Ganz vergessner Völker Müdigkeiten

Die Lilien sind welk geworden, und der Himmel zwischen Hinterhaus und Fensterrahmen ist so wässerig, blaugeädert wie die Hände sehr alter Menschen, und eine erkaltende Tasse Tee in der Hand stehe ich in der offenen Balkontür und sehe dem Rauch einer Sampoerna nach, die mir die Lippen süß färbt und die Zunge betäubt. Ab und zu klingelt das Telephon, der Freund der einen meldet sich zu selten, der Freund der anderen viel zu oft, und ich soll irgendwo in Kreuzberg feiern kommen.

Vor dem gefüllten Kühlschrank vergeht mir der Hunger. Ein Stück Brebiou schneide ich mir ab, klebrig verläuft der Käse in meinem Mund, und ich werfe den Rest weg. Morgen wird die Welt nicht anders aussehen als heute, denke ich, und in einem Jahr stehe ich wieder auf diesem oder einem anderen Balkon, sehe dem Rauch meiner Zigarette nach, und, was auch immer geschehen mag, die Welt wird mir auch in dieser Nacht, in diesem Jahr oder im nächsten ihr Geheimnis nicht zeigen. Den goldenen Schrein, der die Mitte von allem bezeichnet: Ich kenne die Zauberformel nicht, der Ritus bleibt mir verschlossen, und was auch immer durch meine Finger rinnt: Nichts wird mir bleiben als die Nacht, die harte, glatte Oberfläche der Welt und der Rauch einer langsam verglimmenden Zigarette, die nach fremden Ländern schmeckt, in denen sich die Pforte zum Sanctum der Welt gleichfalls nicht öffnet.

Nachtrag: Der Herr svenk, der muss mich gesehen haben, als ich da auf meinem Balkon stand, und hat ein Bild gemalt, dass ich ganz stolz geworden bin. Große Freude.

18 Gedanken zu „Ganz vergessner Völker Müdigkeiten

  1. Hiess die Zauberformel frueher nicht ‚Sesam oeffne dich!‘ oder ‚Abracadabra‘? Dann verbuendete sich Raueber Hotzenplotz spaeter mit Petrosilius Zwackelmann (der zauberte was er zaubern kann), um Schnupftabak und Kartoffeln und Kaffee zu stehlen? Das Passwort zum Eingang des Geheimnisses der Welt ist immerzu auch mit einem schlimmen Preis belegt. Vor dem Gesetz.
    Und das wollen Sie nun lieber als in der Oranienstr. Feste zu feiern??

    „Der Tuerhueter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehoer noch zu erreichen, bruellt er ihn an: ‚Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur fuer dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schliesse ihn.'“

  2. Wir könnten ja Gräber, ährrgh, Wohnungen tauschen. Denn die Nahrungsreserven am Nordtrand gehen zur Neige. Bei Ihnen ist ja der Kühlschrank offensichtlich voll. Bei mir können Sie dafür hinter ein paar Geheimnisse kommen. Zum Beispiel hinter das Geheimnis meiner guten Laune und enormen Ausgeglichenheit. Zudem könnten Sie endlich mal Six Feet Under gucken und zwar in Serie auf DVD aus der Box.

  3. Transgression

    Der gute Bataille lehrt uns doch eines: Das Aufgeben der Mentalität um die Realität der ewigen Gegenwart (Chronos &Kairos) in der Überschreitung aller Tabus zu leben. Das Schöne daran ist, dass die ersten Tabus zum Überschreiten die Gewohnheiten sind und dann natürlich deren Überschreitung. Kurz gesagt: Die völlige Hingabe in der Liebe sollte uns begleiten mit dem Satz von Éluard, dass man niemals etwas bereue, man ja voran gehe. Der Ritus besteht in der völligen Kopflosigkeit (Absichtslosigkeit) und NICHT in einer erdachten und inszenierten Serie von willkürlichen Befriedigungen, die eben keinen Frieden produzieren…

  4. REPLY:

    Manchmal habe ich fast den Eindruck, der einzige Mensch in der Blogosphäre zu sein, der den ollen Bataille nicht gelesen hat. Irgendwie habe ich aber andererseits nicht den Eindruck, dass ich das schleunigst nachholen müsste.

  5. Es ist ja nichts auf Erden, was nicht seinen Preis hätte, und so haben Sie, Herr Gheist, natürlich recht mit Ihrer Warnung. Auf der anderen Seite – umherzuplanschen im Nichtschwimmerbecken der Erkenntnis ist eben auch manchmal quälend, und jene nächtlichen Momente, when the feast is over and the lights expire, in denen man realisiert, dass alles, was das eigene Leben ausmacht, nicht mehr als ein Stück Schale jenes riesengroßen Apfels bedeutet, sind manchmal nicht schön. Gefeiert werden muss natürlich trotzdem.

    Nicht so ganz verstanden habe ich ja die Anmerkung der geschätzten Frau Saoirse, und der Herr Burnston, der will doch bloß an meinen Kühlschrank, und am Nordstrand angekommen, suche ich bestimmt ganz vergeblich nach der Lösung irgendwelcher Geheimnisse, während sich der Burnster an meinem Käse gütlich tut.

    Der Herr Moravagine – und natürlich der Herr Bataille – mögen nicht unrecht haben, aber zum Überwinden der Gewohnheiten, zum Vordringen in eine Sphäre absoluter Gegenwärtigkeit, braucht es vielleicht doch einen anderen Kern, als ich ihn habe. Die eine oder andere Stunde mit dem Herrn Bataille, Frau Arboretum, lohnt sich aber bestimmt, auch wenn das Werk nicht gerade das ist, was ich auf meinem Nachttisch so am allerliebsten liegen habe.

  6. REPLY:
    Damit sind Sie nicht alleine,

    Frau Arboretum. Und je älter ich werde, desto weniger mag ich es als existenziellen Mangel begreifen, dieses oder jenes nicht gelesen zu haben. Angesichts der Zilliarden von gedruckten Buchstaben, die auf diesem Planeten unterwegs sind, braucht es Mut zur Lücke. Ich glaube mittlerweile, die Bücher, die mich erreichen sollen, erreichen mich auch zum richtigen Zeitpunkt…

  7. REPLY:

    Manchmal wünscht man ja, etwas noch nicht gelesen zu haben, um es noch einmal zum ersten Mal lesen zu können. Meinen kleinen Cousin mit seinen 16 Jahren beneide ich manchmal um die Größe und den unbefleckten Glanz dieser Leseerlebnisse.

  8. REPLY:

    Nun, das ist reichlich einfach: Ich antworte meinen Kommentatoren, und bestätige dabei durch das eingestreute ja Übereinstimmung. Manchmal widerspreche ich auch ein wenig, manchmal füge ich einen Gedanken etwas hinzu – und manchmal beschleicht mich die Idee, nicht jeder, der sich bei mir herumtreibt, kommt, um sich zu amüsieren, sondern ist auf Kontroversen aus. – Herr Konradin, vielleicht täusche ich mich, aber ich habe den Eindruck, Sie kommen nicht hierher, um zu plaudern, sondern sind von vornherein auf eine atmosphärische Störung aus, die hier nicht willkommen ist. Hinzu kommt, dass Besucher, die weder eine E-Mail verlinken noch eine eigene Homepage anzeigen, mir ohnehin etwas supekt sind.

    Dieses Blog dient meinem und meiner Gäste Vergnügen – wenn Sie mein Vergnügen an diesem Blog verkürzen, werde ich, wie angekündigt, löschen.

  9. Meine Frage sollte nicht provozieren. Sie ist ernst gemeint. Sie ist höflich und respektvoll. Aus Versehen habe ich lediglich Vor- und Nachnamen vertauscht.

    Ich kann verstehen, dass man ohne Homepage-Verlinkung gleich unter Troll-Verdacht gerät. Ich habe keine eigene Seite.

    Vielen Dank für die Antwort zu meiner Frage. Ich habe nämlich vorher gedacht, das eingeschobene „ja“ wäre quasi umgangssprachlich gesetzt, um das Plauderhafte in den Kommentaren zu betonen. Jetzt weiß ich, dass das nicht so ist. Das „ja“ drückt Übereinstimmung aus.

    Bitte das jetzt nicht wieder falsch verstehen, warum sagt man eigentlich nicht, wenn man mit etwas nicht so ganz konform geht: „Da bin ich nein ganz anderer Meinung“? Die gängige Form ist doch: „Da bin ich ja ganz anderer Meinung.“ Oder drückt das eingeschobene „ja“ doch etwas anderes aus? Oder gar nichts?

    Ich interessiere mich etwas für Sprache, ohne – jeder hat’s schon bemerkt – sie auch nur annähernd so virtuos zu beherrschen wie Melancholie Modeste.

    Um im Teetrinker-Bild zu bleiben: Nur wenn’s schmeckt, fragt man nach den Zutaten. Oder wird man dann auch sofort aus dem Salon hinausbefördert?

  10. REPLY:

    Der Sprachgebrauch geht ja manchmal unlogische Wege, da haben Sie schon recht. Und das eingestreute „ja“ ist manchmal sicher nur ein Füllsel, manchmal bezeichnet es Übereinstimmung, und manchmal relativiert ein „ja“ auch ansonsten sehr apodiktische Aussagen. Lustig übrigens, bei Ihrem Kommentar fällt mir auf, dass ich mich eigentlich gar nicht so sehr für Sprache interessiere, mein Interesse gilt eigentlich der sichtbaren Welt, den Dingen, die man anfassen kann, Farben und Gerüchen. Der Akt des Einfangens, letztlich auch die Musikalität, sind es, die mich reizen, weniger das Instrument, die sichtbare Welt einzufangen.

  11. REPLY:

    Herr Bataille wurde von seiner mental auch nicht immer ganz ausgeglichenen Freundin als ziemlicher Spießer tituliert. Ein weiterer Fall des Auseinanderklaffens von Theorie und Wirklichkeit. Aber wer will hier streng sein. Ein Problem bleibt am Ende: Ohne Tabus, keine Transgression.

    Und wo bleibt dann der Spaß im Themenpark der entgrenzten Freiheiten?

  12. REPLY:

    Das, Meister Kid, schadet vielleicht dem Ansehen des Herrn Bataille, kaum aber, glaube ich, dem seines Werkes. Ich mag mich da aber gar nicht so sehr in die Bresche werfen, ich schätze Bataille, zu den Büchern, die ich auf die vielzitierte einsame Insel mitnehmen würde, gehört jener indes nicht.

  13. REPLY:

    Von Frau Laure Spießer genannt zu werden, kann in dem Zusammenhang kaum eine Beleidigung sein. Ich glaube, hinter der Anekdote steckte auch weniger eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Positionen oder nicht ausgelebten Positionen, denn der Versuch einer persönlichen Revanche. Und so was macht man ja schließlich nicht.

    Eine hübsche Anekdote über einen Befreier, der eben selbst auch nicht immer so weit war. Das menschliche Kurzmaß macht ihn nur sympathischer. Wie Donald Duck.

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