Die Stürme des 20. Jahrhunderts tobten bedauerlicherweise bevorzugt – zumindest mein Großvater sah das so – am Esstisch meiner Großeltern. Hier fochten in den Augen meines Großvaters hartnäckige Faulpelze gegen reine Maulhelden. Pseudomarxistische Krawalltouristen schrieen vorlaute Mannweiber nieder. Geistersehende Esoterikerinnen brachen ab und zu in Tränen aus. Unbewegt wie ein zunehmend tauber Fels in der Brandung saß inmitten seiner Nachkommenschaft mein Großvater am Kopf der Tafel und aß ungerührt jeden Sonntag Suppe, Vorspeise, Braten und Dessert. Nach dem Essen mussten die Großkinder etwas vorsingen, aufsagen oder vorspielen, man ging spazieren, und schließlich durften alle wieder heim. Auf dem Heimweg beruhigten sich die Kontrahenten dann Sonntag für Sonntag wieder soweit, dass am nächsten Sonntag wieder alles von vorne losgehen konnte.
Alltägliche Themen verhandelte man an und für sich nicht. Ich habe nie gehört, dass es mal um Käse ging. Oder um die besten Strände von allen. Ich dagegen habe allein in den letzten Jahren schon stundenlang über Käse gesprochen. Meine Onkel und Tanten aber gaben sich mit so etwas nicht ab. Käse erschien ihnen lächerlich. Unter den Toten von Stammheim, der Gleichstellung der Frau oder der Zentralität von Erwerbsarbeit entwickelte eigentlich keiner der Sonntagsgäste irgendwelches Engagement, und dann begann sofort alles gleichzeitig, wenn auch inhaltlich konträr, zu brüllen. Ich fand die Sonntage der Achtziger deswegen eigentlich insgesamt schon eher doof.
Im Nachhinein betrachtet sah mein Großvater das vermutlich ähnlich. Ob er irgendwann resigniert hatte, oder ob er einfach jeden Sonntag hoffte, es werde bald besser: Mein Großvater lud trotzdem jede Woche ein, oder besser gesagt: Er tat nichts gegen die allgemeine Ansicht, man schulde ihm dieses wöchentliche Erscheinen. Dass er tatsächlich unter dem Krieg an seiner Tafel litt, entnehme ich im Wesentlichen seiner Vision der spezialisierten Sterne.
Mein Großvater erwartete nämlich – als echtes Kind des Fortschrittsglaubens eines liberalen Zeitalters – die Besiedelung fremder Planeten praktisch morgen. In seinen Augen war alles eine Frage des Geldes, und schon der Ehrgeiz der westlichen Welt, nicht hinter den Russen zurückzufallen, würde noch in diesem Jahrzehnt (er meinte die Achtziger) den ersten Menschen auf den Mars bringen. Er sprach auch gern über die Mobilität der Zukunft und überhaupt eine Fortentwicklung des Menschen, der in gründlich optimierter Form in aeternam fortbestehen und sich viele Erden untertan machen werde.
Bei der Gestaltung dieser Welten sah mein Großvater große Möglichkeiten. So hielt er es beispielsweise für denkbar, Welten ohne die Stechmücke zu entwerfen. Oder eine Welt, auf der keine alkoholische Gärung stattfindet. Da würden sich entsprechend auch nur Abstinenzler ansiedeln, die miteinander Pfirsich-Maracuja-Tee trinken. Auf einer anderen Welt dagegen würde Tag für Tag ein Fass angestochen, und immerzu sei Blasmusik zu hören, was dafür im Rest des Universums verpönt sei.
Doch nicht nur Differenzen in Geschmacksfragen, auch solche in politisch-weltanschaulichen Fragen wollte mein Großvater durch diese maximale räumliche Entzerrung lösen. So würden die alten Nazis einen Planeten bewohnen, auf dem es ausschließlich andere Nazis gebe. Die könnten sich dann abwechselnd gegenseitig einsperren und schikanieren. Einen Extraplaneten wollte er der Linken zuweisen, die dann flugs in eine Vielzahl von Flügeln zerfiele, und deren Mitglieder deswegen eigentlich auch keine anderen Leute brauchten. Und einen ganz eigenen Stern, völlig ohne rechte Winkel, hatte er den Anthroposophen zugedacht. Der Planet sollte – natürlich – „Steiner“ heißen. Oder auch Waldorfwelt.
Vorerst wurde aus der Vision meines Großvaters nichts. Sogar auf seiner Beerdigung brach das schiere Chaos aus, als mein Onkel P. und mein Onkel T. sich aus politischen Gründen in die Haare gerieten. Aber manchmal, wenn ich so durch Berlin fahre, und in ganz Neukölln alle gleich aussehen, oder auf mancher Party, auf der alle dasselbe über Vegetarismus, Nahost oder Fernreisen mit Säuglingen denken, oder angesichts einer ganzen Busladung beigefarbener Rentner, dann denke ich doch: Mein Großvater hat es geschafft. So viele Planeten.
*gerne gelesen*
Danke.
wunderbar geschrieben. den großvater möchte ich gerne kennenlernen. vielleicht lebt ein ähnlicher irgendwo.
Leider, er ist 1986 gestorben.
Man kann auch versuchen, selber so ein Großvater zu werden. Hier und heute. Auch ohne Großkinder.
Ich hoffe, an meiner Tafel sitzt zeitlebens nur, wer aus vollem Herzen und nicht aus Pflichtgefühl kommt.
Großartiger Text! Um die Sonntage beneide ich seine Nachfahren nicht, obwohl man natürlich schon dabei das Argumentieren lernen konnte, sehr nützlich im Erwachsenenleben.
Solche Patriarchen müssten eigentlich im Alter milde werden und nicht polarisieren. Das Schlichten unter den Kindern musste bestimmt die arme Großmutter übernehmen.
Seine Visionen klingen ganz schön crazy, zumindest denkwürdig und interessant. „Geistersehende Esoterikerinnen“ und Planet „Steiner“ finde ich spitze.
Ja, in der Rückschau finde ich seine Ideen eigentlich auch eher frühlich-verrückt und ein bisschen kauzig. Damals erschien er mir unendlich erwachsen, überaus seriös, das verkörperte Establishment.
Schnüff! Und so sehr schön.
http://tinyurl.com/marsbesiedelung