Ich habe gehört, sie habe ihn überall gesucht. Sie hatte erst seinen Bruder angerufen, dann seine Mutter, auch wenn die sie nicht besonders mochte und nur des Babys wegen akzeptierte, das in ein paar Wochen kommen würde. Sie rief sogar seinen besten Freund D. an, der ihn auch nicht gesehen hatte, angeblich, und als sie im Büro anrief und bei seiner Sekretärin landete, wusste die, wie sie behauptete, auch nichts. Da saß sie also in einer Dreizimmerwohnung in Moabit, konnte sich kaum mehr bewegen vor lauter Bauch und hatte drei Tage lang Angst. Am dritten Tag kam er wieder.
Am ersten Tag, am zweiten noch vielleicht, hätte sie ihm eine Szene gemacht. Vielleicht hätte sie geweint, geschrien, ihn gefragt, wo er war, aber am dritten Tag war sie so froh, dass er da war, dass er zur Geburt mitkommen würde, dass sie mit dem Kind nicht allein sein würde, dass er die Miete und den Löwenanteil der Ausgaben tragen würde, weil sie nur 800 EUR Elterngeld bekam wegen ihres lausigen Jobs, dass sie einfach erleichtert war, ihm einen Kaffee kochte und zu Bett ging. Sie hatte tagelang nicht geschlafen, und jetzt war sie erschöpft. Eine Woche später war das Kind da.
Er war ein guter Vater. Er stand nachts mit auf, er kaufte ein, kochte, erledigte seinen Teil der Hausarbeit, spielte mit der kleinen Tochter und wurde zweimal befördert. Heute ist die Tochter sechs. Doch wenn im September eingeschult wird, werden sie wohl nicht gemeinsam kommen, denn er scheint ausgezogen zu sein, auch wenn seine Sachen noch da sind, die Bücher, die CDs, nur ein paar Kleider fehlen, und das Notebook. Und sein alter, abgeschabter Bär.
Sie hatte, als er zum erstmal verschwand, noch alle angerufen, aber sie hatten ihr nicht mehr gesagt als damals. Vielleicht ist es die Sekretärin, denkt sie manchmal, denn die schmettert immer etwas zu fröhlich, dass sie auch nicht wisse, wo er steckt. Vielleicht ist sie aber auch nur unsicher und fühlt sich mit den Verleugnungen nicht wohl. Am Samstag taucht er meistens auf, holt die Tochter und zischt, wenn sie noch reden will, dass das jetzt schlecht sei vor dem Kind. Meistens kommt er mit der Tochter erst am Sonntag wieder. Er scheint eine neue Wohnung zu haben, aber auch die Tochter sagt ihr wenig oder nichts.
Das gemeinsame Konto scheint es nicht mehr zu geben. Sein Gehalt landet jedenfalls nicht mehr auf dem Konto, dessen Karte in ihrem Portemonnaie steckt. Sie hatte ein paar schlimme Nächte deswegen, aber als sie ihn fragte, kam eine der wenigen Antworten zurück. Er zahle natürlich weiterhin die Miete. Auf dem Konto landen nun monatlich 600 EUR.
Von 600 EUR kann sie nicht leben. Ich weiß nicht, wie ihre Aussichten sind, wieder arbeiten zu gehen. Sie wollte, meine ich mich zu erinnern, Kinderbücher illustrieren, aber daraus scheint nichts geworden zu sein. Vorerst spart sie eisern, gönnt sich nichts, liegt lange wach, hat einen Termin mit einer Anwältin, die ihr Fragen stellt, die sie nicht beantworten kann, und weiß nicht mehr, wie sie sagt, ob sie sich ihn zurückwünschen soll oder sich wünschen soll, sie hätte ihn niemals getroffen.
Es ist tragisch, aber Liebe lässt sich nun mal nicht erzwingen, schon gar nicht durch ein gemeinsames Kind. The same old story.
Dennoch sollte man doch in der Lage sein, das zu kommunizieren – und zwar nicht durch bloße Abwesenheit? Fehlende Zuneigung ist das eine, der Umgang damit das andere. Das hier gezeigte Verhalten zeugt von Respektlosigkeit und ist, schlicht, grausam.
Dieses schlichte Sich-Entziehen ist in der Tat böse. Den Mut, sich zu erklären, sollte man wohl haben.
Ihre Anwältin wird sie sicher gut beraten und ihr dabei helfen, Unterhalt für ihre Tochter zu verlangen, je mehr desto besser. Aber wie sie selbst auf die Füße kommen soll und als großes Mädchen selbst für ihren Unterhalt sorgen muss, wird sie wohl selbst herausfinden müssen.
Ich verstehe nicht, wie Frauen sich fast zehn Jahre nach der großen Unterhaltsreform noch auf Hausfrauenmodelle oder Zverdienstmodelle einlassen können. Ich glaube, es ist immer noch nicht bekannt, dass es nach einer Scheidung ohne ganz kleine Kinder faktisch keinen Unterhalt mehr gibt.
ich vermute, das ist gezieltes wegschauen nach dem motto „so was wird mir ja nicht passieren, wir lieben uns doch“.
selbst wenn er Schwerstverdiener ist, wird der Kindsunterhalt deutlich weniger sein als die 600€ Miete
😛
Die Engländer haben sogar schon eine Bezeichnung für dieses wortlose Verschwinden: Ghosting
unglaublich