Schau dich nicht um

Schau dich nicht um, sagt der Engel zu Lots Weib, denn wer sich umschaut, ist verdammt dazu, den Rest aller Tage seine Trümmer anzuschauen, und darauf zu warten, dass die Säulen sich erneut aus dem Staub erheben und aus den Splittern Dächer wachsen. Jeden Tag wartest du vergebens.

Ich habe im letzten Jahr so viele Gewissheiten verloren. Ich dachte immer, am Ende gehe doch alles gut aus, aber inzwischen habe ich morgens Angst, Spiegel Online zu öffnen und fürchte mich vor Wahlen. Inzwischen halte ich alles für möglich. Die Atempause, das Goldene Zeitalter, unsere Pax Augusta, geht ihrem Ende zu.

Ich habe im letzten Jahr an drei Gräbern gestanden. Tote Sänger interessieren mich nicht, aber ich habe Angst vor den Verlusten, die in den nächsten Jahren anstehen. Ich bin 40, die Elterngeneration wird alt und die Gleichaltrigen sind nicht mehr so gesund wie früher. Gebe Gott, dass es nie eins der Kinder trifft, aber vor mir liegen wahrscheinlich mehr Beerdigungen als Hochzeiten. Mein Leben und das meiner Freunde hat in den allermeisten Fällen vermutlich seine Endausbaustufe erreicht. Für romantische Komödien sind wir zu alt. Unsere Erfolge sind eingetreten oder kommen nicht mehr. Die meisten Überraschungen werden unangenehm ausfallen.

Ich erwarte in den nächsten zwölf Monaten wenig. Ich hoffe, Europa bekommt die Kurve. Ich hoffe, die, die ich liebe, bleiben gesund bei mir. Ich hoffe, ich gehe morgens gern zur Arbeit. Ich wünsche mir Wärme, Freundschaft. Liebe. Gutes Essen. Musik. Ich will nicht nach hinten schauen. Ich will nicht erstarren.

12 Gedanken zu „Schau dich nicht um

  1. Ich versuche seit Tagen meine Gedanken in Worte zu fassen, aber ich schaffe es nicht, den richtigen Ton zu finden. Du triffst ihn dahingegen perfekt. Vielen Dank dafür, ich hoffe, Dein 2017 wird trotz allem glücklich- vielleicht nicht im Großen und Ganzen, aber im Kleinen.

  2. Ich muss gerade ein kleines bisschen weinen, wenn ich das lese. Ich kenn dich nicht, aber ich wünsch dir, dass die Wünsche aus dem letzten Absatz in Erfüllung gehen.

  3. Liebe Modeste, ich freue mich immer wieder über Deine Posts – ich mag Deine Art zu beobachten und zu schreiben sehr. Aber: ich finde es schade, dass sich momentan alle aufs Schwarzsehen verlegt haben. Jawohl, es gab ein bisschen viel schlechte Nachrichten dieses Jahr. Nur: war es vor zwanzig, vor fünfzig, vor hundert Jahren wirklich besser? Ich bin auch (fast) vierzig, und ich erinnere mich an mein Entsetzen beim Ausbruch des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien, an meine Kindheit in der DDR, an die Geschichten meiner Großeltern… Kommt es nicht gerade jetzt darauf an, menschlich zu bleiben, die Hoffnungszeichen nicht zu übersehen, das Beste aus dem zu machen, was nun mal so ist… Nicht zu verallgemeinern, sondern die Menschen mit ihren Schwächen und Fehlern und Irrtümern lieben lernen…Ich bin entsetzt über die vielen rassistischen und populistischen Äußerungen auch in meinem Umfeld, aber ich habe trotzdem das Gefühl, es bricht etwas auf, die Leute reden, und glücklicherweise gibt es auch viele, die bewusst Zeichen für Demokratie und Menschenwürde setzen. Ich wünsche Dir sehr, dass Du Dich 2017 intensiv freuen kannst: über die Entwicklung Deines Sohnes, über neue Bücher, Frühlingsblumen, vielleicht über die neue große Liebe einer verlassenen Freundin oder eine alte Freundschaft, die neu auflebt… Begegnungen mit Seelenverwandten, von denen man nichts geahnt hat… Verschlossene Türen, schmerzhafte Erfahrungen, die vielleicht ganz neue Erfahrungen eröffnen… Alles Gute für 2017!!!

  4. Trotz allem und immer wieder auch trotzdem Ihnen ein heiteres und nicht allzu schattiges, neues Jahr. Wer weiß schon was die G*tter bewegt und ob sie nicht einmal auch wieder Blüten regnen lassen auf uns.

  5. Ich bin, so vermute ich, gut 10 Jahr älter als Sie, Frau Modeste. Rückblickend und auch ganz aktuell kann ich Ihnen aus meiner Sicht wie folgt antworten:

    >>Für romantische Komödien sind wir zu alt
    Nein, das ist nicht der Fall. Bestimmt. 🙂

    >>Unsere Erfolge sind eingetreten oder kommen nicht mehr
    Das trifft zum Glück nicht zu

    >>die Gleichaltrigen sind nicht mehr so gesund wie früher.
    Vielleicht. Anderen wiederum geht es tatsächlich gesundheitlich besser, auch das gibt es.

    >>Die meisten Überraschungen werden unangenehm ausfallen.
    Ganz sicher nicht!

    Und das ist kein hypothetischer Optimismus einer Endvierzigerin, sondern beruht auf persönlichen Erfahrungen. Die Zukunft, sie meint es durchaus gut mit uns. Auch, wenn man die 40 überschritten hat.

  6. Guter Text, allzu traurig. Ich bin 56 und die beschriebenen Befürchtungen habe ich teilweise schon hinter mir. Trotzdem bin ich da und zwar besser als früher. Mit all den Unglücken haben sich mehr Stärke, ein wenig mehr Gelassenheit (für meine Verhältnisse DER Hit), mehr Dankbarkeit und mehr Zuversicht eingestellt. Für mein Umfeld und mich. Für die Gesellschaft ganz allgemein sehe ich schwarz. Oder braun. Ganz wie sie wollen. Da hab ich auch mächtig Angst.

  7. also wirklich! mit so einer haltung kann ich es ja gleich lassen und mich dem lauf der dinge überlassen. hoffnung und optimismus lassen sich schulen, sie sind eine lebenseinstellung, sie fordern resilienz und gute nerven und ein manchmal nur gezwungenes lächeln. vielleicht ungewohnt, wenn bisher im leben alles einfach nach plan verlaufen ist. ich rate zur hornhaut, zum training der leichtigkeit, und natürlich zu guten cocktails. sterben müssen wir eh. (jetzt mal so als jemand gesprochen, bei dem wenig nach plan läuft und stets sogar das überleben nicht ganz sicher ist.)

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