M. und Moldavien

„Du hast ja den anderen geheiratet!“, schallt es in maximaler Lautstärke aus dem Hörer, und ich muss lachen. „M.!“, sage ich, und überlege, wie lange ich nicht mit ihm gesprochen habe. Es müssen einige Jahre sein.

In meiner Erinnerung sitzt er klein und breitbeinig mit viel zu kurzen Beinen auf seinem Küchentisch. Die Achtziger gehen zu Ende, deswegen ist hier ziemlich viel schwarz, Acrylglas, irgendwo bestimmt stilisierte Flamingos, und jede Menge gefrostetes Glas. Ich bin ungefähr 14, seit einer Woche mit seinem Sohn liiert, der mir in seinem Kinderzimmer bei Kirschtee und Kerzenschein Rilke vorliest.

M. würde niemals Rilke lesen. M. ist laut, M. hat überhaupt keinen Geschmack, er kann weder trinken, ohne zu schlürfen, er isst eigentlich alles mit dem Löffel, noch wird er sich jemals merken können, welche Werte seine Exfrau ihm eigentlich an die Wand gehängt hat. Ich bin mir bis heute sicher, M. fand die Bilder schlimm.

M. erzählt die unwahrscheinlichsten Geschichten der Welt, die sich in den nächsten 15 Jahren alle als wahr erweisen. M. hat mal Gudrun Ensslin geküsst und saß in einem afrikanischen Zwergstaat zwei Wochen im Gefängnis. Seine Narben stammen tatsächlich aus einem Krieg. M. hat keine Manieren, aber ziemlich viel Geld, zwei Ehen hinter sich und zwei Kinder, denen er ab und zu peinlich ist. Ich bin abwechselnd eine und die Freundin von M.s ältestem Sohn und tatsächlich immer ein bisschen verstimmt, wenn ich ihn besuche, und M. ist nicht da. Als wir uns für immer und endgültig trennen, tut es mir tatsächlich nicht nur um ihn, sondern auch um seinen Vater ein bisschen leid.

Heute ist M. 72. Zwei weitere Ehen liegen ihm hinter ihm. Nun aber, so versichert er mir, habe er die Frau seines restlichen Lebens gefunden. Sie sei 32, stamme aus einem Dorf in Moldavien, und sei absolut grandios. 1,82 groß, über einen Meter lange Beine, dazu klüger als alle seine Exfrauen zusammen, inklusive der Professorin, mit der aber auch nur ganz kurz … ich koche mir während der folgenden Ausführungen  Kaffee. Am Ende schält sich folgende Geschichte heraus:

Wo auch immer M. sie kennen gelernt hat, es muss außerhalb der EU gewesen sein, denn vor einer unbestimmten Anzahl von Jahren war seine neue Braut schon einmal in die EU eingereist, und zwar mit der Identität einer Freundin. „Aha.“, sage ich und betrachte etwas ratlos meine Fingernägel.

Über das Wieso und warum weiß M. leider auch nichts. Jetzt aber soll sie zu ihm kommen und bei ihm einziehen, ich und nicht einer seiner indiskreten Dorfanwälte soll ihm sagen, wie das geht, dann will er sie heiraten, nachdem sie einen Haufen Verträge unterschrieben haben werden, und mindestens – an dieser Stelle wird er für seine Verhältnisse ziemlich leise – die fünf Jahre bei ihm bleiben, die jemand verheiratet mit einem EU-Bürger zusammenleben muss, um ein eigenständiges Bleiberecht zu bekommen. Dann wird er 78 werden. Und sie ist vielleicht weg. Aber gelohnt, sagt er und wird wieder laut. Gelohnt haben wird es sich auf jeden Fall.

Und ich glaube, er hat recht.

 

 

 

2 Gedanken zu „M. und Moldavien

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