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Damals in Polen

Schläfst du schon, frage ich so circa kurz nach zwei, und er tut so, als hätte er nur auf meinen Anruf gewartet. Ich bin all das so müde, fahre ich fort, und dass ich so gern auf der Stelle meine Siebensachen packen und mit dem F. an der Hand einfach davonfahren würde, aber dass das natürlich nicht geht, weil ich 42 bin und nicht 20, und erwachsene Leute nicht einfach ihrem Leben davonlaufen dürfen, um irgendwo an einem Strand mit ihren Freunden zur Gitarre zu singen.

Wie die anderen Leute eigentlich ihr Leben aushalten, fragen wir uns, weil die ja eigentlich so ganz zufrieden wirken, wenn man sie in ihren Anzügen durch Mitte laufen sieht, aber vermutlich sehen wir genauso zufrieden aus, denn komfortabel ist diese Daseinsform ja durchaus. Verlangt einem nichts ab außer Lebenszeit und Seele.

Ob die anderen eigentlich gefunden haben, was sie suchten, und gut damit leben können, dass die Suche zu Ende sein soll und sie nie wieder finden werden, fragen wir uns gegenseitig und haben keine Antwort, wie immer, wenn es wichtig wird, und fangen an zu lachen aus lauter Ratlosigkeit. Erzählen uns das Böseste und Beste des Jahres. Wo wir waren. Was wir gelesen haben. Sehr gutes Essen hier und anderswo. Die schönsten Schuhe, die ich jemals hatte, oh, fast zehn Zentimeter, lackschwarz mit kleinen silbernen Knöpfen. Wie gut es uns damals ging, ohne dass wir das wussten. Und ob wir wohl nochmal wie damals in Polen.

(Wohl nicht.)

Die Straßen komme ich entlang geweht

Aber als ich auf der anderen Seite der S-Bahn stehe, kommt die Tram doch erst in 15 Minuten, und der Rotwein aus dem Burgenland schwappt in meinem Kopf hin und her, als würde es so stürmen wie letzte Woche, als es ganze Bäume mit Wurzeln aus der Erde riss, und die Hexen der Stadt fielen allesamt von den Besen.

Heute nacht aber weht ein milderer Wind. Am Litfaßplatz drehen sich ein paar welke Blätter in gelb und rot im weichem Scheine der Laternen. Im Wartehäuschen sitzt ein ganz junges Paar, so jung, dass man meinen möchte, es müsste seit Stunden zuhause sein, aber hier ist Berlin, und wann lebt man mehr als in Nächten.

Zwischen den Schienen der Tram pickt ein Rabe nach Krümeln und kehrt erst am Morgen zu Odin zurück. Durch die Straßen der Stadt streichen Wölfe. Doch ich, ich wehe die Straßen entlang, glücklich von Himmel und Nacht, und mehr Windsbraut, sagen die Hexen: als jede von uns.

Hämmern und bohren

Ach wissen Sie, so unpraktisch bin ich eigentlich gar nicht. Ich kann ordentlich kochen und weiß, wo man einen Kardinal hinsetzt, wenn er zum Essen kommt. Oder was man machen kann, wenn Bratensauce aufs Tischtuch kommt. Ich kenne mich auch mit der Pflege von Holzmöbeln aus, könnte Socken stopfen, wenn ich mehr Zeit hätte und Socken teurer wären, und außerdem kann ich wirklich viele Flechtfrisuren, für die mein Sohn leider dramatisch zu kurze Haare hat. Aber wissen Sie was: Ich hatte noch nie einen Bohrer in der Hand.

Ganz früher war das natürlich nicht nötig. Da war ich ja noch daheim. Und etwas später rief ich, wollte ich etwas anhängen oder aufbauen oder so, meinen Vater an. Der packte dann ales zusammen, setzte sich ins Auto und fuhr los. Manchmal fragte ich auch meinen jeweiligen Freund, außer, der J. bekleidete gerade diese Funktion, denn der hat diesbezüglich auch keine Ahnung.

In Hinblick auf leckende Siphons, abblätternde Türen, Bilder, die dringend mal aufgehängt werden müssen und Lampen für Decke und Wand war es eindeutig ein Fehler, ausgerechnet den J. zu heiraten, aber wenn man die Gelegenheiten, bei denen man sich einen Heimwerker wünscht, zu den Gelegenheit in Relation setzt, bei denen gutes Aussehen und Originalität überzeugen, überwiegen nach wie vor die Argumente, die für den J. und gegen einen netten Berliner Handwerker sprechen. Meine Bilder, Regale, Lampen jedoch hängen sich von der positiven Einschätzung meiner damaligen Entscheidung leider immer noch nicht auf. Einen Hausmeister, der schnell einmal für einen Fünfer anpackt, habe ich nicht. Immer mag ich auch nicht auf meinen Vater zählen, und so überlege ich ernsthaft, nunmehr, in meinem 42. Lebensjahre, einen Kurs zu belegen, in dem man lernt, wie man Nägel in die Wand bekommt, an seiner Küche herumschraubt, Dübel befestigt und bohrt. Es wird wunderbar werden.

Dich kenn‘ ich doch!

Patrick zum Beispiel. Patrick und Frank. In den Neunzigern trugen Sie Chiemseepullover. Sie waren sportlich und groß, sie wirkten selbst ungeduscht sauberer als andere Leute, sie fuhren den Golf ihrer Mutter und klebten Kenwood-Aufkleber auf die Heckscheibe und sie waren ausnahmslos dumm und laut, aber nicht selten ganz gutmütig dabei.

Nach dem Abi, als Sie weggezogen sind aus der Kleinstadt, in der Sie aufgewachsen sind, haben Sie Patrick und Frank so ein bisschen aus den Augen verloren. In Kreisen, die irgendwas mit Kunst, Wissenschaft oder Medien zu tun haben, treiben sich die Patricks und Franks auch nicht so herum, aber ab und zu kommen Sie irgendwo in eine Bar oder stehen auf einem beruflichen Termin herum, und dann sehen Sie ihn. Also nicht ihn. Sondern nur irgendeinen Patrick oder Frank, der natürlich auch Torsten oder Dennis heißen kann, aber aus irgendeinem Grunde keinesfalls Alban oder Carl. Es ist natürlich auch nicht jeder Patrick und Frank ein solcher.

Er aber, wenn es ein echter Patrick oder Frank ist, hat sich auch gar nicht verändert, und weil Sie 13 Jahre mit ihm zur Schule gegangen sind, wissen Sie auch, wie mit umzugehen ist. Am besten – aber das ist meine ganz private Meinung – gehen Sie sich schnell was zu Trinken holen und überlassen Patrick und Frank sich selbst.

Natürlich erkennt man nicht jeden so leicht wie Patrick und Frank. Weniger schlichte Geschöpfe tarnen sich besser und bilden mehr Eigenheiten aus, die den Blick auf ihr wahres Wesen verschleiern. Der Professor etwa braucht nichts mit dem Lehrbetrieb zu tun zu haben, und längst nicht jeder Professor des universitären Lehrbetriebs ist auch ein Professor in diesem sehr speziellen Sinne, und auch wenn aus irgendwelchen Gründen 90% der Professoren evangelisch sind, gibt es ihn auch in katholisch. Er muss noch nicht einmal besonders gern dozieren, auffällig ist aber die Ausbildung irgendeines monomanisch verfolgten Sonderinteresses, der fehlende Sinn für gutes Essen und der Umstand, dass der Professor aus irgendeinem obskuren Grund am Körper – am Kopf lustigerweise nicht – zottig behaart ist wie Gott ihn schuf. Ich habe nie verstanden, wieso ausgerechnet vom an sich so reizenden Professor als letztem Mensch der westlichen Welt lange Körperhaare herunterhängen wie von einem Affen, aber ich schwöre, dass weder mir noch meinen lieben Freundinnen jemals ein ordentlich gestutztes Exemplar untergekommen ist.

Ein Klassiker ist natürlich der Schlag Mann, der im Kreise meiner lieben Freundinnen „Kramer“ heißt, nach der bekannten Seriengestalt aus Seinfeld, und einen etwas hektischen Herrn bezeichnet, der nicht ganz zurechnungsfähig ist, leider, aber ansonsten ein netter Kerl. Einem geheimen Naturgesetz zufolge taucht Kramer immer nur nach mindestens zwei ernsthaften Liaisons am Stück auf, dauert nie länger als sechs Wochen und wird deswegen in Listen jedweder Art nicht mitgezählt.

„Hemingway“ und „Gott“ sind eigentlich selbsterklärend. „Schorsch“ bezeichnet allerdings  nur unter sehr wenigen mir gut bekannten Damen wegen eines besonders markanten Exemplars einen cholerischen, aber intelligenten und eindeutig zu kleinen Alkoholiker mit schlechten Zähnen.

Ähnlichkeit in körperlicher oder auch verhaltensbezogener Weise ist jedoch ganz und gar nicht nötig. Der Oberbegriff bezeichnet vielmehr meistens eher so eine innere Verwandtschaft, die mal enger oder mal entfernter sein kann, also durchaus mehr Wesen als Erscheinung, und so wäre mancher Herr sehr entsetzt über seine Verwandten. Ich beispielsweise kenne einen vordergründig sehr seriösen Herrn, von dem ich ohne erkennbaren Anlass einfach weiß, dass es sich um einen „Flo“ handelt, also um einen etwas leichtgewichtigen, sehr vergesslichen Menschen, der fürchterlich angibt und dazu neigt, Ausreden zu erfinden, statt sich seinen Fehlern und Versäumnissen zu stellen, aber das wäre garantiert das letzte, was ich ihm erzählen würde. Möglicherweise ist er ja auch gar nicht so, sondern seine Flohaftigkeit besteht mehr so rezessiv. Und erst kürzlich fiel mir nach sozusagen monatelanger Bekanntschaft auf, dass ich auch einen anderen Herrn bereits kenne, aus einer früheren Verkörperung nämlich, und auch dieser fände jenen vermutlich schrecklich, eitel, übermäßig erwerbsinteressiert, grauenhaft intrigant, dazu untenrum, wie man so sagt, mit eher etwas ungewöhnlichen Vorlieben ausgestattet, und würde angesichts dessen ganz übersehen, dass es sich bei seiner früheren Inkarnation um einen der amüsantesten und unberechenbarsten Menschen handelt, die jemals an den Kneipentischen der Republik herumzupolemisieren pflegten. Schöne Augen hatte er auch.

Bei Frauen, vermute ich, existieren solche inneren Verwandtschaften sicherlich genauso. Allerdings sind Frauen oft äußerlich durchaus angepasster an ihre Umgebung, ich etwa habe eines Tages gegen Ende meines Teenageralters einfach beschlossen, meine verhältnismäßig ausgeprägte Nerdhaftigkeit zwar einerseits zu meinem persönlichen Vergnügen zu kultivieren, andererseits mit einem gewissen Maß an bekleidungstechnischer Eleganz zu tarnen. Das haut zwar nur so halbwegs hin, macht meine Identifikation aber natürlich erheblich schwieriger, und weil es mit anderen Frauen ebenso zu gehen pflegt, erkennt man uns schon eher selten.

Allerletzte Zigaretten

Die Besten immer zum Schluss. Auf dem Dach an der Spree, 2003, eine halbvolle Flasche in der linken Hand, in der rechten die letzte Zigarette, und da, wo heute die Mercedes-Benz-Arena steht, spielen irgendwelche Leute vor ein paar Bauwagen Gitarre. Du stinkst nach Bier und Nacht und viel zu vielen Zigaretten, und neben dir sitzt der J.2 und lamentiert, dass er niemals mit der Diss fertig wird, wenn du ihn ständig zwingst, mit ihm auszugehen. Irgendwo hinterm Treptower Park wird es schon hell. Alle paar Minuten schiebt sich die U 1 über die Oberbaumbrücke und du ziehst die Schuhe aus, die wunderschön sind, aber höllisch schmerzen, und legst dich flach auf den Rücken und bläst den Rauch in die warme Luft. Gleich wirst du schlafen.

***

Auf dem Schreibtisch des Vaters von B. Morgens um halb fünf. 1990. Wenn alle in ihren Schlafsäcken schliefen, die N. und der G. auf dem Sofa, die S. und ich im Bett und der J.2 und der T. auf dem Boden. Überall lag Asche, die halbgespielte Partie Risiko auf dem Tisch, ein paar Hefte Mad und PM, ein paar leere Flaschen Heidelbeerwein und Kriss, und ich irgendwann barfuß nach unten schlich, und B’s Vater schon oder noch auf dem Sofa saß und rauchte und las. Wir rauchten alle Lucky oder Gauloises, aber er rauchte Ernte 23 und wenn er zum Automaten musste West. B.’s Vater schenkte mir jedesmal einen Cognac ein, so eine winzige Pfütze in einem riesigen Schwenker. Er saß in einem kamelfarbenen, fusseligen Sessel, gestikulierte mit der Linken, einen riesigen, grünen Glasaschenbecher in der Hand, und erzählte Geschichten über Reisen und Politik und Frauen. Ich blieb immer genau drei Zigaretten und die Pfütze Cognac, und wenn ich wieder in meinen Schlafsack kroch, schlief ich sofort ein.

***

Nach einer Lesung im Lass uns Freunde bleiben. 2005. An der Theke noch ein Glas Wein. Und noch eins. Und noch eins. Als die Bar schließt ins 103. Die hatten den schlechtesten Riesling der Welt damals, deswegen Umstieg auf Gin Tonic und auf der Tresenseite, wo das noch ging, sitzen und rauchen. Die riesige, magere Kellnerin mit den Zöpfen, der Mann mit dem schwarzen Hut, und wir erst zu viert, dann zu dritt, schließlich zu zweit, rauchend bis zur vorletzten Zigarette.

Die allerletzte dann auf dem Weg zu mir. Immer abwechselnd ziehen. Der Himmel hängt schon bleich und blaugeädert in den kahlen Ästen, die Nacht hat sich an den Nordpol verzogen. Kommst du noch mit, liegt es mir auf der Zunge, aber dann ziehe ich doch die Tür von innen zu und steige langsam in den vierten Stock und schaue ihm nach, wie er zur Straßenbahn geht und rauche eine aller-, allerletzte Zigarette, die halb zerbröselt auf dem Küchentisch lag.

Lange nicht getrennt

„Aber warum?“, insistiert Kind F. auf der Frühstücksterrasse, stopft sich weitere Pfannkuchen in den Mund und fordert ein ums andere Mal eine vernünftige Erklärung, wieso unter den anderen Eltern seiner Kindergartengruppe gerade der Spaltpilz umgeht, aber das kann ich ihm auch nicht beantworten. Vielleicht langweilen sie sich, auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, wieso Leute sich gleich scheiden lassen, nur weil sie sich langweilen. Langweilt sich nicht jeder normale Mensch, weil das bürgerliche Leben eben recht wenig Überraschungen für jedes halbwegs normal entwickelte Unterhaltungsbedürfnis bereithält?

„Ihr trennt euch aber nie!“, fordert der F. und der geschätzte Gefährte und ich schauen uns leicht betreten an. Nun ja, besagt J.s Blick. Ganz, wie man es nimmt. Denn der J. und ich sind sozusagen die Könige der theatralischen Trennung.

Wir haben uns beispielsweise auf dem Weg von Amsterdam nach Cochem an der Mosel mehrfach getrennt. Wir waren so ungefähr Anfang 20, im Fiat Punto des J. gab es kein Navigationsgerät, und keiner von uns kann Karten lesen. Erst warfen wir uns unsere Unfähigkeiten nur vor, dann beschlossen wir, uns gleich morgen jeweils jemanden zu suchen, der einfach alles besser kann als der jeweils andere, während mein Vater unablässig anrief und fragte, wann wir denn nun eigentlich in dem Hotel erscheinen würden, in dem er seinen Geburtstag zu feiern beschlossen hatte. Als wir endlich da waren, geriet der Trennungsvorsatz aber schon so ein bisschen in Vergessenheit und wurde im Zuge der väterlichen Feierlichkeiten der nächsten Tage schlicht abmoderiert. In Tunis haben wir die Trennung immerhin zwei Tage durchgehalten, in dem knappen halben Jahr in Hannover haben wir, aber das ist eine ziemlich chaotische Geschichte mit mehreren Beteiligten, uns eigentlich alle paar Tage getrennt, aber nur manchmal mit vollem Programm inklusive Rücktausch der Schlüssel. Die Geschichte mit dem Plüschnilpferd, die hier zuerst stand, musste ich auf den besonderen Wunsch eines einzelnen Herrn leider streichen. Erinnern Sie mich bei Gelegenheit an die auch eher abseitige Suche nach dem silbernen Ring.

Meistens haben wir uns schneller wieder vertragen als es selbst Anfang der Nuller Jahre in Berlin gebraucht hätte, um eine neue Wohnung zu finden, deswegen haben wir nur ein knappes Jahr so richtig in getrennten Wohnungen gelebt, allerdings stand der Anschaffung neuer Lebensgefährten der Umstand entgegen, dass wir wechselseitig die Schlüssel hatten und unangemeldet in die jeweils andere Wohnung zu platzen pflegten, um dort Wäsche zu waschen oder ein wenig zu schlafen. Außerdem war des J. Wohnung von innen teilweise komplett verkorkt. Als ich irgendwann feststellte, dass der J. seiner Familie die Trennung sowieso verschwiegen hatte, um seine Oma nicht aufzuregen, zogen wir wieder zusammen und kauften uns von dem ersparten Mietzins noch mehr gutes Essen.

Fragt man den J., dann reagiere ich beispielsweise überaus hartherzig auf seine vielfachen gesundheitlichen Kalamitäten und bin beruflich wie privat ungefähr gleich nervig hyperaktiv. Fragt man mich, so ist des J. Neigung, ausgesprochen lange quasi nichts zu tun, in Verbindung mit äußerster Reizbarkeit in Hinblick auf Benehmen und Beschaffenheit anderer Leute schon eher anstrengend. Wir haben weder über Religion noch über Politik ähnliche Ansichten und nur teilweise dieselben Freunde und finden die merkwürdigen Menschen, mit denen der jeweils andere sich teilweise so umgibt, unangenehm und komisch. Der J. etwa unterhält eine ganze Riege nichtsnutziger inzwischen nicht mehr so junger Männer aus gutem Hause mit schlechten Noten, aber hohen Einkommen, peinlichen Autos und ziemlich bornierten Ansichten. Ich dagegen kenne haufenweise Streber. Immerhin teilen wir dieselben Ansichten über den Wert guter Manieren bei Kindern und Erwachsenen und die Spätromantik in der Musik.

In Konsequenz dieser Vorgeschichte haben wir eine der ausgefeiltesten Trennungsregelungen, die nicht getrennte Paare überhaupt so unterhalten. Wir präferieren das Wechselmodell, dann ist wenigstens ab und zu mal Ruhe. Das alles verraten wir dem F. indes nicht, sondern sagen nur in aller Ruhe: Wir trennen uns nicht.

Ist den Aufwand nicht wert.

(Aus Anlass, aber natürlich nicht in Beantwortung der Fragen von Frau B.)

Psst. Oder: Paare im Urlaub

Die Ehe also. Eigentlich eine lustige Institution. Da heiraten sich also zwei mit den besten Vorsätzen, fortan gemeinsam ihr Leben zu fristen, und das auch noch dauerhaft. Ein liebenswürdiger Herr zum Beispiel, der es gern ruhig hat, je ruhiger umso besser, gern so ein bisschen wie ein Kartäuserkloster mit angeschlossenem Friedhof, nur ohne Glockengeläut und mit besserem Essen. Und eine, die es eigentlich gern laut, bunt und lustig hat, so ein bisschen wie ein italienischer Marktplatz. Im Alltagsleben, das werden Sie mir bestätigen, ist das alles kein Problem, soll er doch schweigend Golf spielen und sie kann es andernorts krachen lassen, aber im Urlaub, im Urlaub wird es nicht einfach.

Sie beispielsweise verbringt eigentlich nicht so gern mehrere Tage am selben Ort. Kleines Gepäck, jeden Tag etwas Neues, morgens ein Kreuzgang, abends eine Ruine und nachts irgendwo auf einem Platz etwas Gutes essen und zu viel Wein. Dann in die nächste Stadt. Gern viele Leute. Er schätzt dagegen sehr aufgeräumte, komplett geräuschlose Resorts in ruhigen Farben, gern geschmückt mit Porzellan und ausgestopften Tieren, auf keinen Fall unbekleidete oder tätowierte oder gar unbekleidete, tätowierte Leute um ihn herum, und um nichts in der Welt die öffentliche Darbietung von Tanz und Musik und, wenn möglich, keine Buffets, die anderen Menschen die Gelegenheit geben, sich schlecht zu benehmen.

Natürlich sind diese Vorstellungen der perfekten Reise im Grunde unvereinbar. Getrennt zu verreisen ist indes auch nicht im Sinne unseres sich an sich herzlich zugetanen Paares, das sich also über die Jahre hinweg in ein stets fragiles Reisegleichgewicht begibt, in dem entweder er die stetigen Ortswechsel bejammert oder sie sich von Tag zu Tag absehbar mehr langweilt, bis er irgendwann an ihrer Seite freundlich kapitulierend Basare, Kathedralen oder Museen besucht und ab und zu leise, aber abgründig stöhnt.

Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, stellen Sie sich dieses Paar also vor. Es sitzt augenblicklich am Meer, das gemeinsame Kind, der freundliche F., planscht im Pool, auf einer nahegelegenen Liege ruht er und liest. Sie liest auch, dahingestreckt auf ein unweit belegenes Sofa. Ab und zu sieht er sie besorgt an. Bis jetzt ist es ruhig, aber wie mag das aussehen, wenn sie sich erst mal richtig ausgeschlafen hat? Wo mag sie ihn diesmal hinzerren, wo Leute lärmen und überhaupt schwitzende, unförmige, mit Camp David Achselshirts bekleidete Leute sind? Ab und zu, natürlich nur, wenn er nicht hinschaut, mustert auch sie ihn mit einem Gran Besorgnis. Er wirkt verhältnismäßig aufgeräumt, wie er da so liegt, aber dieses leichte Zucken seiner Brauen jedesmal, wenn das gemeinsame Kind im Pool anfängt zu singen? Nur der F., nicht gewahr der elterlichen Sorgen, planscht und schwimmt unverdrossen hin und her, singt fröhlich ein Lied über Shaun das Schaf, sich immer wieder selbst unterbrechend mit dem Ausruf „ach ja, leise!“, bevor er heiter unterm ägäischen Himml weitere Runden zieht und das Dinner erwartet.

 

Verwehe

Aber vielleicht schlafe ich heute Nacht gar nicht ein. Auch wenn ich müde bin. Vielleicht ziehe ich mich wieder an, stattdessen: Mein rotes Kleid, die Silberschuhe und rote Lippen für den Mann im Mond. Die Tür ziehe ich hinter mir zu.

Zu meiner Rechten hinter Hagebutten und Gestrüpp glänzt der See. Zu meiner Linken streifen Füchse durchs Feld und zählen mir Hasen. Irgendwo steht eine Eiche für mich, und die Raben singen mir Lieder. An den Ästen klettere ich höher und höher dem Himmel entgegen. Ins Laub bette ich mich. An den Wolken kann ich wohl trinken. Im dünnen Geäst werde ich leichter und leichter, schon scheint mir der Mond durch die Rippen und als Nachtwind weht mir das Haar.

Dort, wo der Mond am dunkelsten ist und die Nacht ganz kalt, steht, sagt man, ein Häuschen. In dem Haus ist ein Schrank, in dem Schrank ist ein Schrein. In dem Schrein ist ein Kästchen. In das Kästchen im Schrein, in den Schrein in dem Schrank, in den Schrank in dem Haus lege ich alles, was vergessen und niemals gewesen und nicht mal gewünscht sein soll, schiebe es ganz nach hinten in mir, schließe die Tür und verwehe.

Wie es war

Zwei Wochen vor seinem 70. Geburtstag, sagt meine Mutter, sei er gestorben, und dass sie einen Kranz geschickt hätten, wenn er sich nicht vor La Gomera hätte ins Meer kippen lassen.

La Gomera hört sich falsch an, denke ich, denn für mich gehört er nach Sylt, wo er irgendwann Ende der Siebziger wie viele andere Hamburger auch ein kleines Haus gekauft hatte, unten zwei Zimmer und oben noch einmal zwei, und im Garten einen Schuppen, auf dessen Dach sein Sohn B. und dessen Freunde später, schon waren die Neunziger angebrochen, lagen und in den Himmel starrten und Pfirsichsekt und Bier dazu tranken.

Das Haus war so scheußlich eingerichtet, wie Ferienhäuser es damals eben so waren. Alles stand voller Korbmöbel, die Polster waren orange oder braun, das Geschirr war grün und vermutlich in der Familienküche ausrangiert worden, aber vom Wohnzimmer aus konnte man zwischen Heckenrosen und Schlehen das Meer sehen, es roch nach Tang, und wenn man im Meer schwimmen war, konnte man im Garten des Hauses das Salz abduschen, bevor man ganz trocken war.

Er war Arzt. Er hatte eine Praxis in Hamburg, ausreichend Privatpatienten, er trug auch Sonntags und am Meer meistens weiß, und er spielte ebenso schlecht wie gern Gitarre. Ab und zu, wenn meine Freunde noch schliefen, traf ich ihn morgens auf der Terrasse, wie er ein bisschen klimperte, Bruchstücke sang und schwarzen Tee mit Milch aus klobigen, dänischen Bechern trank.

Er war freundlich. Er füllte den Kühlschrank für die Freunde seines Sohnes mit dem Käse, der immer als erster weg war. Er merkte sich, wer wie Kaffee trank. Er schenkte mir zweimal Bücher, weil ich sie besonders mochte, und als ich 16 wurde, stellte er mir Blumen ans Bett und bestellte in der Bäckerei in Keitum einen kleinen Kuchen. Es waren leichte, schwingende Sommer damals, wir waren immerzu verliebt, meistens unglücklich, küssten ständig versehtlich die Falschen, stritten uns, vertrugen uns wieder, tranken zu viel und benahmen uns so gut oder so schlecht wie es Leute eben tun, die nichts Ernsthaftes auszustehen haben, ohne das schon zu wissen. Irgendwann in diesen Sommern war ich auch mit seinem Sohn B. zusammen, nur ein paar Tage, höchstens Wochen, so dass ich ihn schon im selben Sommer gar nicht mehr mitzählte, wenn ich über meine Exfreunde sprach.

Ich nahm ihn gar nicht wahr. Oder nur so, wie man die Eltern seiner Freunde eben wahrnimmt, als mehr oder weniger angenehme Ressourcen eben, Institutionen, die sich in Funktionen erschöpfen. Ab und zu bemerkte ich, dass er uns mit mehr Aufmerksamkeit betrachtete, als andere, die sich nicht einmal merken konnte, wer da alles durchs Haus lief. Gelegentlich fotografierte er meine Freundin N. und mich und schenkte uns die Bilder.

Jahre später traf ich ihn noch einmal am Strand. Ich war mit meinem Freund in Hörnum, wir hatten uns gestritten, und ich war losgefahren, um irgendwo allein zu sein. Da saß er in Keitum, er war etwas grauer und kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, aber er spielte noch Gitarre und er wusste sofort, dass ich Sekt trinken wollte und welchen Käse und Sesambrötchen am nächsten Tag. Es war ein bisschen kalt an diesem Abend, vielleicht war es schon September. Es gab Freixenet, weil ich den damals wirklich sehr gern trank. Ich glaube, er las mir Erich Fried vor, allen Ernstes Erich Fried, er spielte Lieder von Hannes Wader und Reinhard Mey, aber es passte zu ihm, und ich glaube, ich sang mit. Am nächsten Morgen lief ein Film mit Jeremy Irons und Juliette Binoche, die ich wunderschön fand, und er zeigte mir ein Bild von mir, schlafend, am Morgen meines 16. Geburtstags, und dann fuhr er mich nach Hörnum. Ich vertrug mich wieder mit meinem Freund, und er fuhr davon. Ich winkte vielleicht oder auch nicht, und dann sah ich ihn nie wieder. Und jetzt ist er tot.

Mit Winston Churchill in Mitte

Hörspiele also. Fiese Sache. Erst ist man begeistert, weil man denkt, nun hätte die fürchterliche Vorleserei der immer gleichen Lieblingsbücher ein Ende. Man fragt, sucht das Gewünschte, drückt dem Kind das iPad in die Hand, und dann ist Ruhe. Ich aber warne Sie: Es ist die Ruhe vor dem Sturm.

Der F. beispielsweise, an sich ein freundlicher und gutartiger Knabe, interessiert sich kaum für fiktionale Literatur, warum auch immer. Dafür ist er süchtig nach den Hörspielen der Reihe „was ist was“. Soweit ich es beurteilen kann, hört er sie völlig wahllos. Von „Spinnen“ über „Roboter“, von „Das Römische Reich“ über „Die bemannte Raumfahrt“ bis „Deutschland“ ist F. für alles zu haben. Wenn ihm etwas gefällt, dann hört er es so lange, bis er alles auswendig kann. Sein Lieblingshörspiel handelt von Deutschland, das hört sich erst mal harmlos an, aber tatsächlich spricht der F. seit Wochen vorwiegend von Hitler. Der kommt in diesem Hörspiel nämlich sozusagen über und über vor. Sie erinnern sich an Ihren Geschichtsunterricht.

In Berlin liegt die Beschäftigung mit Hitler natürlich nahe. Die ganze Stadt liegt voller Stolpersteine, Häuser haben manchmal Einschusslöcher, überall stehen Denkmäler herum, und seit der F. weiß, dass auch die deutsche Teilung auf Hitler und den Krieg zurückging, kommt er auf Hitler zu sprechen, sobald wir das Haus verlassen. Wenn wir das Haus nicht verlassen eigentlich auch. Heute immerhin ging es nicht um Hitler, seinen Aufstieg, sein fieses Benehmen gegenüber Bürgern und Gegnern, und dass sogar Kinder mitmachen mussten. Statt dessen ging es um Hitlers Gegner. Stalin ist sogar bei F. unbeliebt. Sein persönlicher Held heisst Winston Churchill.

Ich habe vor einigen hundert Jahren die Haffnerbiographie von Churchill gelesen und quasi alles vergessen. Aber fragen Sie mich heute irgendwas: Ich weiß es alles. Stellen Sie sich mich vor, mein iPhone in der rechten Hand, F. an der linken, wie ich durch Mitte laufe, und dem F. die Tories erkläre und die Whigs, wieso in England nur älteste Söhne adelig sind und was Adel überhaupt bedeutet, und dass man früher Offizier nicht einfach nach dem Abi wurde, sondern eine Militärakademie besuchte. Was Kriegsberichterstatter sind, und dass auch Mama einen kennt. Dass es früher eine Kavallerie gab, und dass Churchill in einer der letzten großen Kavallerieattacken mitritt, 1898 in Afrika. Und dass der letzte große, vergebliche und herzzerreißende Einsatz der Kavallerie wohl 1939 stattfand, als die polnische Kavallerie bei Krojanty gegen die deutschen Panzer ritt.

Über Wahlen weiß der F. gut Bescheid, aber das Geschäft der Politik ist ihm fremd. Das wird nicht so bleiben, denn der F. ist umgeben von Erwachsenen, deren Geschäft es ist, Mehrheiten zu organisieren oder zu zerrütten, Pläne zu schmieden, Gespräche zu führen, Halbsätze zu verhandeln, und ganz generell im Dienste der mehr oder weniger guten Sache andere Leute dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie ohne sanfte Massagen nicht täten. Gerade ist dem F. aber noch nicht zu erklären, was es mit Churchills Fraktionswechseln auf sich hat, und auch, was ein Radikaler überhaupt ist, bleibt ihm noch ein Rätsel.

Die Weltkriege immerhin, die kennt er. Die kommen nämlich oft vor bei „was ist was“, und deswegen springt der F. neben mir um so lebhafter herum, wenn ich von Churchills Rolle im ersten Weltkrieg erzähle. Hierzu hat auch der F. viel zu sagen, diesen Krieg findet er hochinteressant, und er hört gern von Schlachten zu Land, zu Wasser und in der Luft, und ich gebe es auf, ihn zum Pazifismus zu ermahnen, weil das bei kleinen Jungen vergeblich sein dürfte. Die finden Schlachten nämlich einfach gut.

Beim zweiten Weltkrieg – inzwischen stehen wir vorm Lafayette – ist der F. dann wieder in seinem Element. Er ist ziemlich stolzer Berliner, dass sozusagen die eigene Mannschaft hier gepatzt hat, ärgert ihn, aber an dieser Stelle der Geschichte, wechselt er emotional schlicht die Fronten. Die Geschichte, wie erst alle Leute Hitler unterschätzen, aber Churchill weiß früher als die anderen Bescheid und warnt und nervt, bis ihn alle beschimpfen, hört er mit jedesmal frisch abrufbarer Empörung. Die Kriegsjahre, an dieser Stelle ziehe ich wieder mein Handy aus der Tasche und lasse mir den Frontverlauf und die einzelnen Schlachten und das Woher und Wohin von Wikipedia erklären, sind ja quasi abendfüllend. Ausgewählte Teile trage ich dem F. vor, der quasi nebenbei in der Kinderabteilung des Lafayette mehrere Hosen anprobiert.

Den Sieg quittiert der F. mit begeistertem Quietschen. Er besteht darauf, seine Tasche selbst zu tragen, läuft mit Begeisterung ein paarmal um den gläsernen Trichter herum, um den das Lafayette einen Kinderspielplatz gebaut hat, und freut sich darauf, die Bücher Churchills eines Tages selbst zu lesen. Ich dagegen werfe einen wehmütigen Blick auf die wunderschönen Kinderkleider für kleine Mädchen, gegen die die blauen, grauen und beigefarbenen Bubenbekleidungen verblassen, und tröste mich, dass es schließlich genug kleine Mädchen rund um mich herum gibt, die ich beschenken könnte.

Komm, sage ich. Mama braucht noch Lippenstift, aber da lässt der F. die Unterlippe hängen, weil er schon Kleider für Mama grauenhaft öde findet, aber noch langweiliger findet er Kosmetik. Der F. ist trotz seiner Fünfjährigkeit bereits von der aufreizenden Gleichgültigkeit älterer Menschen männlichen Geschlechts, die im Interesse der Konfliktvermeidung ohne auch nur hinzuschauen beständig auch anlasslos erklären, man sähe fabelhaft aus, und deswegen meint er, Mama bedürfe weiterer Verschönerungen gar nicht. Entsprechend trampelt er, während ich einen Lippenstift nach dem anderen ausprobiere, unruhig mit den Füßen hin und her.

Bitte nur drei Minuten, bitte ich ihn, und strahle ihn so breit an, wie ich kann. Das mag er, dann strahlt er zurück, und manchmal läuft er dann einfach so auf offener Straße auf mich zu und umarmt mich. Hey, sage ich, als er seinen Kopf an meinen Bauch drückt. Mir fällt etwas ein. Dann nehme ich den neuen, himbeerroten Lippenstift mit und ziehe den F. drei Regale weiter. Hier ist es. Das Parfum Winston Churchills, benannt nach dem Schloss seiner Großeltern. Und obwohl die Verkäuferin ziemlich streng schaut, sprühe ich meinen F. verschwenderisch ein. Blenheim Bouquet, sage ich, und F. schnuppert an seinen Händen und freut sich und tanzt zwischen Tüchern und Hüten zur Friedrichstraße zurück.