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Dolcezza d’Amore

In vorweihnachtlicher Versöhnlichkeit, meine Damen und Herren, wollen wir einmal nicht darüber urteilen, was in einer uns sozusagen entfernt bekannten Dame vorgegangen sein muss, als sie, obschon verheiratet und Mutter, einfach so letzten Donnerstag ihr Herz an einen ganz anderen Herrn als ihren Eheherrn verschenkt hat. Vielleicht ging es aber auch gar nicht in erster Linie um ihr Herz.

Nun ist es mit Herzen ja so eine Sache. Die Dame gilt generell als ein klein wenig, gar nicht so arg sehr, aber vielleicht ein bisschen flatterhaft. Der Herr, um den es hier gehen soll, ist dagegen, wenn auch anderweitig verheiratet, ein schon als ausgesprochen beständig bekanntes Wesen, und vielleicht macht das die ganze Sache zwar in den Augen aller billig und gerecht Denkenden nicht besser, aber zumindest für den Romantiker ein wenig leichter verdaulich, denn der ihr nunmehr zumindest lose zugehörige Herr behauptet  steif und fest, er sei überhaupt schon immer bis über beide Ohren, na, und so weiter. Was Leute in solchen Situationen eben so sagen.

Am Freitag Abend jedenfalls stand besagter Herr nun einigermaßen spontan vor der Haustür der Dame, die dort mit ihrem Gatten und den gemeinsamen Kindern ein verhältnismäßig kultiviertes, wenn auch möglicherweise etwas reizarmes Leben führt, spielte eine Runde Backgammon mit dem Herrn des Hauses, plauderte mit besagter Dame, las den Kindern etwas vor und verabschiedete sich über die Weihnachtsfeiertage, weil er die mit seinen Kindern bei seinen Eltern verbringt. Die Verhältnisse sind nämlich allseitig ein wenig kompliziert. Dem besuchten Paar ließ er einen belgischen Gewürzkuchen da, den Kindern schenkte er belgische Schokolade, und die Dame bekam so halb heimlich eine Bonbonkette, also so eine zusammengebundene Kette mit so vielen Bonbons, wie Tage vergehen, bis man sich wiedersieht. Die meisten Leute findet das kitschig, aber die sind wahrscheinlich schlicht gerade nicht verliebt.

Auch unsere Dame ist schon sehr angetan von dem wirklich sehr hübschen Mann, aber verliebt ist sie definitiv nicht. Damen verlieben sich einfach nicht so schnell. Diese Dame schnitt die Bonbonkette deswegen einfach auseinander, stellte eine ihrer wirklich schönen, englischen Silberschalen auf den Tisch und drapierte die Bonbons darin. Ein paar Stunden später waren die Bonbons weg.

Im Laufe des Tages dachte die Dame nicht mehr an die Bonbons. Abends allerdings erhielt sie eine E-Mail von dem abgereisten Herrn. Das war an sich nicht weiter erstaunlich, weil der abgereiste Herr ihr ständig schreibt, aber diesmal war ein Bild von einem Bonbon dabei – offenbar hatte er auch sich eine Kette gebastelt – das er malerisch auf ein aufgeschlagenes gutes Buch geschoben hatte, und das Buch wiederum lag auf einem Intarsientischchen vor einer sehr, sehr schönen seidenen Tapete. Unter diesem Bild stand nur „Und Dein Bonbon?“

Die Dame fluchte. Noch unromantischere Leute hätten vermutlich einfach zugegeben, die Bonbons verfüttert zu haben, aber zum einen ist unsere Dame nicht so unromantisch, wie es für ihr Seelenheil vorteilhaft wäre, zum anderen will sie den hübschen Mann behalten und vermutet, dass er ein solches Gestädnnis übel nehmen könnte. Unsere Dame begab sich also am Samstagmorgen zum Einkaufen und erwarb dort, unter anderem, einen ganzen Beutel gleichartiger Bonbons, die sie zähneknirschend zusammenband, um vermutlich mindestens zwei Wochen Bonbon für Bonbon stimmungsvoll drapiert zu fotografieren. Wie man hört, überlegt unsere Dame inzwischen, ob es in der Stadt nicht doch noch irgendwo ähnlich reizende, aber weniger romantische Leute gibt, also mehr so ohne Bonbons, und lässt sich von lieben Freunden hänseln, die ihr vorhalten, kleine Sünden bestrafe der liebe Gott halt sofort.

Ein Fest fürs Leben

Es gibt einen Haufen Gründe, sagt man, wieso es der verstorbene Vater des B. möglicherweise nicht in den Himmel geschafft haben könnte, zumindest dann, wenn der liebe Gott wirklich so ein humorloser Kerl ist, wie manche sagen. Ich aber, ich weiß, dass er doch auf einer der weißesten Wolken überhaupt sitzt, mit den Beinen baumelt und den Engeln unter die Röcke schielt, seit der B. fünf Schulfreunden gemailt hat, weil er selbst keine Zeit hat und wohl auch keine Lust. Anders als sein Vater ist der B. nämlich kein so besonders volkstümlicher Typ.

Leider hat Silvester eigentlich niemand Zeit, der eine Familie hat. Wir hoffen deswegen alle, dass einer der anderen Angeschriebenen wider Erwarten doch kann, oder der B. selbst seinem Herzen einen Stoß gibt, denn von den Leuten, die in dem Bus sitzen werden, war noch keiner je in Frankreich, und zumindest der Vater des B. hat keinem seiner postmortalen Gäste eine Reise ohne Cicerone zugetraut. Vermutlich haben sie es alle seit Jahren nicht mehr an andere Orte als in den Penny Markt am Bahnhof und die Kneipe Bei Helga geschafft, wo ein Bier und ein Korn noch 2,20 EUR kosten, und manche Gäste im Wesentlichen von Helgas Erdnussflips leben, die sie in Plastikschüsseln auf die Theke stellt.

Wieso der Vater ausgerechnet in dieser wirklich miesen Kneipe von Zeit zu Zeit sein Bier zu trinken pflegte, würde sein leicht verspannter Sohn mir vermutlich nicht einmal dann erzählen, wenn er es wüsste. Vielleicht hat es mit seiner Kindheit zu tun, über die er nie sprach. Vielleicht war seine Vorliebe für diese Kneipe Ausdruck einer Art Outlawromantik, aber was es auch war: Er war dort gern gesehen, und zwar nicht nur, weil er freigebig Runden ausgab.

Ich war ja nicht dabei, aber er muss mit den Stammgästen oft über Paris gesprochen haben. Er sprach überhaupt gern über Paris, er hatte ein paar Jahre dort gelebt und auch als ganz junger Arzt in einem französischen Krankenhaus gearbeitet, und sein Französisch war so gut, dass ab und zu Franzosen annahmen, er käme aus irgendeinem anderen Teil Frankreichs. Wenn das geschah, freute er sich über alle Maßen und erzählte in den folgenden Wochen gern davon.

Ich stelle mir vor, dass Paris, ach: Frankreich generell, für die Stammgäste bei Helga, die nie reisen konnten, mit den Jahren auch zu einem Sehnsuchtsort wurde. Belmondo, Jules et Jim, Delon, Catherine Deneuve, irgendwie so. Nach Paris hat es trotzdem nie einer dieser verlorenen Trinker geschafft, und so wird Gottvater, der ja auch der gnädige Gott des guten Königs Henri IV. ist, dem Paris eine Messe wert war,  es dem Vater des B. sicherlich hoch anrechnen, dass er vor seinem Tod einen Bus und ziemlich viele Hotelzimmer bezahlte, auch Geld für ein ausgeklügeltes Besuchsprogramm in einen Umschlag schob, und seinen Sohn bat, die Stammgäste von Helga nach Paris zu begleiten.

Das Mädchen aus der Eisenbahn

Geben Sie ruhig zu: Sie machen das auch. Ich jedenfalls – allerdings fällt mir das aus naheliegenden Gründen auch etwas leichter als anderen Leuten – tue jedenfalls fast schon regelmäßig so, als verstünde ich kein Deutsch, wenn es mir gerade in den Kram passt, und auch meine liebe Freundin A. hebt auf absolut entwaffnende Art und Weise hilflos die Schultern, wenn Leute sie in unerwünschte Gespräche verwickeln wollen. Meistens erspart diese kleine, ganz und gar harmlose Flunkerei einem selbst zähe Konversationen. Manchmal aber, wenn auch ganz selten, geht das schief.

Die A. beispielsweise saß vor fast 20 Jahren in einem ICE und fuhr nach Hause. Die A. stammt nicht aus Berlin, sondern aus einer Kleinstadt in Hessen, und die Hessen, sagt sie, seien überaus gesprächig, dabei zudem entsetzlich distanzlos, und so hatte sie sich mit einer US Vogue präpariert und blätterte durch die mehrere hundert Seiten Werbung, aus denen dieses Periodikum besteht.

Der S. ließ sich jedoch hiervon nicht abhalten. Die A. hat seither bei solchen Gelegenheiten immer Zeitschriften in völlig abwegigen Sprachen gekauft. Die Vogue gibt es immerhin in vielen Ländern. Aber damals sah der S. sie erst an, dann sprach er sie an, natürlich auf englisch, sie nannte ihm einen englischen Allerweltsnamen, und schließlich verabredete er sich mit ihr am folgenden Tage. Der S. war damals sehr attraktiv. Die A. ging also hin.

Die A. war damals, heute darf man sagen, vielleicht ein wenig leichtlebig. Außerdem war ihr heutiger Mann damals noch längst nicht so amüsant wie heute. Die A. blieb also über Nacht.

Nun ist es ein wenig schwer, nach dem Anknüpfen einer Bekanntschaft irgendwann zu gestehen, dass man zum einen nicht heisst, wie man zu heißen behauptet hat. Und auch nicht Engländerin ist. Und erst recht unmöglich erscheint dies am Morgen nach einer gemeinsamen Nacht, und so blieb die A. kurzerhand bei dieser Version, richtete eine E-Mail-Adresse für ihren englischen Namen ein und kommunizierte in den nächsten Jahren immer mal wieder mit dem S. über diesen Kanal. Ab und zu traf man auch mal aufeinander. Dann verlor sich der Kontakt.

Mehr als ein Jahrzehnt dachte die A. nie an den S. Mein Gott, man kann schließlich nicht an jeden denken, insbesondere dann nicht, wenn, wie im Falle der A., schon fast jeder, den man so trifft, ziemlich ausführlich an einen selbst. denkt, denn die A. ist sehr einnehmend und überaus schön. Ein ausgewogenes Gegenseitigkeitsverhältnis im Einzelfall ist da vielleicht ein bisschen viel verlangt. Vermutlich hätte die A. den S. in den nächsten Jahren ganz und gar vergessen, wenn er nicht auf einmal auf einem Gartenfest vor ihr gestanden hätte, das die A. mit ihrem Mann im Sommer besuchte.

Der Gastgeber stellte die A. und den S. einander vor. Die A. natürlich mit ihrem richtigen Namen. Die A. lächelte also freundlich, betrieb Konversation, zeigte keinerlei Zeichen des Erkennens und wich dem S. tendenziell schon eher so ein wenig aus. Der S. schaute stirnrunzelnd ein paarmal zur A. hinüber, aber dann ging alles gut, der S. ging irgendwann, die A. und ihr Mann gingen auch. Die A. atmete auf.

Einige Wochen später jedoch erhielt die A. eine Freundschaftsanfrage auf facebook. Man hat gemeinsame Freunde, an sich ist das nicht näher erstaunlich, man stellte auch schnell Gemeinsamkeiten fest, und weil der S. immer noch ungemein attraktiv ist, verabredete man sich tatsächlich in einem Café. Da saßen sie also, die A. und der S., und aßen Torte und tranken Tee.

Die A. wartete und sah den S. von der Seite an. Der S. lächelte, charmierte, erzählte von zuhause, was er so beruflich macht, und irgendwann, es war spät geworden, strahlte er die A. an und nahm ihre Hand.  Sie würde, so sagte er, ihn an ein Mädchen erinnern, das er einmal kannte. Oh, sagte die A. Ja, nickte der S. Lange sei das her. Eine Engländerin sei das gewesen, fuhr er fort. Leider sei damals nichts draus geworden.

Er habe, so sagte er, sie sehr geliebt.

Journal :: 29.11.2017

Wie randvoll ist unser aller Leben, denke ich auf dem Rückweg nach dem Essen ins Büro und schaue ein paar Studenten zu, die Kaffee trinkend durch die Straßen schlendern. So viel Zeit hatten wir auch mal, versuche ich mich zu erinnern. Schön war das.  So viel gelesen. So viel ausgegangen, so viele Leute so gut kennengelernt wie später nie wieder. Viel gefeiert, viel spazieren gegangen, viel geschrieben und gut gegessen.

Eigentlich hast du keinen guten Tausch gemacht, denke ich, auch wenn das ungerecht ist und nicht einmal stimmt. Eigentlich hättest du dein Leben als Abiturientin, als Studentin, als Doktorandin und als ganz junge Anwältin noch einmal für einen kurzen Urlaub in die eigene Vergangenheit zurück.

Spätere Generationen werden ungläubig darüber lachen, dass wir nur hilflos immer nach vorn in der Zeit treiben. Vielleicht werden schon der F. oder seine Kinder dann, wenn ihnen die Gegenwart zu anstrengend ist, die Zeit einfach ein bisschen verlangsamen oder vor- oder zurückspulen, verreisen sogar, und dann um so mehr genießen, was gerade gut ist in ihrem Leben, wie Freundschaften, Pläne, gutes Essen, Reisen und all das, was man vielleicht mit 20 nur deswegen nicht vermisst hat, weil man wusste, dass es eines Tages kommt.

Journal :: 28.11.2017

Ich kenne wahnsinnig erwachsene Leute, Monumente des Establishments, die mit der ernsthaftesten Miene der Welt extrem seriöse Sachen sagen. Manche dieser Leute mag ich sogar gern. Vermutlich, aber wer weiß das genau, haben aber auch diese Leute Freunde, mit denen sie ganz und gar nicht ernsthafte Gespräche führen, viel zu viel Bier trinken, wahnsinnige Pläne schmieden und sich darüber unterhalten, was sie werden wollen, wenn sie mal groß sind, dabei sind sie auch schon über vierzig.

Freund M. und ich wollen jedenfalls berühmte Schriftsteller werden, zumindest nach drei Bier und einer ordentlichen Portion Hummus, und nach einem weiteren Bier glaube ich sogar, dass das hinhaut. Einen Plot habe ich auch schon, mehr Zeit zum Schreiben habe ich hoffentlich sehr bald, und so fahre ich Stunden später viel zu spät, aber sehr fröhlich nach Hause in den Prenzlauer Berg und freue mich auf den Winter, auf das nächste Jahr, auf die Zukunft, die ich mir sehr lustig vorstelle, ein bisschen abenteuerlich und sehr verwegen, zumindest für die Verhältnisse einer so erwachsenen Person wie mich, die in den Augen Dritter vermutlich auch sehr, sehr seriöse Sachen sagt.

Journal :: 27.11.2017

Kurz ergreift mich das Bedürfnis, mit etwas zu werfen, aber was nützt das, wenn derjenige, nach dem man es werfen möchte, leider nicht anwesend ist, sondern einen telefonisch sozusagen verhöhnt, ohne das auch nur zu bemerken. Passenderweise ist es draußen dunkel und kalt, über die Fenster läuft schwarzer Regen, und obwohl es so aussieht, als würde es nie wieder hell, ist es eigentlich erst kurz nach fünf, und hier ist nicht der Hades, sondern bloß ein Büro.

Auch der Mann am anderen Ende der Telefonverbindung steht in einem Büro und wollte vor zehn Minuten mit mir über Kekse sprechen und über unsere Chancen, unsere Kinder doch noch christlich beschulen zu lassen und sie nicht dem gottlosen Berliner Bildungssystem in den schadhaften Rachen zu werfen. Von diesen Themen ist er dann allerdings abgekommen und nun sprechen wir seit zehn Minuten über Bücher. Ich lobe Kehlmanns „Tyll“, mit dem dem Meister des eleganten, ein wenig leblosen Plots nun wider Erwarten doch ein Roman gelungen ist, in dem der Dreck stinkt und Körper atmen, und in dem die Magie wirklich lebt und webt und nicht nur zitiert und behauptet wird. Aha, sagt er und schweigt für eine Minute. Dich, sage ich, um das Schweigen nicht über Gebühr auszudehnen, habe ich auch kürzlich zwischen zwei Buchdeckeln getroffen, und er lacht und fühlt sich, glaube ich, ein wenig geschmeichelt.

Ich dich auch, sagt er. Ich ziehe scharf die Luft ein und fürchte mich ein bisschen. In der Tat. Ich fürchte mich zu recht. Isabel, sagt er. Isabel in Jackie Thomaes „Momente der Klarheit“, dieses sehr wahre, sehr traurige, sehr treffsichere und unglaublich lustige Buch von vor ein paar Jahren über halb kreative, halb bürgerliche Mittvierziger in Berlin, die alle einmal etwas mit allen hatten, und in vielen kurzen Episoden jeweils den einen Moment erleben, in dem sie feststellen, dass die Liebe vorbei ist, und dann weitermachen oder auch nicht.

Wieso ausgerechnet Isabel, frage ich. War diese Isabel nicht Videokünstlerin? Ich habe eine intensive Abneigung gegen Videokunst. Und ist Isabel nicht eine ziemlich überspannte Person, die in Regisseur Engelhardt erst das Gefühl hervorgerufen hatte, ein jahrzehntelanger Irrtum habe sich endlich aufgeklärt, um dann Knall auf Fall zu einem Fremden zu ziehen, und Engelhardt auch noch den Umzug machen zu lassen? Eine Person, die im Personenverzeichnis als ebenso gewinnend wie angriffslustig bezeichnet wird? Die fiese, Haare ausreißende Schwester von Natalie, die eigentlich nur in emotionalen Extremen existiert? Die dann den total langweiligen Anwalt Clemens am Schlachtensee kennenlernt, der sich irgendwann von ihr trennt, weil sie sich offenkundig nicht die Bohne für ihn interessiert.

Ausgerechnet Isabel, ächze ich und überlege, ob eine Schädeldecke wohl bricht, wenn man mit einem schweren Locher auf sie einschlägt. Hier liegt ein Irrtum vor, proklamiere ich. Ich halte mich in der Tat eher für etwas zu kontrolliert als für das Gegenteil. Und ich mag manchmal Launen haben, aber ich bin Meilen entfernt von einer Frau, die die eigene Schwester für eine bisweilen gefährliche Borderlinerin hält, und nicht zuletzt seit über 20 Jahren in beispielhafter emotionaler Stabilität dem geschätzten Gefährten verbunden. Jaja, lacht man mich aus, und dann spricht man übergangslos wieder über Kekse.

Und hier sitze ich nun und denke darüber nach, welch schreiendes Unrecht es bedeutet, von seinen engsten Freunden so bösartig verkannt zu werden, und wie man sich hierfür als gesetzte Dame in durchaus mittleren Jahren am gediegensten rächt. Vorschläge gern in die Kommentare oder per E-Mail.

Journal :: 25.11.2017

Ist ja gut, sage ich und nehme mir fest vor, es nie wieder mit dem geschätzten Gefährten und der Küche Spaniens zu versuchen. Mir hat es in der Bar Txokoa gefallen, aber der J. ist nicht so besonders angetan.

Auf normalen Wein hat der J. keine Lust mehr, seine stinkenden Naturweine will ich wiederum nicht trinken. Wir einigen uns also auf Bier. Das wollen wir aber nicht irgendwo trinken, sondern in der Berliner Berg Brauerei, weil der J. sich da vor einiger Zeit an einem Crowdfunding beteiligt hat und seitdem jeden Tag zwei Bier trinken darf, was er aber, weil die Neukölln Kopfstraße nicht gerade um die Ecke liegt, nur äußerst selten macht.

Es gibt also etwas nachzuholen. Wir trinken das Lager und das IPA. Das Helle und das Wheat. Vor der Berliner Weißen kann ich mit und ohne Himbeere nur warnen, aber über den inzwischen ungewohnten Biermengen werden wir sehr lustig und führen lange Gespräche mit den anderen Leuten an der Bar, die uns vorlallen, dass sie mit alten Fotos handeln oder Jacken machen, und auf der Toilette lerne ich einen französischen Winzer kennen, der abends Bier trinkt, weil er tagsüber mit Wein zu tun hat. Berlin sei incroyable, redet er begeistert auf mich ein, und ich stimme ihm ebenso euphorisch zu. Keine andere Stadt auf Erden, schwöre ich Berlin ewige Treue. Nirgendwo sonst als hier.

Journal :: 24.11.2017

CGN ist knallvoll. Seit Air Berlin pleite ist, ist die Lufthansa gar nicht mehr auszuhalten, und war schon früher an einem Freitagnachmittag ein Flughafen die Hölle, ist das nun vollends der Fall. Missgestimmt sitze ich also am Gate, jeder Platz ist besetzt, und starre in mein Handy.

In Berlin ist derweil die Hölle los. Mann 1 ist nämlich davon überzeugt, Frau 1 habe ein Verhältnis mit Mann 2. Zwar ist Frau 1 nicht seine Frau, sondern die Frau von Mann 3, aber das hindert ihn nicht daran, sich gnadenlos aufzuregen. Vordergründig macht er sich Sorgen um ihren guten Ruf und ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden. In Wirklichkeit ist er einfach obsessiv eifersüchtig und seine eigene Frau gibt ihm zu wenig Anlass, diese Persönlichkeitsseite auszuleben.

Frau 1 regt sich schrecklich auf. Sie hat nämlich keineswegs ein Verhältnis mit Mann 2, aber um Mann 1 zu zeigen, dass es sie nicht im geringsten schert, was er von ihren Verabredungen denkt, verabredet sie sich schnell mit Mann 2 und schickt Mann 1 einen Screenshot des Schriftwechsels auf WA. Mann 1 tobt. Alle Beteiligten schreiben einander Nachrichten auf den unterschiedlichsten Kanälen und beraten sich mit ihren Freunden.

Leider füllt sich das Gate mit immer mehr Menschen. Vermutlich sitzen jetzt schon doppelt so viele Leute mit dreimal so vielen Koffern am Gate wie in das Flugzeug passen, das hoffentlich gleich kommt. Hektisch versuchen die Stewardessen Reisende dazu zu bewegen, freiwillig ihr Handgepäck doch imFrachtraum zu verstauen, aber nun wollen wirklich alle schnell nach Hause, Leute sehen sich scheel von der Seite an und versuchen abzuschätzen, ob die Koffer der anderen nicht doch viel größer sind als die eigenen, und hauen hektisch auf ihren Handys herum, vermutlich um ihr Wochenende zu planen. Vielleicht haben sie aber auch nur ähnlich verwickelte Verhältnisse wie manche Leute, die ich so kenne, und müssen Nachrichten schreiben wie etwa Frau 1 und ihre lieben Freundinnen, deren Ratschläge jedoch betrüblich uneinheitlich ausfallen. Dass auch die lieben Freundinnen von ihren eigene Kalamitäten berichten, bleibt nicht aus. Ich zum Beispiel vermute, an einem chronischen Erschöpfungssyndrom erkrankt zu sein und bekomme beim Googlen die beunruhigendsten Hinweise auf die dahinter stehende Grunderkrankung, aber das will natürlich niemand wissen.

Als der Flug aufgerufen wird, schleppe ich mich mit mehr oder weniger letzter Energie auf meinen Platz. Ich sitze immer auf 8 C. Neben mir sitzt in dem bis auf den letzten Platz besetzten Flugzeug ein älterer Mann mit einem Oberlippenbart und liest eine Zeitschrift über Gartenbau, und kurz, ganz kurz, überkommt mich der Wunsch, auch einmal scheintot auf dem Lande zu leben, unanstrengende, gleichförmige Tage, wunschlose Monotonie mit prächtigen Hortensien, aber dann fällt mir wieder ein, dass es ja nicht an den Kulissen liegt, sondern vermutlich an uns.

 

Journal :: 23.11.2017

Ich bin so müde. Würde ich nur für einen Moment die Augen schließen, fiele ich vermutlich einfach um. Statt dessen spreche ich weiter und weiter, höre konzentriert zu, nicke, lächele, schüttele Hände und winke Leuten zu, die ich kenne. Die Luft ist schlecht, fällt mir auf, in diesem Hotelbesprechungsraum in Hannover.

In meinen Augenwinkeln flimmern die Deckenlampen und verwirbeln die Farben von Bodenbelag und Vorhang zu einem unruhigen Muster. In der Wirtschaftspresse lese ich immer, wie wenig Leute mit beeindruckenderen Karrieren als ich schlafen, und was andere Leute überhaupt alles schaffen, aber gerade bin ich selbst zum Beneiden zu erschöpft. Im nächsten Jahr werde ich sehr viel schlafen, nehme ich mir vor, und plaudere und lächele entschieden weiter.

Morgen früh muss ich um vier Uhr raus, fällt mir wieder ein. Und heute Abend läuft der Konversationsautomat weiter, denn ich schlafe nicht daheim, sondern bei meinen Schwiegereltern, weil ich meinen F. zumindest für ein paar Stunden sehen will, der bis zum Wochenende bei den Großeltern bleibt. Doch für diesen Moment entschuldige ich mich, gehe zu den Toiletten, schließe mich ein und atme mit geschlossenen Augen sehr langsam zehnmal ein und zehnmal aus und wünsche mir, das alles wäre vorbei und ich allein.

Journal :: 22.11.2017

Wir sitzen kaum im ICE, da bekommt der F. richtig Hunger. Also nicht so richtigen Hunger, mehr so einen Pawlowschen Eisenbahnhunger, der ihn von der Frage, was er bereits gegessen hat, komplett abstrahiert überfällt, wenn er in einem Zug sitzt.

Tatsächlich handelt es sich hierbei um ein familiär tradiertes Verhalten. Damals, irgendwann Anfang der Achtziger Jahre, reiste meine Großmutter auch nie ohne eine Tasche voller belegter Brote mit kaltem Braten und Ei, Apfelschnitzen, Frikadellen, Miniportionen Salat in milchig-weißen Plastikschälchen und dicken Stücken Marmorkuchen. Damals reiste man aber auch noch in Abteilen mit Vorhängen davor, störte mit seinem Picknick deswegen niemanden als einzelne kritische Familienmitglieder, meistens den überzeugten Vegetarier Onkel P., und weil fast alle Leute mit solchen Fresspaketen reisten, wirkte unser Fresspaket auch noch gar nicht einmal so arg exzentrisch.

Heute aber sitzen wir im Großraumabteil und das Fresspaket ist, glaube ich, ausgestorben. Um uns herum starren fresspaketlose Geschäftsreisende auf ihre Notebooks, außer dem F. gibt es weit und breit kein anderes Kind, und es ist dermaßen leise, dass die Ausführungen des F. wirklich niemand überhören kann. Der F. spricht immer, außer, wenn er schläft oder isst. Zum Glück isst er ziemlich viel.

Weil der Service auf sich warten lässt, lässt der F. das ganze Abteil an seinen Überlegungen über die Evolution teilhaben. Wir waren letzten Sonntag im Naturkundemuseum, der F. steckt randvoll mit brandneuem Wissen, und sollte jemand der anwesenden Anzugmänner noch nichts über invasive Arten in Australien oder die Ringe des Saturn gewusst haben, so ist das seit Mittwoch Abend jedenfalls radikal anders.

Nach und nach und so kurz vor Wolfsburg wird der F. allerdings immer zappeliger. Es kann nicht sein, dass rund um ihn herum Biere angeschleppt werden und Sandwiches verteilt. Der F. schaut immer dringlicher die Kellnerin an, vor lauter Sehnsucht materialisieren sich schon Butterbrezeln in der trockenen Luft, aber dann kommt sein Essen doch. Eine Pappbox in Form eines Bahnhofs. Ein Teller Nudeln. Ein Tütchen Kompott, eine halbe Packung Kinderschokolade, eine Apfelschorle, Minibrezeln, Puffreis mit Schokolade, ein Malbuch und ein Plastikzug, und bis Hannover kaut der F. mit einer Begeisterung, um die ihn jeder, ausnahmslos jeder der Anzugmänner im Abteil dermaßen heftig beneidet, dass kleine, grüne Wölkchen aus Missgunst durch die schale Luft wabern, um über des F. Kopf lautlos zu zerplatzen.