Jahresrückblick 2017
Ich lebe jetzt fertig, schreibe ich irgendwann im Frühjahr in einer Mail und mich schaudert ein wenig. Ich bin 41. Brechts Radwechsel fällt mir ein, das Gedicht, in dem der Dichter nicht gern ist, wo er herkommt, und nicht gern dort, wo er hinfährt, und trotzdem ungeduldig auf die Weiterfahrt wartet. So geht es auch mir, denke ich morgens auf dem Weg ins Büro und laufe durch den kalten, trüben Regen. Mein Leben sieht gut aus, weiß ich, aber besonders zufrieden macht es mich nicht. Ich fühle mich, schreibe ich irgendwann im April, so gelangweilt und erschöpft zugleich wie jemand, der 16 Stunden am Tag Dosen stanzt. Es sind teure Dosen, das ist wahr. Aber das macht es nicht besser.
So wie Brecht geht es mir nicht, erkenne ich. Da ist es Mai. Ich bin nicht besonders glücklich und ich erwarte nichts von der Zukunft, in der keine Veränderungen angelegt sind, weil ich die vier Wände meines Lebens fest verleimt habe, und alle Fenster fester verschlossen sind, als ich mal dachte. Wenn ich rüttele, passiert nichts. Aber da, wo ich herkomme, ging es mir einmal sehr gut, erinnere ich mich. Ich war an manchen Tagen sehr unglücklich, an manchen anderen aber war ich ein Feuerwerk, die große Oper und alles, was ein Mensch sich wünscht, der sich leicht langweilt. So gut ging es mir damals, suche ich in mir die alten Zeiten zusammen und laufe durch die braunen Pfützen im Park.
So will ich nicht sein, denke ich, da ist es Sommer, und schaue die Menschen an, die so ein Leben schon sehr lange führen. So wäre ich nie, weiß ich, das ist in mir nicht angelegt, und alle Pokale, die es dafür gibt, so zu sein, will ich nicht haben. Vielleicht könnte ich, überlege ich einige Wochen, in meiner Dosenfabrik umräumen, andere Dosen stanzen, was auch immer, aber dann schaue ich mich um und mir graut davor, und vermutlich ginge es auch gar nicht.
Ich wünsche mir Abenteuer, schreibe ich einer Freundin, da ist es Juli. Das Unvorhergesehene, das Experiment, diesen Zustand des Hellwachseins, zuckende Blitze und Nächte am Meer. Ich will nicht jetzt schon wissen, was in drei Jahren passiert, ich möchte noch einmal jemand anders sein, und ich will mein Leben und mich wieder bewohnen. Ich will mein Leben nur mit Menschen teilen, die ich mag.
Es ist ein warmer, schwüler Sommer, vom Himmel fallen die Wasser, als wollten sie uns alle ersaufen. Im Internet kursieren Bilder, in denen die Bahnhöfe von Berlin im Wasser verschwinden wie die von Atlantis. Am Horizont tauchen Wale auf, riesig, schillernd und irisierend. Najaden winken mir zu, tief hängen warme, dunkle Wolken von meinem Himmel in meine Stadt und in meinen Kellern säge ich Holz für meine eigene Arche.
Ich könnte jetzt lang und persönlich darüber schreiben was (meiner beschränkten Erfahrung nach) erfahrungsgemäss nicht funktioniert.
Statt dessen was anderes (und Dir und Euch alles Gute Dir für die grossen und kleinen Baustellen 2018):
Lasst die wilden Glocken läuten!
Ring out, wild bells, to the wild sky,
The flying cloud, the frosty light:
The year is dying in the night;
Ring out, wild bells, and let him die.
Ring out the old, ring in the new,
Ring, happy bells, across the snow:
The year is going, let him go;
Ring out the false, ring in the true.
Ring out the grief that saps the mind
For those that here we see no more;
Ring out the feud of rich and poor,
Ring in redress to all mankind.
Ring out a slowly dying cause,
And ancient forms of party strife;
Ring in the nobler modes of life,
With sweeter manners, purer laws.
Ring out the want, the care, the sin,
The faithless coldness of the times;
Ring out, ring out my mournful rhymes
But ring the fuller minstrel in.
Ring out false pride in place and blood,
The civic slander and the spite;
Ring in the love of truth and right,
Ring in the common love of good.
Ring out old shapes of foul disease;
Ring out the narrowing lust of gold;
Ring out the thousand wars of old,
Ring in the thousand years of peace.
Ring in the valiant man and free,
The larger heart, the kindlier hand;
Ring out the darkness of the land,
Ring in the Christ that is to be.
Lord Alfred Tennyson, 1809 – 1892
Danke, was für ein hübsches Gedicht
Von allen Gefühlen ist Ohnmacht am schwersten auszuhalten. Als Mose mit den Zehn Geboten von Gott kam und sah, dass die Menschen erneut einem goldenen Kalb verfallen waren, reagierte er mit mörderischem Zorn. Anders Stefan Zweig: als in seiner Heimat alles nach dem Führer schrie, wollte er nur noch schlafen. Und eine Überdosis Veronal sorgte dafür, dass dieser Schlaf niemals mehr endete…
Auch ich tendiere eher zur Lebensmüdigkeit.
Zumal ich mich in vielen meiner Mitmenschen wiedererkenne, wie ich als Kind war. “Kindermenschen“ heißt Hesse in seinem “Siddhartha“ die Bevölkerung unserer Städte. Und ich freue mich über deren zeitloses Glück, wie schön sie mitunter sind, wenn sie ihre fruchtlosen Späße treiben: ein Feuerwerk, das in hunderten Farben die Nacht erhellt. Selbstverwirklichung im Feuerwerk! Wie nun kann man in einer Welt aus lauter Feuerwerken lebensmüde werden?
Kinder sind sowieso toll: Diese nie versiegende Begeisterung.
Wenn ich den Text lese, habe ich nicht den Eindruck, dass das Leben so festgefahren ist. Ich selbst kann es – denke ich – gut verstehen. Aber ich halte es nicht für erzwungen. Schreiben Sie doch ein Buch. Sie können gut schreiben. Im Buch beschreiben Sie die Welt, wie Sie sie gerne hätten. Welche Veränderungen notwendig sind.
Ich selbst könnte mich jetzt mit 66 Jahren beklagen, dass alles schon festgefahren ist. Ist es aber nicht. Selbst wenn ich nach einem saublöden Radsturz ein Jahr an Krücken gefesselt bin.
Aber mein Leben war immer abwechslungsreich. Entwickler, Verkäufer, (Wechsel von technischen Produkten auf Flügel), Wechsel in die EDV, Lehrender, Verkäufer, Selbstständiger. Treffen mit wirklich tollen Menschen, die quer über die nördliche Hemisphere unserer Kugel verteilt waren.
Jetzt bin ich Pensionist. Aber ich habe den Wechsel der gesamten Musikkultur zur Verfügung. Und mein Buch betrachte ich als echte Aufgabe.
Was ich so lese, lässt mir ihr Leben als nicht so unglücklich erscheinen. Es klingt eher wie eine Midlife-Krise, zu der sich Männer dann Motorräder kaufen. Das Alter spielt doch heute überhaupt keine Rolle. Sie wirken viel zu intelligent, als dass Sie sich begrenzen ließen. Alles Gute für ein Neues Jahr, wobei das für Sie ja im September zu beginnen scheint 🙂
Mag sein, dass es eine Midlife Crisis ist, wobei das natürlich auch Ernstzunehmen ist: Wenn man feststellt, dass man noch Jahrzehnte seines Lebens vor sich hat, und die ja auch irgendwie aushalten muss, ohne dabei vor die Hunde zu gehen
Ich glaube, ich war da auch. Mein Weg: Das Verbotene kultivieren. Viele kleine Ungezogenheiten in Kleidung und im Denken und mit Männern. Es geht sehr gut.
„Die Überschreitung ist nicht die Negation des Verbots, sondern sie geht über das Verbot hinaus und vervollständigt es.“ Georges Bataille, Die Erotik
So findet hoffentlich jeder und jede einen eigenen Weg.
Es mag eine ernstzunehmende midlife crisis mit den verschiedensten Facetten sein.
Aber nochmals: sind Sie sich sicher, dass sie beruflich dort sind, wo Sie bleiben wollen.
Wenn ich mir Ihre Stellungnahme zum Entwurf des Hochwasserschutzgesetzes II durchlese, kann ich das nicht ganz glauben.
Überdenken Sie es jetzt. meine Erfahrung ist, dass alle aufgeschobenen Dinge, von denen man ahnte oder sogar wusste, dass es nicht richtig ist, einem Jahre später mit aller Macht auf die Füße fallen und es dann viel schwerer wird , die Füße zu befreien. tun Sie jetzt, sie sind viel jünger als Sie glauben.
Für mich klingt das bei Ihnen häufig so, als lasse Ihnen die langen Arbeitszeiten wenig Raum für anderes. Vielleicht ist das eine Schraube, an der Sie mal drehen könnten, in welcher Form auch immer. Mann und Kind klingen jedenfalls so, als sollten Sie die unbedingt behalten.
Ich wünsche Ihnen ein fröhliches und gesundes neues Jahr!
Bloß nicht alles hinschmeißen und kaputtmachen! Durchhalten, Geduld üben, weitermachen in großmöglichem Gleichmut. Vielleicht eine Kleinigkeit ändern: eine Meditationstechnik erlernen oder eine Yoga-Übung, mit der man in 10 Minuten Kraft schöpfen kann. Das geht!
Und den Tipp mit der Reduktion der Arbeitszeit und ein bisschen mehr Freiraum für Muße nach der Arbeit fand ich auch ganz gut.
Aus meiner tiefsten Seele zieht mit Nasenflügelbeben ein ungeheurer Appetit nach Frühstück und nach Leben.
Das Erwachsenensein erwischt uns alle irgendwann einmal. Man wird nun doch nicht mehr Primaballerina, einmal getroffene Entscheidungen haben Konsequenzen; man hat Verantwortung und ist in familiäre und berufliche Strukturen eingebunden. Das Gerüst des Lebens steht, man kann es aber immer noch mit Blumen bepflanzen (oder mit Gemüse, wenn Ihnen das lieber ist). Insofern denke ich, Paula hat Recht. Andererseits soll man sich den von bestpilot angesprochenen Appetit aufs Leben bewahren.
Das Bild des Himmels und des Meeres ist toll . Ist das in Japan aufgenommen?
Danke fuer den Post. Falls es etwas Trost fuer Sie sein kann. Diese Gefuehle haben wir doch alle immer mal wieder. Das ist doch auch ein Zeichen dafuer, dass wir noch lebendig sind und noch nicht zombifiziert. Und ja, das Pensum runterfahren ist ein erster Schritt. Wagen Sie es.