Später aber, als die Musik ausgegangen war, und nur noch die Boxen knackten, irgendwann nach dem letzten Rest von warmen Wodka, riss die Nacht auf, ihre Eingeweide quollen blau aus den offenen Flanken, und wir fuhren noch einmal los, die Torstraße entlang, die Friedrichstraße hinunter und weiter gegen Westen, der Nacht hinterher, die in unserem Rücken schon fadenscheinig wurde, trüb, als habe jemand einen Tropfen grauer Milch in den Himmel gegossen. Der Morgen drückte uns schwer in die Kurven auf dem Weg aus der Stadt. Irgendwo in der verbrauchten Luft im Fond des Taxis flossen meine Gedanken ineinander, verknoteten sich, verbanden sich neu, und mir verschwammen Namen, Orte und Zeit, während der Fahrer mit einer Hand am Steuer einen anderen Radiosender suchte und hin und wieder ohne Anlass auflachte, als glitte auch er dahin auf einem zähen Strom aus Müdigkeit und lauter Gegenwarten zugleich.
Das Fleisch des Mannes an der Tankstelle, bei dem wir Wein kauften und noch mehr Zigaretten, drückte sich aus seinem roten Overall, und unter dem gelben Base-Cap leuchtete seine Haut wie ein roher Schinken. Sein linkes Augen war verklebt mit einem krümeligen, gelben Sediment. „Da war ich mal als Kind.“, sagte mein Begleiter auf dem Weg zurück ins wartende Taxi und deutete auf das Etikett der Weinflasche, und ich nickte, schaute nicht einmal mehr hin, und trank von dem sauren, dünnen Wein, den er mir nach hinten reichte.
„Halten sie an.“, sagte er, und der Wind fuhr übers offene Feld, zog uns weiter zwischen die Bäume, und in der Feuchtigkeit eines Morgens, der der Sauberkeit entbehrte, als sei der Tag schon schillernd vor Fäulnis und verdorben von unserer Gegenwart geboren, stolperten wir zwischen den Grabsteinen entlang. Tief bohrte sich mein Absatz zwischen die Gehsteigplatten. Die Wände der Mausoleen rechts und links von unserem Weg schwitzten Vergänglichkeit und stinkendes Moos.
Wie Teehäuser bargen sich die Mausoleen im Wald, all die Teehäuser der Toten, die auf unser Verschwinden warteten unter den glitschigen Böden, und die kalte Nässe des Waldes drang zwischen Rock und Stiefeln durch die Strumpfhosen in meine Haut und durchtränkte erst meine Beine, um dann mich ganz und gar anzufüllen mit schwarzem, übelriechenden Wasser. Die letzten Tropfen Wein aus der ersten Flasche gossen wir den Toten als Miete auf ihr Grab, öffneten eine weitere Flasche und bliesen den Rauch unserer Zigaretten in die Luft wie ein Brandopfer für die, die vor uns da waren, und deren Namen in Stein gegraben sind, während uns, flüchtigen Passanten einer hastigen Zeit, keine Grabsteine für hundert Jahre mehr aufgestellt werden, wenn wir einmal so tot sein werden wie jene.
Als die Weinflaschen leer waren, gingen wir zur Straße zurück und fuhren heim durch den trüben Morgen, und wie von jeder unserer Nächte sollte uns nichts bleiben als die Gewissheit, das alle unsere Stunden nicht mehr enthalten würden als den Rausch vergeblicher Exzesse und eine Traurigkeit, die gleißend hinter den Dingen steht wie die Wände verrottender Mausoleen weit hinter der Stadt.
Melancholie, Frau Modeste. Aber wer genau ist „wir“? (Entschuldigen Sie bitte die Frage, sollte sie plump erscheinen, aber ich kann nicht unbehelligt in Ihrer vorbildlichen Melancholie schwelgen, wenn mir meine Phantasie zu viele „wir“s auf einmal vorschlägt.)
„Nahment zusammen!“
Saß man vor seiner Tür, spielte mit Schlacke und Schilf, lag im Fenster und sprach: „Jetzt ös Hein Ravenrath okk all under de Erd. Hat schnell gegangen.“ – „Wie? Den hab ich doch noch vor drei Wochen … „ – „Jaaa, wir kommen alle noch dran.“ So sitzen sie in ihren Küchen und so liegen sie unter der Erde, können sich über Grabsteine nicht einigen, wissen aber genau, wo jeder liegt. Alles hätt nen Övergang. Da trokk sich de Voss et Fell över de Kopp. Alles hat einen Übergang. Da zog sich der Fuchs das Fell über den Kopf – „Nahment zusammen!“ rief man über den Zaun, lief die Wiesen entlang, schwamm in grünlichen Seen – und wurde ein schwarzes Schaf. (HDH, 1967)
Wir sollten uns mal unterhalten.
Neulich (vor einigen Jahren) war ich mal wieder aus, tanzen, und es war derat schoen, dass ich im Rausch nach Hause kam und noch zuhause ein wenig weiter schubie duh getrieben habe. Altert man zw. 25-40?
Dies als Pendant zum „Rausch vergeblicher Exzesse“. Alle paar Jahre gelingt’s ja mal wie grosses Kino.
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Wir, Frau Breezerbox, sind vermutlich – aber so ganz genau weiß das keiner – mein Begleiter und ich. Wir taten uns aber ein bißchen schwer mit dem wir, und deswegen bedeutet wir vielleicht auch ganz was anderes.
Und die Übergänge, lieber Sven, sind doch die einzig interessanten Sphären, die Grauzonen zwischen Nacht und Morgen, zwischen Schwarz und Weiß, wo die Regeln nicht gelten, und die Gesetze jeden Moment ihre Gültigkeit verlieren können.
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Unterhaltung, Herr King Fisher, ist ja ohnehin so gut wie das Einzige, was bleibt, und wird nur von Amusement übertroffen. Ich möchte jedoch anmerken, dass in dem Terminus, man müsse sich mal unterhalten, schon irgendwie so etwas eher Unheilvolles mitschwingt.
Ob man tatsächlich altert in diesen Jahren, Herr Gheist, vermag ich gar nicht zu sagen. Das scheint ein wenig individuell zu sein, aber vermutlich schon. Nur einem selber fällt’s nicht auf. Und Neigung und Fähigkeit zum Rausch verlieren sich wohl nicht so schnell, nur der Sinn, der Plan hinter der ganzen Veranstaltung, das Wozu, das wird mit den Jahren vielleicht immer gleichgültiger oder eben immer schwerer beiseitezuschieben. – Aber wer will schon während der Berlinale den Sinn großen Kinos negieren.
Modeste, Sie altes Nachtgespenst. Wenn ich nicht wüsste, dass Sie im Grund genommen gerne mal einen heben und mit Vergnügen irgendwo im Berliner Nachtleben rumstranden, könnte man meinen , Sie trieben sich lieber auf Friedhöfen statt in Bars herum.
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Unheilvoll, liebe Frau Modeste? Na, das will ich doch nicht hoffen!
Ich war nur etwas besorgt.
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Kein Grund zur Sorge, Herr King Fisher. Hoffentlich voll und ganz OT möchte ich doch an dieser Stelle wieder einmal darauf hinweisen, dass ich auf pathologisierende Leser auch ganz gut verzichten kann. Dieses Blog ist ein Unterhaltungsangebot, und sollte ungefähr so rezipiert werden wie ein gutaussehendes gediegen-amüsantes Magazin, das bei Ihrem Zahnarzt im Wartezimmer ausliegt.
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Och, Meister Burnston, alle halbe Jahr kann ich gut einmal einen Abstecher auf den Friedhof machen, vorausgesetzt, Gesellschaft und Getränke stimmen.
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Dazu möchte ich den Dreifaltigkeitsfriedhof in der Bergmannstraße wärmstens (?) empfehlen.
Vorzüglich. Danke sehr.
Manchmal sind Artikel so toll, das hinterher tatsächlich ein Item aus deiner Amazon Wunschliste verschwindet.
Jegliche Versuche einer Exegese zerfallen noch vor Beginn wie trockenes Laub, das zwischen zwei Händen zerrieben wird. Auch das Schöne muss sterben, das Götter und Menschen bezwinget. Doch auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich. Memento mori. Nun kenne ich mich mit Friedhöfen nicht sonderlich gut aus, habe Zeit meines Lebens meine Anwesenheit an solchen Orten auf das Notwendige beschränkt. Insofern sind mir gleißende Wände verrottender Mausoleen und ihre Ähnlichkeiten zu einer Traurigkeit nur vermittels kognitiver Kraftanstrengungen ungefähr nachfühlbar. 🙂
P.S.: Morgen startet ja Ihre Ausstellung schlechthin in der Neuen Nationalgalerie… Hab’s eben in den Tagesthemen entdeckt. Klingt spannend!
Frau Modeste, mit einer Flasche Wein über den Ohlsdorfer, man kann dort mit den Fingern den moosigen Schrund auf den Grabplatten nachspüren. Oder aber Tintern Abbey, der Literatur wegen.
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Danke. Für Komplimente wie Geschenke.
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Ja, Herr Ole, auf die Ausstellung freue ich mich. Vielleicht schreibe ich was dazu. Und den Ohlsdorfer Friedhof, Meister Kid, kenne ich. Eine großartige Nekropole, fast so schön wie der Centralfriedhof. Überhaupt sollte es einmal ein Best of Friedhof geben, mit hübschen Photos und Texten. Vielleicht so als Gemeinschaftsblog, friedhof.twoday.net oder so.
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Den Trick erführe ich gern mal, wie man solche Texte schreibt. 🙂
Der Blick einer 100 Jährigen
Heute habe ich einer guten Kundin einen Blumenstrauß überreicht.Sie ist gestern 100 Jahre alt geworden.
Ihr Geheimrezept , Kinder , Karten spielen und Schokolade .
Wenn man ihr in die Augen schaut, trifft einen ein bestimmter, kraftvoller Blick mit einer gewissen Altersgelassenheit und einer gehörigen Portion Weisheit.
Seit einem Jahr fröhne ich den vergeblichen Exzessen nicht mehr und habe immer öfter den Eindruck dieses hohle Lebensgefühl müßte mal wieder so richtig mit Hochprozentigem gefüllt werden.
Alltägliche Bereicherungen wie den Blick dieser Kundin, versuche ich dann als Ersatz für das göttliche Gesöff zu nutzen.
Mit mäßigem Erfolg…
Irgendwas mache ich noch falsch –
Nur eines scheint mir sicher, die Zeit der exzessiven Glücksbohrungen hat mir keine Quelle der Linderung erschlossen.
Dennoch glaube ich die angstfreien Plateaus des Rausches offenbaren die Schönheit des Lebens.
Wenn wir lernen unsere Ängste zu erkennen und zu besiegen vermag man zumindest die Vergeblichkeit überwinden.
Die Traurigkeit bleibt dennoch –
Da mag ein guter Wein Wunder wirken