Entkommen

„Bitte nicht der G.!“, wehre ich ab, halb lachend und halb entsetzt. Doch nicht der G., erinnere ich mich an den stets gelassenen, lockigen Schulfreund, den souveränen Cellist des Schulorchesters, mit dem ich sommerlang im Kirschbaum saß, den süßen Saft in den Mundwinkeln, und verstrickt in Gespräche über Dinge, die so unendlich groß und tödlich wichtig sind, dass man sich nach dem 20. Geburtstag nie wieder traut, darüber zu sprechen.

In München und Jena hatte der G. studiert und sich dortselbst in eine K. verliebt, eine kurzhaarige Punkerin aus Magdeburg mit Ringen in der Nase und Tätowierungen quasi überall, und dann am Ende doch die L. geheiratet, eine Schweizer Musiklehrerin mit langen, glatten Haaren. Am Starnberger See hatten beide gewohnt, der G. war Arzt geworden in einer Klinik am Seeufer, und drei Kinder kamen in ordentlichen jeweils zweijährigen Abständen. Man renovierte sich ein Haus. Die L. postete veilchenfarbene Cupcakes und sorgfältig drapierte Obstschalen auf facebook. Es muss perfekt gewesen sein, und sterbenslangweilig dazu.

Der Mensch jedoch hält, wie man so sagt, Perfektion einfach nicht aus, und auch der G., stelle ich mir vor, muss sozusagen monatlich nervöser geworden sein. Die Rosen und Hortensien vorm Haus. Die hübschen, blonden Mädchen in karierten Kleidchen neben einer Milchkanne. Die zuckersüße Landschaft rund um den Starnberger See, geradezu strotzend vor Reichtum und Selbstzufriedenheit. Der G., glaube ich, bekam mit der Zeit von alledem so ein irres Summen im Kopf, nachts schwitzte er und träumte von schönen Punkerinnen mit Messern zwischen den Zähnen, und eines Tages brach er aus.

Nun ist ein Einfamilienhaus am Starnberger See ein Art Gefängnis der ganz eigenen Art, dem man deswegen auch nicht einfach so entkommt. Wäre der G. zum Beispiel einfach nach München gezogen, wäre das Gefängnis schließlich mitgekommen. Milchkannen vor der Tür und Karokleidchen und pastellige Törtchen kann man schließlich fast überall hinstellen. In London zum Beispiel. Sogar in Dubai. Und deswegen griff, denke ich mir, der G. zum sozusagen alleräußersten: Er begann ein Verhältnis mit seiner Nichte.

„Nichte“ hört sich nun schlimmer an als es ist. Also keine kleine Nichte von 15 oder so. Sondern eine große Nichte von 24. Die Älteste seiner Schwester, an die ich mich kaum erinnern kann, weil sie schon längst weg war, als der G. und ich im Kirschbaum saßen. Immerhin platzte mit dieser Nichtenangelegenheit neben dem Milchkannengefängnis auch gleich der Herkunftsfamilienkerker mit den Celli und Sonntagabendscharaden und dem gegenseitigen Zeitungsvorlesen von dem G. ab.

In glänzender Einsamkeit, unterstützt nur von einer Handvoll treuer Freunde, packte also der G. kurz vor Weihnachten seine Sachen und zog in ein skandinavisches Land, wo er nun als Arzt in einem anderen Krankenhaus wiederum als eine Art Single sein Leben fristet. Das Haus mit Rosen, Milchkannen und Karokindern bewohnt weiter die L.

Man habe sich, sagte man mir von dritter Seite, schon ziemlich gewundert, wie zufrieden der G. nun wirke, angesichts des ganzen Desasters. Schließlich sei nicht einmal die Nichte ihm geblieben, denn die studiere derzeit in England zuende. Ich aber, ich weiß, dass der G.  im hohen, vermutlich eiskalten und stockdunklen Norden auf seinem Sofa sitzt, sein Bier in aller Seelenruhe trinkt, und aus allen Poren seines Lebens atmet es: Noch einmal entkommen.

22 Gedanken zu „Entkommen

  1. Gut dass die Nichte nach England gegangen ist, der Part des Desasters wäre dann schon einmal ausgestanden (ich kenne eine Frau, die ihren Cousin geheiratet und drei Kinder mit genetisch bedingten Blutkrankheiten mit ihm bekommen hat). Die Freiheit und die Chance zum Neuanfang seien ihm gegönnt.

  2. Für die L. ist’s sicherlich, wie man so sagt, „unterm Strich nicht so ganz schlecht gelaufen“, und aber für den G. bestimmt haarscharf noch einen Tick besser, vor allem wohl innerlich, und gottseidank: auch. „Wie gehts den Dreien am See?“ fragen dann irgendwann nur noch unverbesserliche Unterfünfzigjährige, die noch nicht wissen, dass sich das Generalwissen um diese Dinge dann irgendwann umkehrt mit den Einschätzungen. Man wird eben wieder jünger mit der Zeit, nicht schlecht.

  3. An so einem Milchkannengefaengnis muss man aber auch selber fleissig mitbauen.Die Langeweile kann doch nur so gross werden wie die Leere die in einem selber wohnt. Dass man eine Cupcake-Rosen-Idylle nicht will merkt man doch nicht erst wenn man sie jahrelang hat! War da jemand Mitlaeufer im eigenen Leben? Wegzulaufen fuellt die Leere auch nicht. Allerdings hinterlaessst die Nummer mit der Nichte nur verbrannte Erde. Ueberrascht das?
    Wie geht das weiter? G. haengt sich zyklisch an die naechste die ein Leben hat um zu merken es ist auch nicht SEIN Leben um spaeter zu merken dass er seine Kinder verpasst hat?
    Der eigenen Bloedheit entkommt man so nicht.

    1. Ach, ich weiß nicht. Es ist doch bei vielen Leuten so, dass sie so vor sich hinleben, und auf einmal ist das dann ein ganz anderes Leben als geplant. Wenn man das merkt, ist es für den Ausstieg doch nie zu spät.

  4. was holger sagt.

    bemerkenswert auch, dass es bemerkenswert oft die herren sind, die zunächst mal eine gattin mit x kindern zu einem hausfrauendasein „überzeugen“, die kinder brauchen schließlich ihre mutter und sie wolle doch seinen kindern sicher keine rabenmutter sein, und sein beruf sei ohnehin wichtiger und sowieso besser bezahlt, betreuungsplätze sind gerade in speckgürteln dünn gesät, und sie will doch auch nicht, dass seine kollegen ihn schief ansehen. und plötzlich stellt er fest, huch, isjalangweilich, bekommt eine midlifecrisis, kauft sich ne harley und schleppt mittzwanzigerinnen ab, die ja noch mit weit in den nacken zurückgelegten köpfen zu ihm aufschauen.
    die umgebung klopft ihm auf die schultern, noch mal davongekommen.

    es wäre doch mal eine nette abwechslung, wenn die ex-hausfrau einem solchen davongekommenen die kinder vor die tür setzt und sagt, gut, machen wir doch beide einen neustart. die letzten 10 jahre hab ich haus, hortensien, herd und kinderlein gehütet, hemden gebügelt, cupcakes fabriziert und einem dauerarbeitenden, nicht anwesenden gatten als de-facto-alleinerziehende die midlifecrisis ermöglicht. jetzt darfst du die kinder bespaßen, die sind ja jetzt aus dem gröbsten raus, und ich geh auch mal ne runde mich selbst verwirklichen und davonkommen.

    (auch wenn natürlich das gähnende loch in ihrer berufsbiographie der beruflichen verwirklichung abseits selbstgestrickter niedlichkeiten und cupcakes aus eigenem anbau durchaus merklich hinderlich sein könnte. aber wo ein wille … )

    1. Bei Hausfrauen denke ich ja oft, dass man doch heute niemanden mit vorgehaltener Waffe zur Kündigung zwingt. Dass müssen die doch so gewollt haben.

      1. Aber die Männer wurden doch auch von niemandem in die Milchkannenidylle gezwungen. Oder doch? Für mich ist das beides die Entscheidung, sich einfach den Erwartungen der Gesellschaft, der Vorstellung der Gesellschaft von „Glück“, anzupassen. Sich dementsprechend selbst in ein Karokindergefängnis zu begeben. Und wie man so folgenschwere Entscheidungen (pro Sicherheit, contro Freiheit+Selbstverwirklichung) immer und immer wieder treffen kann, ist mir nicht so ganz verständlich.

      2. Jein. Mit vorgehaltener Waffe nicht, aber mit vor_ent_haltener Unterstützung. Das muss Mann nichtmal bewusst sabotieren, aber ach, mal wieder die geforderte Bescheinigung für die Krippenanmeldung vergessen, war gerade die entscheidende Woche, ach was solls, stehst du halt hinten auf der Warteliste. Geld ist ja genug da.

        Und dann rutschen die Frauen da rein, ist ja nur für zwei Jahre, ach dann kam das zweite usw.

  5. Nun ja, es gibt da längst auch so ein ganz eigenes Spektrum von Frauen, die sich vehement zur Hausfrau- und Mutter´-Rolle bekennen und das geradezu mit Aggressivität verfechten, Kampfmuttis halt. Ich bekam da von einer schon mal zu hören, sie habe sich von der Emanzipation emanzipiert. Ihre alten Ideale hatte sie zumindest teilweise über Bord geworfen, und dass ich denen noch treu bin wurde quittiert mit „der wird nie erwachsen, der vertritt die Grütze ja immer noch“.

  6. Also ich find den Post ziemlich hämisch, mir tun die Karo-Kinder leid. Hat der gute Mann sich schließlich selber ausgesucht den Lebensstil inklusive Gattin, klingt ziemlich nach midlife-crisis. Und sorry, zumindest für den Komplett-Ausstieg ist es, wenn man Kinder in die Welt gesetzt hat, nun mal doch zu spät. Hoffe, der wird bald erwachsen.

  7. Verstehen sich der G. und seine Schwester eigentlich noch oder inzwischen wieder?

    Auch wenn die Nichte schon 24 war, vermute ich, dass deren Mutter von dieser ganzen Angelegenheit nicht so sehr begeistert war, insbesondere vom Verhalten ihres Bruders. Und womöglich der Vater jener Nichte noch weniger.

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