Als der F. und ich von den alten Ägyptern im Neuen Museum kommen, steht sie an der Bahn. Sie ist nicht älter als 20, hat ein kleines Kind auf den Rücken gebunden und bettelt die Passanten um Geld an. Sie ist hübsch, schwarze Haare, dunkler Teint, und einen langen, bunten Rock.
Aus dem F. an meiner Hand sprudelt alles heraus, was er über die alten Ägypter denkt. Über ihre Mumien, ihre Katzen, ihre Götter, ihre falschen Bärte, und er spekuliert nach Herzenslust, was wohl ein Ägypter denken würde, wenn er hier mit ihm an der Berliner Museumsinsel stünde. Vor lauter Begeisterung springt er vom einen Bein auf das andere, und dann verlangt er ein bisschen Geld. Für die Bettlerin.
Wir haben dem F. erzählt, dass man jedem Bettler etwas geben muss. Dass zwar in Deutschland eigentlich jeder vom Staat etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf bekommt, aber es Leute gibt, die aus irgendwelchen Gründen trotzdem auf Spenden angewiesen sind, und selbst wenn neun das Geld nicht wirklich bräuchten, man den zehnten, wirklich bedürftigen Bettler nicht ohne Gabe ziehen lassen darf. Solange man diesen aber nicht wirklich erkennt, muss man eben allen etwas geben.
Eine andere Mutter einen Schritt entfernt scheint das anders zu sehen. „Geh nicht hin zu de Zejeunerin, Shelley.“, warnt sie laut hörbar ihre auch ungefähr vierjährige Tochter. Laut hörbar erklärt die Frau, die „Zejeuner“ würden alle stehlen. Ich drehe mich zu ihr um. Sie ist jünger als ich, mit dunklem Ansatz unter den strohigen, hellblonden Haaren und einer rosa Kapuzenjacke. Ihre Beine stecken in weißen, dünnen halb langen Hosen. Ihr Knöchel ist tätowiert. Sie könnte Kassiererin im Supermarkt sein, stelle ich mir vor. Oder sie macht irgendwo sauber.
„Seien sie doch bitte wenigstens so höflich, nicht vor der armen Frau so zu hetzen.“, platzt es aus mir heraus. Die fremde Frau glotzt mich an und öffnet ein paarmal wortlos den Mund. Unsagbar dumm sieht das aus, und ich bemühe mich ziemlich fruchtlos, sie für diese sichtbare Dummheit und ihren dumpfen Rassismus nicht zu verachten. Vielleicht hat auch diese Frau kein schönes Leben, wenn sie es nötig hat, über andere Leute in deren Hörweite herzuziehen, und deswegen lächele ich so freundlich wie ich kann, und sage ihr, dass ich es an Stelle der Bettlerin verletzend finden würde, so etwas zu hören.
„Geh doch dahin, wo du hinjehörst.“, stößt sie schließlich hervor, und diesmal meint sie mich. Ich habe asiatische Vorfahren, das sieht man, aber wenn ich irgendwo hingehöre, dann in den Prenzlauer Berg, den Leute wie ich seit 20 Jahren prägen. Kurz überlege ich, die fremde Frau zu fotografieren, und einfach Anzeige wegen Beleidigung zu erstatten. Statt dessen sage ich ihr nur, wie hässlich ich ihren Rassismus finde.
Dann aber kommt mein Bus. Ich fahre heim in den sonnigen, hellen Prenzlauer Berg mit seinen Cafés, Kinderbuchhandlungen und seinen gut gekleideten Frauen, in dem kleine Mädchen niemals Shelley heißen. An meiner Hand tanzt der F. an den Caféhaustischen vorbei nach Hause, und ich denke darüber nach, ob ich über die tätowierte Rassistin wirklich so anders denke als diese über die arme Bettlerin, und ob die Mutter von Shelley auch so hässlich über andere denken würde, wenn nicht Leute, die mir vielleicht gar nicht unähnlich sind, auch auf sie herabsehen würden, und die Aussichten ihrer Shelley auf ein schönes Leben so gut wären wie die des F.
Es ist nicht einfach und auf Dauer anstrengend sich immer wieder mit den eigenen unschönen Seiten auseinander zusetzen.
Aber wir haben die alle. Das ist unser menschliches Schicksal.
Ja, aber wir dürfen sie nicht einfach akzeptieren. Da das dem Wunsch zuwiderläuft, mit sich Frieden zu schließen, ist das keine einfache Sache.
Es ist schon seltsam wie richtig sich manchmal das Falsche, und wie falsch die das Richtige anfühlt.
Vielleicht ist Shellys Mutter gar nicht so weit vom Bettlerniveau der anderen Mutter entfernt…
Vielleicht, und sicher wäre es einfacher, ihr freundlich zu begegnen, wenn sie nicht so aggressiv aufgetreten wäre. Ich verstehe aber auch, dass sie eine demütige Opferrolle verweigert, auch das ist ja ein Stolz, den ich nachvollziehen kann.
Vielleicht ist Shellys Mutter gar nicht so weit vom Bettlerniveau der anderen Mutter entfernt …
Das mag sein, ist aber keine Entschuldigung für deren Verhalten.
Zugegeben, ich lese nicht sehr viele Blogs über Kindererziehung, aber dieser Beitrag ist für mich der erste, in dem über den dem Kind vermittelten Umgang mit BettlerInnen geschrieben wird. Finde ich interessant. Mir ist aber nicht ganz klar, wie Sie das machen: Haben Sie immer größere Mengen Kleingeld in der Tasche? Man trifft ja doch sehr viele.
(In Wien dürfen BettlerInnen vor den Supermärkten stehen oder sitzen. Wir haben es bis jetzt so gemacht, dass diese eine Person bei jedem Einkauf etwas bekommt. Das war mindestens zwei-, dreimal pro Woche der Fall und ist für unseren Sohn auch ganz selbstverständlich. Aber da gehen natürliche sehr viele bedürftige Leute leer aus.)
Ja, ich habe tatsächlich meistens Kleingeld. Ich treffe aber gar nicht so arg viele Bettler, vielleicht zwei, drei am Tag. Das ist nicht mehr als ein Euro am Tag. Ab und zu kaufe ich Bettlern auch ein Eis, gerade den Sinti- und Romafrauen, von denen ich annehme, dass sie nicht viel von dem Geld haben, das ich gebe.
Der Beschreibung und dem Ort nach gehörte die Frau wahrscheinlich zu diesen organisierten Gruppen, die alle ähnlich gekleidet und frisiert sind, Kinder dabei haben (von denen nicht klar sind, ob sie wirklich deren Kinder sind und warum sie so still halten…) und jeden mit „Speak English? Deutsch?“ anhauen? Die sind soweit ich weiß tatsächlich so ne Art Bande oder Drückerkolonne. Also möglicherweise wird man da bestohlen, während man was gibt. Oder sie müssen die ganze Kohle direkt an die Bosse abdrücken, die sich ne goldene Nase verdienen und leben selbst in ärmlichsten Verhältnissen. Wie man da sinnvoll helfen kann, weiß ich leider auch nicht – vielleicht was zu essen geben? Wenn man jeden Tag an ihnen vorbei geht, wird man irgendwann ungeduldig und geht einfach weiter oder verleugnet seine Sprachkenntnisse…
Ich bin noch nie von Bettlern bestohlen worden. Ich vermute aber auch, dass diese Bettlerinnen und Bettler nicht viel von dem Geld behalten. Ich gebe deswegen manchmal ein Eis aus oder kaufe eine Butterbrezel, die eigentlich immer sehr gern genommen wird.
Wir bringen unseren Kindern bei, dass man Straßenmusikern am besten immer Geld gibt – weil den Kindern fast immer die Musik gefällt und ich möchte, dass sie dies wertschätzen. Beim Umgang mit Bettlern bin ich unschlüssig, ehrlich gesagt habe ich bislang eher eine Vermeidungsstrategie, um den Kindern den Anblick zu ersparen und mich auch nicht selbst mit dem Leid auseinandersetzen zu müssen: Ich spüre, dass das nicht richtig sein kann und danke dir sehr für deinen Beitrag!
Ja, Musiker mag auch der F. Es ist mir aber auch wichtig, dass der F. erfährt, dass es Armut gibt, dass es Ungerechtigkeit gibt, und dass es nicht sein Verdienst ist, als Kind gut verdienender Akademiker geboren zu sein. Wir sprechen mit ihm viel über Dinge oder Menschen, die wir sehen. Er ist aber auch ein aufmerksamer Kerl, der viel fragt und ein großes Herz für Menschen hat, denen es schlecht geht, ob sie sich nun die Knie aufgeschlagen haben, oder vor einem Krieg weggelaufen sind. Ich glaube, dass das wichtig ist, aber es ist gleichzeitig natürlich auch sehr, sehr mühsam.
Ich war gespannt auf das Fazit, und froh, dass es ein selbstkritisches war. (Alles andere hätte mich hier allerdings auch überrascht.)
🙂