Oh holde Kunst

Die erste Inszenierung von „Moses und Aron“ 1957 soll erboste Zuschauer dazu bewogen haben, dass Auto des Dirigenten zu demolieren. „Diri, wir wissen, wo dein Auto steht.“, scheint auch der J. in seinen Bart zu murmeln, als Moses auf der Bühne der Komischen Oper auftaucht und beginnt, zu singen. „Du weisst doch, dass ich Schönberg hasse.“, zischt er mir zu. Selber schuld, denke ich und sage etwas, in dem die Worte „doch darüber gesprochen“, und „hörst mir wirklich niemals zu“ auftauchen. Dazu funkeln wir beide böse mit den Augen, weil wir zwar wissen, dass man niemals ad personam kritisieren soll, Streitigkeiten unter Einhaltung dieses Grundsatzes aber langweilig finden.

In den nächsten zwei Stunden höre ich den J. gedämpft stöhnen und ächzen. Auf der Bühne wogt ein riesiger Chor hin und her und füllt mit seinem Gesang den Innenraum der Oper, in dem ich sitze wie in einem großen, tonumbrausten, weiß und goldverschnörkelten Ei. Klar und gläsern zeichnet das Orchester Schönbergs Opus Magnum nach, und die Inszenierung Barrie Koskys schafft es dieses eine Mal, jede Albernheit zu vermeiden und mich mitzunehmen, als das Volk Israel sich von Moses Gesetzestreue abwendet und im Budenzauber Arons erst lüstern schwelgt, um sich dann in Gewalt, Pogrom und einem Berg von Leichen zu verlieren. „Das sind die schlimmsten Stunden meines Lebens.“, motzt der J. von Zeit zu Zeit gut hörbar neben mir, und eine Frau mit strenger Brille, tiefen Furchen auf der Stirn und Blumenbluse schaut ihn verächtlich an. Sehnsuchtsvoll schielt der J. die verschlossenen Türen an, aber angesichts unserer Mittelplätze ist an ein vorzeitiges Entweichen nicht zu denken, und als am Ende der nicht einmal zwei Stunden ein Beifallssturm anhebt, bleibt der J. mit zusammengekniffenen Lippen einfach unbeweglich neben mir sitzen und verschränkt die Arme.

„Sei jetzt einfach still.“, herrscht er mich auf der Behrensstraße an, und dann laufen wir die Friedrichstraße entlang, stehen kurz vor den dunklen Fenstern der verblichenen King Size Bar und wandern dann langsam die Auguststraße Richtung Rosenthaler Platz. Inzwischen ist der J. schon wieder etwas besser gelaunt, nur alle paar Minuten unterbricht er das Gespräch über Bars, die es entlang unseres Fußwegs früher einmal gab, um wütende Invektiven über den Erfinder der Zwölftonmusik auszustoßen. Dann läuft er einfach weiter.

Gegenüber von Clärchens Ballhaus hat der J. sich halbwegs beruhigt. Dann sitzen wir also da. Durchs Fenster der Tapas Bar schauen wir auf das verschlossene Fenster von Eigen + Art, trinken Java und Rosato, sprechen über ganz besonders tolle Nächte in Mitte, als solche Nächte noch in Mitte und noch mit uns stattfanden. Gespräche über Schönberg vermeiden wir. Dann fahren wir nach Hause.

Vor der Tür bricht der J. noch einmal aus. Auf ein allerletztes Bier im allerletzten offenen Laden. Ich war schon gestern aus, ich mag lieber heim. Zwei Stunden später erst wird er nach Hause kommen, in keinem guten Zustand, wenn man das mal zu sagen darf, und nach dem vergeblichen Versuch, der Dodekaphonie mit alkoholischen Mitteln beizukommen. „Daran ist nur der verdammte Schönberg schuld.“, ächzt der J. am nächsten Morgen, zieht sich die Decke über den Kopf und wehrt alle Versuche ab, ihn aus dem Bett zu ziehen.

„Ich spiel dir was vor! Dann stehst du auf.“, trumpft gegen zehn der F. auf und schwenkt seine Kindergitarre. Sotto voce und überaus laut brüllt er los. Es könnte sich um „Alle meine Entchen“ handeln. Oder um die „Ode an die Freude“, oder das Lied, mit dem seine Petterson und Findus-CDs beginnen.

„Schönberg.“, stöhnt der J. und rutscht im Bett noch etwas tiefer.

5 Gedanken zu „Oh holde Kunst

  1. Kann es dem J. durchaus nachfühlen. Ich wurde mal von meiner Jugendliebe zum Besuch eines Klavierabends mit Stücken u.a. von Aribert Reimann (hier ein Hörbeispiel) genötigt. Da durchlitt ich auch so manchen whisky-tango-foxtrott-Moment, wie man das heutzutage nennen würde.

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