Archiv für den Monat: April 2014

Wenn die Geigen klingen

„Na, dann komm.“, sage ich und mache dem F. Platz auf dem grauen Sofa. Erwartungsvoll sitzt er da, zeigt auf den Rechner und dann klatscht er ein paarmal in die Hände. „Bilk! Mehr Bilk!“, schreit er. Bilk bedeutet Musik.

Jeden Abend, wenn es ruhiger wird und dunkel, sitzen wir auf dem Sofa. Jeden Abend gibt es Musik zum Hören, denn nachmittags ist es zu laut und zu hell. Nachmittags wird laut gesungen und getanzt. Der F. trötet dann in seine Kinderklarinette, haut auf seinem Xylophon herum oder drischt auf die Klaviertasten, dass alle guten Geister der Musik verängstigt auf die Schränke flüchten. Abends aber lasse ich für den F. den Vogelfänger von der irdischen Liebe singen und erzähle ihm von Prinzen, Prüfungen und Königinnen. Von wunderschönen Heldinnen, denen es leider am Ende manchmal nicht so gut ergeht. Ich lasse die Schwarzkopf vom Mai singen und die Callas die Carmen. Ich lasse keinen Kracher aus, denn wer noch nichts kennt, der kann noch nichts über haben, keinen Überdruss kennen am allzu schönen Klang und noch keine Sehnsucht nach dem Anderen, das der Kenntnis des Einen ja noch bedarf.

Noch scheitere ich mit Parsifal. Noch wendet sich der F. ab von meinen Verklärten Nächten und lässt mich allein auf dem Sofa immer neue Aufnahmen finden, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt und dass sie tatsächlich, wahrhaft nur einen Klick entfernt auf uns warten. Meist aber sitzt der F. glücklich auf meinem Schoß, wiegt sich, klatscht, streckt die Hände gen Himmel, wo, wie man weiß, die Engel am allerschönsten singen und lacht manchmal laut und selig auf, wenn die Musik so schön wird, dass wir alle lachen würden, wenn wir nicht so dumm wären, uns in unserer dreißigjährigen Abgeklärtheit zu suhlen.

Ganze Mottoabende finden statt auf dem grauen Sofa. Das Ännchen von Tharau wird besungen, und Hoch auf dem Gelben Wagen reitet der F. auf der Sofalehne und wiehert sehr eindrucksvoll halbwegs im Takt. Es wird ein Wein sein, schunkelt er hin und her, vom Tauben vergiften versteht er zum Glück nicht den Text und verlassen wird er hoffentlich nie.

Ein paar Lieder kann er bestimmt bald mitsingen. Manche Stücke wird er vermutlich niemals spielen. Zumindest nicht fehlerfrei. Manche Geschichten erzähle ich ihm gleich. Andere wird er später erfahren, und einige Geschichten sind so traurig, dass ich wünschte, sie blieben ihm erspart. Erzählen aber werde ich ihm die Geschichten, die ihn ganz besonders angehen. Vom Großvater des Großvaters, der – so berichtet der J. – ein Komponist war und vom König einen Flügel geschenkt bekommen hat. Vom Urgroßonkel P., der als Eurythmiker auf dem 70. Geburtstag des Urgroßvaters einen Tanz mit Gesang über das Alter aufführte, bei dem er live on stage einen Hexenschuss erlitt. Über den Urgroßonkel, der irgendwann kurz nach dem ersten Weltkrieg als falscher Zigeuner auf Volksfesten aufgespielt hat, bis ein echter Zigeuner ihn enttarnte.

So freue ich mich schon auf die erste Zauberflöte und den ersten Ring in ein paar Jahren, und das zweite Kinderkonzert in vier Wochen in der Komischen Oper. Tanz mit mir, fasse ich den F. an beide Hände, wirbele ihn herum, freue mich über Singen und Glucksen und haue gemeinsam mit ihn in die Tasten.

Sei glücklich, sage ich ihm, wann immer die Geigen klingen, und eine Heimat inmitten von Tönen und Klängen sollst du behalten, solange du lebst.

Wie wir fast nach Paretz kamen

In Prenzlberg ist Ostern niemand. Also niemand außer uns. Die anderen Prenzlberger besuchen nämlich entweder ihre Eltern in Tuttlingen oder Augsburg oder haben sich irgendwo in Brandenburg ein Landhaus gekauft, das sie zärtlich Datscha nennen, obwohl es sich meistens um ein ganz normales Haus, nur halt irgendwo im Nichts, handelt, wo sie im Sommer im Garten herumsitzen, das Gras betrachten und Butterblumen zählen.

Wir würden das gelegentlich auch ganz gern tun. Wir können nur leider nicht. Wir haben nämlich keine Datscha. Statt dessen wollen wir raus. Also ganz so, wie man es sich vorstellt: Vater, Mutter und Kind setzen sich Ostersonntag ins Auto und fahren ins Grüne. Nur ein Picknick nehmen wir nicht mit. Statt dessen wollen wir in Paretz essen gehen. Das haben wir uns so ausgedacht: Kurz durch die Sommerresidenz Friedrich Wilhelm III., dann ins Königliche Kutschenmuseum, falls des F. Neigung zu interessanten Fahrzeugen sich auch auf alte, unmotorisierte Fahrzeuge erstreckt. Dann Biergarten, Kinderbauernhof und wieder zurück. Laut Navigationssystem eine Stunde.

Eine Stunde später stecken wir allerdings nicht in Brandenburg, sondern irgendwo in den verhältnismäßig erschreckenden Outskirts von Berlin. Davon gibt es ziemlich viele. Kahle Vorgärten, Fertigbauten in unterschiedlichen Farben und vor jedem Haus ein Trampolin. Damit sind die Vorgärten dann auch voll. Weil die Hauskäufer sich für den Kauf ihres sogenannten Häuschens schon bis über beide Ohren verschuldet haben, hat es für einen anständigen Garten nämlich meistens nicht mehr gereicht. Deswegen stehen die Häuser so eng nebeneinander, dass man seinen Nachbarn auf geringste Distanz in die Fenster schauen kann. In diesen baumeln Dekorationsgegenstände. Kränze mit Osterglocken aus Plastik oder hasenförmige Holzobjekte, die an den Ohren aufgehängt in der Heizungsluft schaukeln.

Neben mir ächzt der J. leise vor sich hin. Immer weiter und weiter führt uns das teuflische Navigationssystem in diese Unterwelt der Eigenheimbesitzer, weil da, wo wir langfahren wollen, heute aus irgendwelchen Gründen gesperrt ist. Zu allem Überfluss ist der Weg mit künstlich aufgeworfenen Hubbeln versehen, damit die Leute langsamer fahren. „Nein, nein!“, jammert der F. bei jedem einzelnen Hubbel, und wir Idioten beruhigen ihn jedesmal und behaupten, es sei nicht so schlimm.

Es ist aber schlimm. Das stellt sich zehn Minuten später heraus, als dem F. beim Anfahren nach der ungefähr fünfzigsten Ampel übel wird. Zum Glück läuft fast nur Wasser aus seinem Mund, aber dafür Mengen über Mengen über Mengen. Nie hätte ich gedacht, dass in einen Zweijährigen dermaßen viel Flüssigkeit passt. „Nächste raus.“, sage ich zum J., der im inzwischen ziemlich leeren Nichts irgendwo hinter Potsdam nach Abzweigungen sucht und versuche, den F. gerade zu halten und streichele seine Hände. „Nein, nein!“, weint der F. und versucht, sich das viele Wasser von den Händen zu wischen.

Fünf Minuten später stehen wir auf einem Feldweg unter alten Bäumen. Vor mir steht der F. und hält sich an meinen Händen fest. Langsam, noch etwas unsicher und ziemlich nass tappt er hin und her, atmet laut ein und aus, und dann lässt er – offenkundig  wieder besser auf den Beinen – meine Hand los und läuft in den Feldweg hinein. Rechts und links begrenzen Zäune die Weide und ein paar Schritte weiter stehen schottische Hochlandrinder und schauen uns unter Unmengen langer, rotblonder Haare an. Wir schauen zurück, und allseitig wundern wir uns, dass man auch so aussehen kann. Haarig und mit elegant geschwungenen Hörnern auf der einen, nackt in buntem Stoff und sonderbar unsolide auf zwei ziemlich dünnen Beinen auf der anderen Seite. „Großes Schaf.“, durchbricht der F. die andächtig österliche Stille. „Hallo, Schaf!“, und ich lache und erkläre, zeige Euter und Hörner, spreche von Kälte und Zucht, als ein besonders prächtiger Bulle die Vorstellung kurzerhand abkürzt und laut und vernehmlich muht. Muh also. Nicht mäh. Überzeugt verstummt der F. und schaut den Rindern beim Grasen und Trinken zu. Ein paar Minuten spricht niemand. Irgendwo im Hintergrund flucht der J., weil sein Handy keinen Empfang hat und er sich langweilt.

„Gibt es heute auch noch was essen?“, unterbricht der J. irgendwann die gegenseitige Betrachtung der Rinder und Menschen. Der J. kommt nämlich vom Land und hat in diesem Leben genug Kühe gesehen. „Ist ja gut.“, gebe ich nach, und dann fahren wir weiter und geben in unseren Telephonen „Restaurant“ ein. Sacrower See, zeigt mein iPhone an. Da gibt es Wasser, da gibt es etwas zu essen und außerdem ist es ganz in der Nähe.

Am Ende sitzen wir am See. Grün, als habe es nie einen Winter gegeben, säumt der Wald in weitem Bogen das Wasser. Am Strand steht ein riesiger Schwan. Paare liegen im Gras, ein paar Kinder laufen hinter Bällen her und ein alter Mann betrachtet seine Zehen als wundere er sich, dass die noch da sind nach all der Zeit. Straff spannt sich über uns ein festtagsblauer Himmel, Spargel und Kalbsfilet gibt es auch, und blinzelnd vor Zufriedenheit, schnurrend vor Glück schließe ich einen Moment die Augen, schnuppere am Haar des F. und hebe mein Glas auf den Sommer, mit dem ich einen Pakt geschlossen habe, dieses Jahr: Auf dass sich alles fügen möge, sonnengelb und optimal und luftballonleicht dazu.

(Nach Paretz sind wir dann nicht mehr gefahren.)

Die guten Zeiten

Aufzuwachen an einem Morgen im Juni und dann in Unterwäsche durchs leere Haus. Die Terrassentür öffnen und den Hund in den Garten lassen. In der offenen Gartentür sitzen, die warmen Steine unter den Sohlen, und gerade so weit weg von der Telephondose, wie die Schnur so eben noch reichte, die N. anzurufen, den T., den J.2, und dann so lange im ganzen Haus nach Geld suchen, bis es für meinen Benzinanteil gerade langt. Um elf ans Meer im blauen, selbstbemalten VW-Bus von O., und vier Stunden später am Strand liegen, Sand zwischen den Zehen, Sand auf dem Bauch, das billigste Bier von Aldi in Westerland und mit dem J.2 über alle diejenigen lachen, die nicht wissen, was es heißt, zu leben und 18 zu sein, und einen Dreck darauf zu geben, was nächstes Jahr im Abizeugnis steht.

Nachts in irgendwelchen Häusern. Die Eltern des B. hatten ein Haus in Kampen. Die Mutter der S. eine Wohnung in Hörnum. Zu sechst in verschwitzten Schlafsäcken auf den Dielen, sich in der Frühe mit der N. zu streiten aus schierer Lust an der Aktion, an der brennenden Luft, das Haus zu verlassen, zwei Stunden später wiederzukehren mit einer Tüte warmer Semmeln in der Hand und sich dann schluchzend versöhnen, weil es sich gut anfühlte, lebendig, ganz hoch oben und ganz tief runter und nie da in der Mitte, wo wir den Tod vermuteten oder zumindest die Sphären, in denen sich Leute sich Kombis kaufen, in denen sie dann bei lebendem Leib verschimmeln und versteinern.

Inzwischen fährt die N. einen Porsche, und der J.2 ist im Volvo unterwegs. Manche Leute nennen uns Mamas und Papas und andere Chef. Wenn wir ans Meer fahren, planen wir das nicht vier Stunden vorher, sondern schreiben Urlaubsanträge, richten Abwesenheitsassistenten ein und buchen drei Monate vorher Häuser und Hotels und stimmen uns mit aller Welt ab.

Ich wünschte, mir fiele irgendetwas ein, was sich heute besser anfühlen würde als 1995. Das Essen höchstens. Aber wir aßen doch auch damals gut und machten Schulden in  Restaurants auf die guten Namen irgendwelcher Väter. Die Hotels bestimmt, aber ich habe auch damals nie schlecht geschlafen. Gut geht es mir, das ist wahr, gut geht es auch den anderen. Nie haben wir bezahlt für die vielen Abwesenheiten von der Schule, den Leichtsinn, die schlechten Noten und die frivole Arroganz Achtzehnjähriger, die glauben, die Welt sei dazu da, eine gute Zeit zu haben.

So gut wie damals.

(Oh, und im Übrigen … ich weiß, kleiner drei ist quasi nicht mehr zu stoppen. Aber der vorletzte Platz ist doch ein bisschen traurig. Fassen Sie sich ein Herz: https://thebobs.com/deutsch/category/2014/peoples-choice-for-german-2014/)

Hase komm!

„Die Eier versteckt der Hase.“, behaupte ich wider besseren Wissens und füge ein lahmes: „Und du suchst sie dann.“, an. Der F. nickt begeistert. Morgen werden in der Kita Ostereier gesucht. „Die Eier sind bunt und manchmal aus Schokolade.“, erläutere ich das bevorstehende Ritual weiter, und nun nickt der F. noch viel begeisterter. Schokolade kennt er. Schokolade findet er richtig gut.

„Huhn Eier?“, fragt er nun doch noch einmal nach. F. besitzt mehrere Bücher über das – allerdings stark idealisierte – Bauernhofleben. Da hatten die Eier immer mit den Hühnern und nie mit den Hasen zu tun. „Schon.“, sage ich deswegen und bin etwas unschlüssig, wie ich die Zusammenhänge nun richtig erkläre. Der F. jedoch wartet eine weitere, die divergierenden Ansätze einigermaßen harmonisierende Lesart gar nicht ab. „Eier Hase! Aus Euter! Aus Hase! Hase, komm!“, kreischt er ebenso begeistert wie irritierend und verschwindet in seinem Zimmer.

Ich werde das demnächst bei passender Gelegenheit irgendwie korrigieren.

Wäsche hängen

Samstag vormittag auf dem Markt am Arnswalder Platz. Ich also mit dem F. an der Hand bei Godshot, der glücklicherweise nichts mit martialischen überirdischen Wesen zu tun hat, sondern schlicht Kaffee verkauft. Ziemlich guten Kaffee, um genau zu sein. Also eigentlich ein Mann mit einer Kaffeemaschine auf einem kleinen, fahrbaren Wagen.

Vor mir sind noch drei, vier andere Leute. Direkt vor mir stehen zwei Frauen, vielleicht vierzigjährig mit Schöffel-Jacken, soliden Hosen, Einkaufskörben und kinnlangen  Haaren. So die Sorte, die ab und zu einen Lippenstift verwendet in einer Farbe, bei der nicht auffällt, dass sie Lippenstift trägt, so dass es bei näherer Betrachtung eigentlich sinnlos und blödsinnig erscheint, dass sie sich überhaupt die Mühe macht. Das ist aber auch das einzig Sinnlose, dass diese Frau tut, denn ansonsten ist sie bestimmt – das sind solche Frauen immer – irrsinnig praktisch veranlagt und unglaublich patent.

Die eine Frau redet auf die andere, die ihre Freundin oder Schwester sein könnte, unablässig ein. „Wäsche“ höre ich. „Wäsche hängen“, und weil es mir bemerkenswert surreal erscheint, sich ernsthaft übers Wäschehängen zu unterhalten, schiebe ich mein iPhone wieder in die Tasche und höre hin. Ein paar Meter entfernt jagt der F. inzwischen seine Kitafreundin J. um den Käsestand. Beide johlen.

Immer noch spricht die Frau über ihre Wäsche und ereifert sich in schrillen, langgezogenen Tönen. Die Wäsche sei empfindlich, höre ich, und nehme Schaden, wenn die Fase schief trockne. Vor dem Trocknen, bohrt sie einen knochigen rechten Zeigefinger in die Luft, müsste die Wäsche deswegen stets in Form gezogen werden, und das mache er einfach nicht.

Er – sie spricht, wie ich vernehme von ihrem Mann – hänge die Wäsche immer schief und krumm auf. Schief und krumm, wiederholt sie, und ihre Freundin nickt in einer komischen Mischung aus Zustimmung und Beschwichtigung und schaut sich ein wenig geniert um. Ich sehe möglichst neutral ins Nichts.

Er verderbe ihr die ganze Wäsche, kommt die Frau wieder auf das Thema zurück. Bisweilen hänge er die Wäsche sogar übereinander. Die Kinder und sie hätten in absehbarer Zeit nichts mehr anzuziehen, wenn er nicht endlich dazu überginge, die Wäsche ordentlich zu hängen, oder sie selbst klein beigebe und die Wäsche – und darum ginge es ihm ja – selbst versorge.

Ich schaue an der Frau vorbei den Kaffeesieder an. Der tut so, als würde er nichts bemerken von der Entrüstung vor seiner Kaffeemaschine und schüttet konzentriert ein wenig Milch in einen kleinen Krug. „Einen Cappuccino.“, bestellt die Frau mit Wäscheproblem, und ich verkneife mir jede Regung und suche in meiner Tasche nach den zwei Euro fünfzig für meinen Kaffee.

 

 

Ruhm und Ehre

„Was gibt’s denn da zu gewinnen?“, fragt der J., und ich erzähle was von Ruhm und Ehre. Der J. grunzt. Ruhm und Ehre sind gut. „Wo kann ich denn da …?“, klickt er ein bisschen durchs Internet.

„Warte, sage ich. Ich setz ’nen Link“

https://thebobs.com/deutsch/category/2014/peoples-choice-for-german-2014/

(Wenn auch Sie so freundlich …? Die Konkurrenz ist aber hart. Kleiner drei. Auch sehr super. Dieses Schulblog lese ich auch gelegentlich, um mich schon mal vorzugruseln für  2018, wenn der F. zur Schule kommt.)