Hörspiele also. Fiese Sache. Erst ist man begeistert, weil man denkt, nun hätte die fürchterliche Vorleserei der immer gleichen Lieblingsbücher ein Ende. Man fragt, sucht das Gewünschte, drückt dem Kind das iPad in die Hand, und dann ist Ruhe. Ich aber warne Sie: Es ist die Ruhe vor dem Sturm.
Der F. beispielsweise, an sich ein freundlicher und gutartiger Knabe, interessiert sich kaum für fiktionale Literatur, warum auch immer. Dafür ist er süchtig nach den Hörspielen der Reihe „was ist was“. Soweit ich es beurteilen kann, hört er sie völlig wahllos. Von „Spinnen“ über „Roboter“, von „Das Römische Reich“ über „Die bemannte Raumfahrt“ bis „Deutschland“ ist F. für alles zu haben. Wenn ihm etwas gefällt, dann hört er es so lange, bis er alles auswendig kann. Sein Lieblingshörspiel handelt von Deutschland, das hört sich erst mal harmlos an, aber tatsächlich spricht der F. seit Wochen vorwiegend von Hitler. Der kommt in diesem Hörspiel nämlich sozusagen über und über vor. Sie erinnern sich an Ihren Geschichtsunterricht.
In Berlin liegt die Beschäftigung mit Hitler natürlich nahe. Die ganze Stadt liegt voller Stolpersteine, Häuser haben manchmal Einschusslöcher, überall stehen Denkmäler herum, und seit der F. weiß, dass auch die deutsche Teilung auf Hitler und den Krieg zurückging, kommt er auf Hitler zu sprechen, sobald wir das Haus verlassen. Wenn wir das Haus nicht verlassen eigentlich auch. Heute immerhin ging es nicht um Hitler, seinen Aufstieg, sein fieses Benehmen gegenüber Bürgern und Gegnern, und dass sogar Kinder mitmachen mussten. Statt dessen ging es um Hitlers Gegner. Stalin ist sogar bei F. unbeliebt. Sein persönlicher Held heisst Winston Churchill.
Ich habe vor einigen hundert Jahren die Haffnerbiographie von Churchill gelesen und quasi alles vergessen. Aber fragen Sie mich heute irgendwas: Ich weiß es alles. Stellen Sie sich mich vor, mein iPhone in der rechten Hand, F. an der linken, wie ich durch Mitte laufe, und dem F. die Tories erkläre und die Whigs, wieso in England nur älteste Söhne adelig sind und was Adel überhaupt bedeutet, und dass man früher Offizier nicht einfach nach dem Abi wurde, sondern eine Militärakademie besuchte. Was Kriegsberichterstatter sind, und dass auch Mama einen kennt. Dass es früher eine Kavallerie gab, und dass Churchill in einer der letzten großen Kavallerieattacken mitritt, 1898 in Afrika. Und dass der letzte große, vergebliche und herzzerreißende Einsatz der Kavallerie wohl 1939 stattfand, als die polnische Kavallerie bei Krojanty gegen die deutschen Panzer ritt.
Über Wahlen weiß der F. gut Bescheid, aber das Geschäft der Politik ist ihm fremd. Das wird nicht so bleiben, denn der F. ist umgeben von Erwachsenen, deren Geschäft es ist, Mehrheiten zu organisieren oder zu zerrütten, Pläne zu schmieden, Gespräche zu führen, Halbsätze zu verhandeln, und ganz generell im Dienste der mehr oder weniger guten Sache andere Leute dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie ohne sanfte Massagen nicht täten. Gerade ist dem F. aber noch nicht zu erklären, was es mit Churchills Fraktionswechseln auf sich hat, und auch, was ein Radikaler überhaupt ist, bleibt ihm noch ein Rätsel.
Die Weltkriege immerhin, die kennt er. Die kommen nämlich oft vor bei „was ist was“, und deswegen springt der F. neben mir um so lebhafter herum, wenn ich von Churchills Rolle im ersten Weltkrieg erzähle. Hierzu hat auch der F. viel zu sagen, diesen Krieg findet er hochinteressant, und er hört gern von Schlachten zu Land, zu Wasser und in der Luft, und ich gebe es auf, ihn zum Pazifismus zu ermahnen, weil das bei kleinen Jungen vergeblich sein dürfte. Die finden Schlachten nämlich einfach gut.
Beim zweiten Weltkrieg – inzwischen stehen wir vorm Lafayette – ist der F. dann wieder in seinem Element. Er ist ziemlich stolzer Berliner, dass sozusagen die eigene Mannschaft hier gepatzt hat, ärgert ihn, aber an dieser Stelle der Geschichte, wechselt er emotional schlicht die Fronten. Die Geschichte, wie erst alle Leute Hitler unterschätzen, aber Churchill weiß früher als die anderen Bescheid und warnt und nervt, bis ihn alle beschimpfen, hört er mit jedesmal frisch abrufbarer Empörung. Die Kriegsjahre, an dieser Stelle ziehe ich wieder mein Handy aus der Tasche und lasse mir den Frontverlauf und die einzelnen Schlachten und das Woher und Wohin von Wikipedia erklären, sind ja quasi abendfüllend. Ausgewählte Teile trage ich dem F. vor, der quasi nebenbei in der Kinderabteilung des Lafayette mehrere Hosen anprobiert.
Den Sieg quittiert der F. mit begeistertem Quietschen. Er besteht darauf, seine Tasche selbst zu tragen, läuft mit Begeisterung ein paarmal um den gläsernen Trichter herum, um den das Lafayette einen Kinderspielplatz gebaut hat, und freut sich darauf, die Bücher Churchills eines Tages selbst zu lesen. Ich dagegen werfe einen wehmütigen Blick auf die wunderschönen Kinderkleider für kleine Mädchen, gegen die die blauen, grauen und beigefarbenen Bubenbekleidungen verblassen, und tröste mich, dass es schließlich genug kleine Mädchen rund um mich herum gibt, die ich beschenken könnte.
Komm, sage ich. Mama braucht noch Lippenstift, aber da lässt der F. die Unterlippe hängen, weil er schon Kleider für Mama grauenhaft öde findet, aber noch langweiliger findet er Kosmetik. Der F. ist trotz seiner Fünfjährigkeit bereits von der aufreizenden Gleichgültigkeit älterer Menschen männlichen Geschlechts, die im Interesse der Konfliktvermeidung ohne auch nur hinzuschauen beständig auch anlasslos erklären, man sähe fabelhaft aus, und deswegen meint er, Mama bedürfe weiterer Verschönerungen gar nicht. Entsprechend trampelt er, während ich einen Lippenstift nach dem anderen ausprobiere, unruhig mit den Füßen hin und her.
Bitte nur drei Minuten, bitte ich ihn, und strahle ihn so breit an, wie ich kann. Das mag er, dann strahlt er zurück, und manchmal läuft er dann einfach so auf offener Straße auf mich zu und umarmt mich. Hey, sage ich, als er seinen Kopf an meinen Bauch drückt. Mir fällt etwas ein. Dann nehme ich den neuen, himbeerroten Lippenstift mit und ziehe den F. drei Regale weiter. Hier ist es. Das Parfum Winston Churchills, benannt nach dem Schloss seiner Großeltern. Und obwohl die Verkäuferin ziemlich streng schaut, sprühe ich meinen F. verschwenderisch ein. Blenheim Bouquet, sage ich, und F. schnuppert an seinen Händen und freut sich und tanzt zwischen Tüchern und Hüten zur Friedrichstraße zurück.