Jules et Jim

„Alt und müde.“, sage ich wahrheitsgemäß und versuche gleichzeitig mein Telefon und einen Nagellackpinsel fachgerecht zu balancieren, schiebe mit dem Ellenbogen meine Teetasse etwas weiter auf den Tisch und verabrede mich in zwei Stunden zu einem späten Frühstück in der Konditorei um die Ecke.

Um mich herum ist oder wird gerade alles 40 und lamentiert fürchterlich. Vermutlich hat die eine Hälfte meiner lieben Freunde die Jahre zwischen 15 und 35 mit dermaßen viel Vergnügungen vollgestopft, dass die abnehmende Schlagzahl an Spaß in Zusammenhang mit den mit den Jahren etwas abgestumpften Nerven üble Entzugserscheinungen verursacht. Die andere Hälfte dagegen realisiert gerade, dass der Triebverzicht ihrer Vergangenheit in der Zukunft keinerlei Honorierung erfahren wird, und jammert deswegen auch. Es muss irgendwo Leute geben, die ihr Leben lieben, aber die kennen wir nicht oder sie sprechen nicht mehr mit uns.

Immerhin, vernehme ich zur angegebenen Zeit über einer Kanne Assam, scheint die letzte Generation gelangweilter Bürger ihre Langeweile auch nicht besser bewältigt zu haben. Nehmen wir nur etwa die Tante R. meiner Begleitung, eine Psychotherapeutin aus Münster, welche unweit ihrer Heimatstadt in einem alten Resthof mehrere Jahrzehnte eine Art Seminar- und Meditiationszentrum betrieben hat, in dem Menschen irgendwo in ihrem Innenleben innere Kinder und spirituelle Edelmetalle gefunden haben. Praktischerweise erwies sich das Ganze sogar als ausgesprochen lukrativ.

In sehr frühen Jahren ihres Lebens war die Tante R. einmal mit einem Herrn H. verheiratet, einem Zeitungsredakteur. Das war damals noch ein bürgerlicher Beruf, von dem sich Leute Häuser bauten. Dann war die Tante R. nach einigen Wirren ein paar Jahre mit einem Herrn E. liiert, das ging aber auch in die Brüche. Mehrere Jahrzehnte hatte die Tante R. daraufhin allein gelebt, ihren Resthof regiert, ihre Patienten und irgendwelche jungen Therapeutinnen herumgescheucht und lange Wanderurlaube unternommen, gemeinsam mit irgendwelchen anderen postklimakterischen Damen. Dann aber setzte sich die Tante R. zur Ruhe, die inneren Kinder verließen den Hof, sie kaufte sich eine Finca in Andalusien und las sehr viel.

Irgendwann auf einem Familientreffen – ich glaube, ich war sogar dabei – kam sie auf einmal wieder mit Herrn H. Der war inzwischen ebenfalls Rentner, verdiente sich ein Zubrot als sogenannter Medienberater und sprach nur noch eine krause Mischung aus englisch und deutsch. Man spekulierte schon, er werde wieder bei ihr einziehen, da erschien sie auf einmal auf einer Taufe im weiteren Familienkreise mit Herrn E. Die Familie des Begleiters ist, obschon ausgesprochen protestantisch, einigermaßen hartgesotten in Herzensverwicklungen, zuckte deswegen nicht einmal mit der Wimper und hieß Herrn E. wieder im Familienkreise willkommen.

Als aber im letzten Jahre mein Begleiter selbst einmal im Münsterlande weilte, fuhr er spontan auch bei der Tante R. vorbei und setzte sich in ihre Küche. Die Küche dieser westfälischen Bauernhäuser ist riesig, es gibt einen mannshohen Kamin und an den Wänden hängen gigantische Töpfe und Pfannen früherer Zeiten, in denen man die inneren Kinder von Tante R’s früheren Patienten in einem Stück hätte zubereiten können. Neben dem Kamin jedenfalls saß Herr H.

Herr H. wirkte ganz zuhause. Er las in der taz, welche bei älteren Herren sehr beliebt ist, trank Lapachotee und kochte dem Besuch Kaffee, als die Tür aufging, und herein kamen Herr E. und die Tante. Man wohne, so vernahm der Begleiter, derzeit dort selbdritt.

Wie sich im Laufe des Abends herausstellte, war das Zusammenleben nur teilweise geprägt von Harmonie. Tante R. gilt als temperamentvoll, Herr H. hat auch nicht mehr alle Latten am Zaun, und Herr E. ist zwar einigermaßen ausgeglichen, aber beim Verhältnis 2:1 hilft das auch nicht mehr weiter. Als der Begleiter auf dem Weg zu Frau und Kindern wieder im Auto saß, war er jedenfalls recht froh, entkommen zu sein. Eine Weile meldete er sich jedenfalls mit gutem Grund nicht mehr bei der Tante.

Erst vor einigen Tagen hörte man erneut von Tante R. und den beiden Herren. Alle drei, so vernimmt die familiäre Fama, befinden sich in Spanien auf der Finca, die man sich, so der Begleiter, allerdings eher als so eine Art schlechtgeheizten Stall vorzustellen habe. Dort indes sei es zu einer erneuten Auseinandersetzung gekommen, die Tante habe ihr Auto bestiegen mit dem Herrn E. an ihrer Seite, der Herr H. sei hinterhergekommen, dann sei die Tante, welche schon immer eine miese Autofahrerin gewesen wäre, vom Wege abgekommen, und nun liege sie mit einem gebrochenen Bein danieder, der Herr E. sei auch ziemlich zerbeult, und der Herr H. wiewohl auch schon 75, müsse beide pflegen.

„Das ist ja entsetzlich trist.“, seufze ich, als wir die Konditorei verlassen. „Ich muss los.“, sagt der Begleiter, welcher gerade den Kindersport seiner Ältesten schwänzt, und winkt nach einem Taxi. „Wir sehen uns Donnerstag.“, verabschiede ich mich und lasse mir von ihm wie immer nach jedem Streit seit über 30 Jahren zum Abschied etwas ins linke Ohr flüstern. Auf dem höre ich nämlich nichts.

Dann gehe ich heim.

4 Gedanken zu „Jules et Jim

  1. Tja, die Lebensmodelle der Alt-68er Generation waren damals nicht so ungewöhnlich, heute finden das alle wahrscheinlich seltsam. Klar, in guten wie in schlechten Zeiten füreinander da zu sein, finde ich nicht trist, sondern selbstverständlich, genau wie man das bei Kleinfamilien-Ehepartnern erwarten würde.

  2. Doch, bei allen Irrungen und Wirrungen die da waren und sind: ich mag mein Leben, das erarbeitete und das scheinbar vom Himmel gefallene. Die Frau, die Freunde, die Auseinandersetzungen, den Job. Ein wenig auch das alter, auch wenn ich das was ich nun weiss gern 10 Jahre früher gewusst hätte. Aber so ist es halt: Leben und Lernen. Zugegeben der kleine Mann (oder was immer draus wird) hat das nochmal in ne neue Spähre geschossen. Die bleiben ein Wunder, die kleinen Persönlichkeiten.

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