumstände haben. insofern erklären sich meinungsunterschiede von selbst und auch ein wahlergebnis, das mit den eigenen wünschen nicht überein stimmen mag.
      darüber staune ich weniger als darüber, dass ich so viele menschen „kenne“, die sich kein bisschen für poltik interessieren und wohl auch nicht wählen gehen. diese verschenkten stimmen finde ich eigentlich viel schlimmer als jegliches wahlergebnis.

      1. Ich glaub ja, dass die meisten CDU Wähler insgeheim Schisser sind. Angst vor Veränderung, Angst vor Risiko, Angst vor Ausländern, Angst vor Wertverlusten. Alles soll so bleiben wie es ist und auf keinen Fall schlimmer oder weniger werden, auf keinen Fall ganz anders. Deutschland war schon immer voll von Schissern, so lange ist das noch nicht her mit der preußischen und im Anschluss daran der nazistischen Erziehung.
        Ich hab nichts anderes erwartet, bin froh, dass wenigstens die FDP abgemeldet ist und die Nazis nicht zugelegt haben. Meinetwegen auch große Koalition, es gibt Schlimmeres. Und schließlich haben wir ja auch 16 Jahre Birne überstanden, da kriegen wir die nächsten 4 Jahre Merkel auch noch rum.

        1. Ich muss gestehen, ich habe sie nicht gewählt und würde das auch nicht machen, kann aber an der Wahl von Frau Merkel auch nichts besonders Dramatisches erkennen.

      2. Vermutlich habe ich einen ebenso homogenen Bekanntenkreis wie andere Leute auf ihre Art auch. Nur in politischer Hinsicht gibt es bei mir offenbar mehr Varianz.

    2. Das ist in der Tat bei mir nicht so angekommen, es mag aber auch am nachlässigen Lesen liegen. Ich fand es nur bemerkenswert. Ich lebe naturgemäß in meiner eigenen Filter Bubble, die ist politisch aber ganz offenkundig anders gestrickt.

  2. Es geht der Bundesrepublik – und damit auch den meisten Menschen, die hier wohnen – besser als anderen EU-Mitgliedstaaten. Die Finanz- und Europapolitik gilt als verlässlich und bewährt. Das ist wichtig, wenn man ein bißchen Vermögen hat.

    …bewährt? …naja. …sehen Griechen und Portugiesen vermutlich anders.

    1. Da diese in der Bundesrepublik nicht wahlberechtigt sind, spielt die Meinung der Griechen und Portugiesen in einem Text über die Beweggründe deutscher Wähler naturgemäß keine besondere Rolle.

      1. Deutsche Bürger erinnern sich an böse Zeiten. Wenn ich herumlese, dann habe ich den Eindruck, daß deutsche Bürger Brünings Regime wiederkommen sehen. In Griechenland, Ungarn, demnächst auch in Rumänien werden ungemütliche politische Zustände einziehen, so wie weiland in Deutschland. Und der gute, liebe Nachbar Frankreich mag Deutschland nun auch nicht mehr so dolle. Das verdankt das deutsche Volk Merkels und Schäubles Europa-Politik. Verantwortungsvolle Politik geht anders. Dabei sehe ich noch von den endlosen Rettungsaktionen ab, die bei mir den Eindruck hinterlassen, hier schöpfe die Regierung das Wasser aus dem Bauch des untergehenden Schiffes. Ein Eindruck von Kompetenz ist das nicht. Dementsprechend populär ist auch die Ablehnung von Europapolitik unter deutschen Bürgern.

        1. Das mag an meiner ganz persönlichen Blase liegen, aber ich kenne absolut keinen einzigen Menschen, der sich irgendwie Sorgen wegen der Wirtschaftspolitik macht. Ich halte das für ein Mediengespinst.

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