Fremde Leute

Manchmal – nicht allzu oft – sitze ich einfach so da und mache gar nichts. Weil sich jemand verspätet, wie neulich in dem neuen Restaurant von Tim Raue im Wedding. Oder weil ich auf den Check In warte oder auf einen Zug. Oder weil es sich auf einmal zwischen zwei Terminen nicht lohnt, nach Hause zu fahren, und ich mich für eine halbe Stunde in ein Straßencafé setze. Da sitze ich dann und bestelle mir Tee. Lehne mich zurück, und im besten Fall malt mir die Sonne durch lauter junge, flirrende Blätter helle Sprenkel ins Gesicht. Dann beobachte ich die Passanten.

Sehr junge und sehr alte Leute sind oft nicht so spannend. Wer zwei ist oder 95 sieht oft nicht so besonders eigen aus. Bei Kindern und Greisen überdeckt das Altersspezifische meist das Individuelle, und weil bei solchen Passanten selbst die Kleidung, die Frisur oder das Gepäck vermutlich von anderen Leuten ausgesucht worden ist, schaue ich meistens nur flüchtig. Ganz selten fällt mir ein schöner, ganz durchgebildeter, filigraner Kopf auf bei einer alten Frau oder ein vollkommen schönes Kind. Sonderbar, denke ich bisweilen, ist es allerdings, wie die Geschlechter am Beginn und am Ende des Lebens ineinanderfließen, ununterscheidbar werden, und ich frage mich manchmal, ob die steinalten Frauen von 90 es manchmal traurig finden, dass das Weibliche sich in den letzten Jahrzehnten irgendwie verflüchtigt.

Langsam, Jahr für Jahr ein wenig mehr, entfremden sich mir Schulkinder und nach und nach auch Studenten. Die glatte Pausbackigkeit wird mir fremd. Die starken Farben, die ganz und gar ungegerbte Haut, die Fleckenlosigkeit und die jungen Stimmen. Manchmal zucke ich zusammen, wenn so ein ganz und gar hübscher Mensch dann grobe, dumme Dinge sagt oder laut und polternd lacht. Gelegentlich tut mir so ein Mädchen leid, das sich sichtbar für ein wenig hässlich hält, und dabei sieht man schon die feinen Knochen, das gleichmäßige, feine Gesicht und die langen, weißen Hände. Hoffentlich, denke ich gelegentlich, gibt es jemanden, der ihr sagt, was sie tragen sollte, und dass sie schön ist, egal, was die anderen sagen.

Gern denke ich mir Namen für die Passanten aus. Nenne einen jungen, rothaarigen, sehr englischen Epheben erst Alfred, nein, besser Edward, Theodore vielleicht, und bin für eine Sekunde fast verblüfft, wenn seine Freunde ihn dann Albin rufen. Albin, mit Ruth an der Hand, eine feenhafte Erscheinung in weiß und gold, der ich Belle zugedacht hatte. Ein älterer Mann, beulige Hose und ein schlaffer Rucksack auf dem Rücken, soll Werner heißen. Die Frau in der indischen Tunika mit flachen Sandalen und Lapislazulischmuck zu wallendem, grauen Haar nenne ich Helga. Oder Marianne.

Ob Marianne wohl einen Mann hat? Ist er ganz der bürgerliche Ernährer, der seine späthippieske Frau als Zahnarzt in Steglitz ernährt? Oder betreibt das Paar ein Reformhaus in Lichterfelde West und schreibt nebenbei Bücher über die Kunst der Meditation? Gibt es Kinder? Einen fröhlichen, starken Kindergärtner vielleicht, eine Tochter, die einen Fahrradladen in Portland betreibt, oder rächt sich der Sohn trotz bester Anlagen vielleicht als Unternehmensberater in Frankfurt an seinen Eltern?

Nur sehr selten möchte ich mich mit den Fremden unterhalten. Was würden mir die fremden Leute auch schon erzählen, was ich nicht selbst viel besser, farbiger, origineller und ohne die lästigen Schranken von Diskretion wüsste. Ich allein weiß doch am besten, dass Katja mit dem brauen Pagenkopf aus Mannheim kommt und gerade beim Burgerladen am Schlesischen Tor vergeblich auf ihren Liebhaber wartet, der just heute erfahren hat, dass er Vater wird und nun zwei Jahre versuchen wird, den braven Familienvater zu simulieren. Und dass dort drüben in der Schlange beim Bäcker Emine mit dem langen Trenchcoat und dem blauen Kopftuch in diesem Moment beschließt, ihre Ausbildung zur MTA abzubrechen, und statt dessen auf einem Bauernhof in der Uckermark Puten zu züchten. Ich sehe den hübschen Kellner des Nachts seiner Freundin in Friedrichshain auflauern und ihr sehr, sehr hässliche Dinge sagen, und weiß, dass Margot, dort hinten drei Tische weiter mit der schwarzen Prada Clutch vor einigen Jahren ihre Schwiegermutter mit reinem Koffein getötet hat. Das Perlenhalsband um Margots faltigen Hals gehört zum Erbe.

Manchmal bemerkt ein Fremder den Blick und wendet den Kopf ab. Oder schaut mich herausfordernd an. Sehr selten lächelt jemand, missverstehend, ich wünschte Kontakt. Noch seltener bemerke ich selbst, wie jemand mich auf ähnliche Weise betrachtet, und frage mich, was er mir gerade zudenkt. Welche Namen, welchen Beruf, welche Männer, welches Leben, und welches Ende dazu.

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