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Stepford Kids

Bei Erwähnung der Côte d’Azur denkt ja jeder an kleine Hündchen, die Gucci tragen, und gewaltbereite Islamisten, die gern Gucci tragen würden. Die Côte d’Azur ist dem entsprechend eigentlich gerade umfassend passé, dabei trotz dieses Umstandes nach wie vor unfassbar voll, und zu den vielen Menschen, die dort ihre Sommer verbringen, gehören auch nach wie vor ziemlich viele Kinder.

Drei Jahre hintereinander waren auch wir mit dem erst sehr kleinen, dann größeren F. immer mal wieder in eher etwas kleineren Orten der Côte d’Azur, einen Sommer mit einer Horde Freunde, die auch ihre Kinder mithatten, und je älter die Kinder wurden, um so peinlicher wurde der Gegensatz zwischen unseren Kindern, die man immerzu hört, und den Kindern der französischen Bourgeoisie, den vermutlich bestdressierten Kindern der Welt. Ich weiß, dass es Bücher darüber gibt, wie man auch das eigene Kind dazu bringt, in gedämpftem Ton vernünftig angezogen zu sprechen, ohne andere zu unterbrechen, und durchgängig sitzend vier Gänge zum Abendessen zu verzehren.

Doch nicht nur Frankreich ist bekannt für die Kunst der Kinderdressur. Auch den ostasiatischen Ländern sagt man nach, ihre Kinder so gut zu erziehen, dass die mit 18 das gesamte Schulpensum Asiens, Amerikas und Europas aufsagen können und fehlerfrei Schubert spielen, und so rechnete ich, ich gebe es zu, durchaus damit, unter den missbilligenden Blicke der asiatischen Eltern das am schlechtesten erzogene Kind ganz Japans durch dessen gastronomische Betriebe zu ziehen, denn der F. ist zwar einerseits ein reizender Kerl, andererseits ist er ein ununterbrechbarer Dampfplauderer, grauenhaft indiskret, immer fällt ihm irgendwas aus dem Mund, und außerdem wirkt die Schwerkraft aus schwer verständlichen Gründen in seiner Umgebung doppelt so intensiv wie woanders.

In Tokyo und Kyoto sind wir kaum Kindern begegnet. Gestern jedoch, am Meer in Obama, saßen wir in dem sehr hübschen Speisezimmer des Ryokans, in dem wir wohnen, also so einer traditionellen Herberge. Es gibt sehr edle Ryokans, die haben wir schon wegen des F. Schwerkraftproblem nicht genommen. Unser Ryokan am Meer ist also eher familiär. Entsprechend war also alles voller Kinder, die von ihren hübsch angerichteten Kindermenüs alles außer dem Salat aßen, laut sangen, herumliefen, kreischten und kieksten. Es war fürchterlich laut. Unter normalen Umständen wäre man gelinde genervt, aber so lächelten wir uns entspannt an, bestellten mehr Bier und Sake, aßen sehr langsam unser hervorragendes Dinner und betrachteten wohlgefällig unseren weltraumwaffenimitierenden, sojasaucenverschmierten, schmatzenden Sohn.

Kitsune

Füchse, lese ich dem F. aus Wikipedia vor, sind in Japan ziemlich wichtig. Sie verbinden als so eine Art übernatürliche Postboten die menschliche Welt mit der Geisterwelt, und damit sie diesen Job machen können, können sie jede Gestalt annehmen, bevorzugt die schöner Frauen.

Der F. jubelt. Auch er würde gern alle möglichen Gestalten annehmen, das Konzept überzeugt ihn, auch wenn er als Kitsune an rötlichen Haaren und dem schwer zu versteckenden, weil nicht wegzauberbaren  Fuchsschwanz immer noch gut erkennbar wäre, aber irgendwas ist schließlich immer.

Auch ich fände eine Spontanverwandlung gerade ganz gut. Es ist nämlich fast 35 C warm, außerdem ist es hier am Fuße des Fushimi Inari Schreins, bekannt für die Tausende roter Tore, die einen Rundweg über einen kleinen Berg säumen, dermaßen voll, dass es nicht übel wäre, jetzt eine Verwandlung in jemanden vorzunehmen, der klein und temperaturunabhängig wäre. Zum Beispiel einen Frosch. Ich dagegen bin knallrot, schwitze, und beneide die überraschend zahlreichen Frauen in ihren eleganten Kimonos heftig, die irgendwie hitzeresistenter zu sein scheinen als ich.

Auch der J. flucht. Der J. photographiert gern, auch hier steht er in voller Ausrüstung zwischen Horden anderer Touristen und sucht den besten Blick auf Schrein und torgesäumten Weg. Ich schlängele mich mit dem F. an der Hand zwischen den anderen Reisenden hindurch, versuche, den J. nicht ganz zu verlieren, halte den F. mit kleinen Fuchsgeschichten bei Laune und winke ab und zu, damit der J. weiß, wo wir sind.

In hellen Heerscharen anderer Leute geht es aufwärts. Irgendwo hinter uns wartet der J. auf den richtigen Moment, um ein möglichst menschenleeres Bild anzufertigen. Neben mir plappert der F. ununterbrochen. Man muss immer ein bisschen aufpassen, damit man nicht den richtigen Moment verpasst, in dem er weder mit seinem Plüschdrachen noch mit sich selbst spricht, sondern Antworten erwartet, deswegen sage ich schon rein präventiv ab und zu etwas wie „wirklich?“ und ziehe ihn immer wieder auf dem Fokus anderer Kameras. „Da!, ruft er auf einmal. Ich schaue auf und sehe ein hübsches Mädchen mit halblangen Haaren und einem grünen, engen Kleid. Unverkennbar. Rote Haare, auch ein wenig fuchshaft spitzes Gesicht. Es ist die Kitsune.

Doch der F. ist schon weiter. Kein Fuchsschwanz, bedauert er. Und unter dem engen Kleid auch nicht zu verstecken. Enttäuscht schaut er weg. Das fremde Mädchen, entkleidet seiner dreiminütigen Fuchshaftigkeit, läuft unbeachtet weiter.

Jetzt hat den F. das Jagdfieber gepackt. Wo, wenn nicht hier, sollen sie sich aufhalten, die Kitsune, zieht er mich an der Hand den Berg hinauf. Doch jenes Mädchen dort mit der Ledertasche entbehrt der roten Haare, diese drei dort hinten können beim besten Willen keinen Fuchsschwanz verstecken, und schon fast etwas enttäuscht stehen wir irgendwann an einer Weggabelung und schöpfen uns kaltes Wasser über die Arme. Den J. haben wir schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.

Hier oben sind deutlich weniger Menschen als unten. Vielleicht ist es den meisten dann doch zu heiß und zu anstrengend, oder ein Photo unten reicht ihnen. Nur noch eine Handvoll Personen steigt weiter den Pfad hinauf.

„Da! Endlich.“, kreischt und springt an meiner Seite nun endlich der F., zeigt so unauffällig, wie er eben kann, auf einen Jungen und läuft ihm hinterher. Der Junge ist circa 14, seine Haare sind mit viel gutem Willen rötlich, und auf dem Rücken trägt er einen riesigen Rucksack. Dahinter tarnt sich der Fuchsschwanz, erfahre ich, und die übernatürlichen Botschaften befinden sich in der am Rucksack angebrachten Tasche. Als der Junge sich einmal umdreht, winkt der F. ihm zu. Kitsune winkt lächelnd zurück.

Glücklich springt der F. talwärts. Nicht jeden Tag grüßt die Geisterwelt einen dermaßen freundlich, nicht einmal, wenn man fünf ist. Kitsune trabt auf dem Bergpfad weiter, dem Geisterreich entgegen, der F. läuft glücklich einem kleinen Stofffuchs und einem großen Eis zu, und sogar der J. hat das menschenleere Bild, man weiß nicht wie, am Ende nach Hause getragen.

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Konfetti, 3

Ich bin begeistert. Auf den Straßen Kyotos gehen die Frauen in geschmackvoll-dezenter Kleidung umher, Passanten weichen sich höflich lächelnd aus. In dem Geschäften werden die Waren angenehm beleuchtet in farblich passenden Ensembles präsentiert, und gerade als Berlinerin, die ja schon erleichtert ist, wenn ihre Umgebung voll bekleidet bleibt und nur halblaut herumpöbelt, erwäge ich ernsthaft die Umsiedlung. Zudem ist Kyoto tatsächlich so hübsch, wie alle sagen.

Die Ortsansässigen indes scheinen die eigene Eleganz nur bedingt zu genießen. Oder sie erkennen den eigenen Perfektionismus bei der Verwandlung ihrer selbst wie ihrer Stadt in ein Kunstwerk in den Franzosen wieder: Jedenfalls ist Kyoto voll von französischen Restaurants und Bars, in denen die ortsansässige Bevölkerung davon träumt, Paris zu bewohnen.

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Ich persönlich dagegen hege keine Träume darüber, comme une parisienne durch mein Leben zu schreiten. Ich träume ja auch nicht von einem Dasein als Einhorn. Ich bin auch an sich sehr gern Berlinerin, besonders, wenn reichlich Distanz die Stadt vergoldet, und so lese ich in den Abendstunden (das göttliche Rindfleisch der japanischen Kühe liegt schwer in meinem Magen) tatsächlich ein bisschen Benn, ein bisschen Gryphius, ein paar Zeilen Hilde Domin  und bedaure ein bisschen, nur im Urlaub Lyrik zu lesen.

Konfetti, 2

Es muss in den Zwanzigern gewesen sein, für genauere Angaben bin ich gerade zu faul, da sang Blandine Ebinger ein kleines Chanson von Tucholsky, eine schon damals eigentlich gar nicht mehr so recht moderne Chinoiserie, die davon handelte, dass in Deutschland alles so groß sei und in Japan alles so klein. Ich bin mir sicher, dass anno 2017 schon irgendwer um die Ecke käme, der das schlimm rassistisch fände und auf Twitter Tausende zum Ausdruck bringen würden, dass sie seit Tagen nicht schlafen könnten, so grauenhaft menschenverachtend fänden sie diesen Text, aber hier, quasi so ganz unter uns, möchte ich Ihnen doch zuflüstern: Es stimmt. Insbesondere unser sehr nettes, schneeweißes und toll ausgestattet Appartement ist so klein, dass wir ständig irgendwo gegenstoßen. Ich sage keinen Satz so oft wie: F., pass auf! Zum Glück sind wir nicht so viel hier, ansonsten bekäme der F. Neurosen und könnte als Erwachsener ausschließlich Wohnungen mit mehr als 300 qm bewohnen. Und zwar allein.

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Vermutlich gibt es irgendwo in der akademischen Forschung eine weithin unbekannte Maßeinheit, welche die Attraktivitätsrückmeldungen pro Stunde bezeichnet, die Menschen erfahren. Also nicht unbedingt nur die positiven, sondern mehr so alles, also dieser mehr oder weniger verhohlen prüfende Blick über Gesicht, Ober- und Unterkörper, unvermitteltes Lächeln an der Kasse über drei Zwischensteher hinweg, ausgesprochen langes Händeschütteln oder die einen Tick zu private Nachricht am Rande eines langen Elternchats zum Grillfest der Kita Wilde Hummeln.

In Italien beträgt der Faktor – wir wollen ihn hier einmal f/d nennen – ungefähr 80. In Frankreich vielleicht 60. In Deutschland gibt es deutliche regionale Unterschiede, ich würde München mit 30 veranschlagen, Berlin mit 5, außer man geht viel mit Expats weg, und in Tokyo null. Ich habe keine Ahnung, wie die Tokyoter die verfänglicheren unter ihren Bekanntschaften schließen, aber es scheint völlig anders abzulaufen als irgendwo sonst.

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Ansonsten ist Tokyo sehr toll. Wir fahren Wassertaxi, rasen per Fahrstuhl auf den zweithöchsten Turm der Welt, laufen Kilometer um Kilometer: Die Stadt nimmt überhaupt kein Ende. Manchmal verändert sich das Straßenbild. Asakusa sieht anders aus als Chuon. Aber inmitten von 7 Mio Mensche, Häusern, Straßen weiß ich wieder, was diejenigen dachten, die vor vielen Hunderten von Jahren das Sprichwort prägten: Stadtluft macht frei.

Konfetti

Ich bin keine gute Reisende. Manche Leute stehen immer sofort mit Einheimischen an der Bar und schlachten zwei Stunden später mit denen Kamele und tanzen auf der Hochzeit ihrer Kinder den tatarischen Säbeltanz vor. Dafür bin ich Äonen zu distanziert. Deswegen kommt mir Japan entgegen: Jeder ist freundlich, aber niemand will meine Lebensgeschichte hören und keiner fasst mich an. Das mag ich nämlich auch nicht so, wenn ich Leute nicht kenne.

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Dafür mag ich Megacities. Ich bedaure eigentlich nie, Juristin zu sein, aber meine Chancen, ein Jahr hier oder in Bangkok oder San Francisco zu leben, wären mit einem anderen Job deutlich besser. Nun ist da derzeit nicht mehr viel zu ändern, aber wenn der F. einmal deutlich größer ist als heute, rede ich vielleicht mal ein paar Takte mit ihm über den unfassbaren Rausch, ganz woanders zu sein und eine Weile dort zu leben.

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Tokyo riecht so gut. Es ist heiß und etwas feucht, es riecht nicht so parfümiert wie Bangkok, allein schon, weil hier weniger wächst und die Leute keine Räucherstäbchen abbrennen, aber ich könnte den ganzen Tag an jeder Straßenecke stehenbleiben und fünf Minuten kräftig herumschnuppern. Leider lässt man mich nicht einmal zehn Minuten irgendwo stehen oder sitzen, weil der F dann unweigerlich weiterwill. Allein am ersten Tag sind wir am Meiji-Schrein, im Aquarium der Stadt am Meer und im angrenzenden Park, essen irgendwo in der Nähe des Bahnhofs Akihibana, fahren weiter zur Shibuya und laufen durch die Nacht zu unserem Airbnb-Apartment zurück. Am Ende sind es 14 km zu Fuß.

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Die japanischen Studentinnen bis so circa 25 sind total süß. Sie sind hübsch, sie sind gut frisiert, sie wirken heiter und sie sind gut angezogen. Dafür fehlen im Straßenbild In ganz auffälliger Weise schöne Frauen um die 35. Rund ums Mittelmeer sehen Frauen dieser Altersgruppen oft atemberaubend aus, man möchte jeden männlichen Verwandten sofort mit jeder dieser Frauen verheiraten, aber hier scheint irgendetwas schiefzulaufen. Frauen über 30 lachen hier irgendwie nie, wirken bestenfalls gepflegt-verhuscht und oft deutlich sichtbar unglücklich. Ob es an den Japanern liegt? In Deutschland ist ja oft etwas Ähnliches zu beobachten, und das hat auf jeden Fall mit Deutschlands Männern zu tun.

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Auf Reisen

Ich kenne, meine Damen und Herren, Leute, die vor lauter Sorge, wie ihre Kinder Langstreckenflüge vertragen, sich nie weiter als bis Mallorca trauen, aber das finden der J. und ich dermaßen öde, dass wir uns und dem F. solange eingeredet haben, dass er Reisen liebt, bis er sich selbst nicht mehr vorstellen kann, dass das nicht stimmt. Außerdem besucht der F. eine – obschon städtische – Kita, die vermutlich von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin Prenzlauer Berg eingerichtet wurde, um farbenfroh zu illustrieren, was Gentrifzierung bedeutet. Folgerichtig hält er es nicht nur für völlig normal, durch Japan zu fahren, sondern auch ab und zu bohrend nachzufragen, wieso ausgerechnet er eigentlich immer Eco fliegen muss. Entsprechend sitzt der F. also halbwegs vorfreudig im Flieger von Paris nach Tokyo und lässt sich erzählen, was es alles bis Tokyo zu essen gibt.

Noch bevor wir abheben, hat des F. kundige Hand das Kinderprogramm dieser Air France- Maschine gescreent. Der F. kennt nicht viele Filme, weil wir keinen Fernseher haben, und außerdem konnte er bisher keine Kinderfilme sehen, in denen die Mutter des Helden stirbt, deswegen ist ihm praktisch alles neu. Er fürchtet sich generell leicht, auf der anderen Seite wäre der F. schon sehr gern mindestens so cool wie der kleine A. mit den drei älteren Geschwistern, der das internationale Filmkunstschaffen eigentlich so ziemlich durchhat. Der F. beginnt also mit Lego Batman, einer Art Batmanadaption, bei der alle Protagonisten und alle Kulissen aus Legosteinen bestehen.

Aus irgendeinem Grunde stehen wir geschlagene 60 Minuten am Gate. Alle Passagiere rätseln, woran das liegt. Nur ich weiß, dass ich kürzlich verflucht worden bin, und nun alle Reisen, an denen ich teilnehme, verspätet starten und noch verspäteter enden. Ich war im gesamten Juni nie, also buchstäblich nie, pünktlich, weil immer irgendein Flug zu spät begann oder ein Zug liegenblieb oder einfach so nichts weiterging. War ich halbwegs pünktlich, waren andere Leute, ohne die es nicht losgehen konnte, zu spät.

Als wir endlich starten, ist des F. Film schon fast zuende. Der F. aber lässt sich gar nicht stören: Mit geröteten Wangen und schwitzigen Händen sitzt er neben mir, reißt die Augen auf, weist alle Versuche, ihm etwas anzubieten, von sich, und ist erst wieder ansprechbar, als der Film endet. Unter uns liegt Skandinavien und ich erzähle ihm von der Zeit, die ich als Studentin in Tallinn verbracht habe.

Nach Süsskartoffelpüree und Fisch wirft er die Eiskönigin an. Das ist eigentlich ein sogenannter Mädchenfilm, aber wenn niemand es mitbekommt, schauen Buben hemmungslos Bibi und Tina, und Mädchen irgendwelche Actionsstreifen, weil es dem gesellschaftlichen Rollenmodell, was Mädchen und Jungen gefällt, lediglich gelungen zu sein scheint, zu prägen, was gerade als cool gilt, nicht aber, was ungefähr fünfjährigen Kindern tatsächlich gefällt. Bei Erwachsenen, dies nur am Rande, scheint es mir übrigens ganz ähnlich zu sein.

Direkt nach der Eiskönigin schaut er – einen Schokokuchen und Eis und Limonade später – noch einmal Lego Batman. Dann schläft er ein. Im Schlaf zucken seine Lider, seine Händchen greifen nach geträumten Feinden und Freunden. Ich fange ein Buch an und lege es wieder weg und schaue aus dem Fenster ins stahlharte Blau des Himmels und versuche mich daran zu erinnern, wann wir in den nächsten zwei Wochen eigentlich genau wohin fahren.

Dein Sommer ohne Dich

Aber gerade jetzt sitzen am Landwehrkanal Leute unter schwankenden Lampen. Im schwarzen Wasser spiegeln sich Kerzen und Kleider und Haut. Helles Gelächter und Stimmen, Eiswürfel im Glas und Schritte auf Holz. Trinkt noch jemand Gin Tonic?

Auf den Stufen zur Spree sitzt auch heute ein Paar. Vielleicht hat sie Pumphosen an und fettige Dreadlocks. Vielleicht hat er einen zu dünnen Bart und dreht selbst. Vielleicht aber sind es Daphnis und Chloe, vielleicht hält sie in ihren Händen den Mond. Vielleicht wird aus ihm einmal ein himmlischer Schäfer. Vielleicht warst das du.

Vielleicht tanzt er mit ihr morgen früh auf der Oberbaumbrücke im ersten Licht eine Polka. Vielleicht sitzt am Ufer der Spree ein Nöck und schenkt ein. Ganz sicher aber ist keins der Märchen der Stadt mehr für dich, und auf deinem Weg von der Bahn: Nur die Scherben.

Das Ende der Welt die wir kennen

Die Freundin freut sich. Mit über 40 und als verheiratete Mutter wäre es endlich vorbei. Kleidung müsste nur noch ihr selbst gefallen. Sie schminkt sich auch nicht mehr, weil sie dazu keine Lust hat, und sie hat es total aufgegeben, Männer überhaupt noch wahrzunehmen, es sei denn, sie hat mit ihnen beruflich zu tun, oder ist mit ihnen befreundet oder verheiratet.

Ich schweige tief beeindruckt. Es muss sich eigentlich ganz gut anfühlen, einen der Lebensbereiche einfach abzuhaken, in dem man jetzt vielleicht ohnehin nicht so zum oberen Klassendrittel gehört, und sich ausschließlich den Dingen zuwendet, die man ganz gut kann. Vermutlich minimiert das die Minuten pro Monat, in denen man sich irgendwie unzulänglich fühlt, ganz erheblich.

Auf dem Heimweg denke ich nach. Vielleicht wäre das auch für mich ein Konzept? Ich könnte den Aufwand, den ich mit ausgesprochen mäßigem Erfolg in meine Garderobe stecke, in irgendetwas investieren, in dem mein Potential größer ist als in der Disziplin Modepapst. Ich verbringe nämlich am Ende doch verhältnismäßig Zeit damit, mir im Internet Kleidung anzusehen oder sogar irgendwo hinzugehen, wo man Kleider kaufen kann, nur um am Ende dann doch in sehr risikolosen, sehr konservativen Sachen herumzulaufen. Ich besitze beispielsweise allein acht blaue Kleider. Und mindestens drei weitere in beige. In meinen Ohren stecken Perlen in schwarz oder weiß. Ich darf entsprechend zusammenfassend versichern: Man schätzt mich nicht gerade für meine überwältigende Optik. Würde ich mich meiner Kleider entledigen, wäre die Sache übrigens noch etwas eindeutiger, weil ich es nie schaffe, regelmäßig Sport zu mache.

Um mit Flirten aufzuhören, müsste man jemals damit angefangen haben. Ich war selbst mit Mitte zwanzig immer dermaßen bass erstaunt, irgendjemandem zu gefallen, dass die Reaktion jedenfalls nicht unter Flirt fiel, sondern eher unter kommunikativen Verkehrsunfall. Am ersten Abend, an dem ich den geschätzten Gefährten traf, sprach ich, wie man mich bisweilen erinnert, mehrere Stunden über Thomas Mann. Der J. hasst Thomas Mann.

Kurz überschlage ich im Kopf die unermesslichen Vorteile dieser Strategie. Ich komme auf rund € 5.000 pro Jahr und eine Menge freie Zeit. Vielleicht wäre dieser Vorteile noch viel größer, weil ich in der frei werdenden Zeit irgendetwas machen könnte, was mir Geld und Ruhm einbrächte. Vielleicht verfasse ich einen Roman und lasse ausgedachte Leute in extravaganten Kleidern enorm gut aussehend ein sehr interessantes Liebesleben führen.

Großartig wird das, denke ich bei mir und verplane schon einmal die ganze frei werdende Zeit. Keinerlei Nachteile werde ich haben, denn für alle anderen Leute ändert sich ja nichts an mir, nur so rein innerlich werde ich quasi aufblühen.

Dann aber laufe ich an einer Schaufensterscheibe vorbei. Unwillkürlich schaue ich auf meine Haare. Automatisch ziehe ich den Bauch ein wenig ein und prüfe – das ist eine alte Obsession von mir – den aktuellen Grad der Symmetrie meiner Augen. Am Schluss sehe ich mir für ein paar Sekunden direkt ins Gesicht. Es wird nichts mit mir. Es reicht nicht mal für ein souveränes Ende meiner weltlichen Existenz.

Im Grunde bin ich darüber aber eigentlich ganz froh.

Mount Pferd

An sich, meine Damen und Herren, müssen Sie sich so ein ganz idyllisches Setting vorstellen. Ein schöner halbverfallener Hof. Ein par alte Ställe und Gesindehäuser, in denen heute Feriengäste unterkommen, und überall freilaufende Tiere. Geht man am Gutshaus vorbei, vorbei an allen Stallungen bis ganz nach hinten, steht man vorm Stall. Da sind die Pferde.

Wenn man – wie ich – einmal ein Pferd heiraten wollte, ist man hier richtig. Der Stall ist eher ein Liebhaberstall als besonders professionell, aber es riecht, wie es riechen soll, die Pferde sind gepflegt, und man braucht sich für eine Reitstunde für sehr lange nicht gerittene Wiedereinsteigerinnen nicht anzumelden, wenn man einen Reitlehrer findet, der ein bisschen Zeit hat. Ich ziehe mich also um und sattele das Pferd.

Auf dem Reitplatz stehe ich vorm Pferd, ziehe ich mein linkes Bein ganz nach oben und packe den Sattel beherzt an beiden Seiten. Mein Fuß sollte nun im Steigbügel stehen. Statt dessen trete ich ein paarmal in die Luft. Der Steigbügel baumelt ungefähr zehn Zentimeter über meinem Spann. Erst, als ich den Steigbügel unter den nachsichtigen Augen der Reitlehrerin verlängere, bekomme ich meinen Fuß hinein.

Nun aber. Mit dem rechten Fuß stoße ich mich vom Boden ab. Das linke Bein drücke ich durch. Gleichzeitig ziehe ich ordentlich am Sattel. Für einen Moment liege ich bäuchlings auf dem Pferd, dann zieht die Schwerkraft mich wieder nach unten. „Mamaaa!“, feuert mein Fünfjähriger mich an, ich zappele mit den Beinen. Dann stehe ich wieder neben dem Pferd. Geduldig schaut das Schulpferd in die unendliche Weite. So geht das zweimal.

Inzwischen bin ich halb anstrengungsbedingt, halb vor Scham knallrot. Außerdem ist es heiß, ich schwitze, ich will mir gar nicht ausmalen, wie ich wohl aussehe, so eine mittelalte, leicht dickliche Frau, die auf ein Pferd nicht raufkommt, und kurz spiele ich sogar mit dem Gedanken, es einfach sein zu lassen. Ich bin über 40, vielleicht reicht es jetzt auch einfach und ich altere mit beiden Beinen auf dem Boden zuende.

Dann aber hole ich für einen letzten Versuch tief Luft. Ich trete so heftig nach unten, als ginge es darum, mit schierer Muskelkraft ein Loch in den Boden zu stampfen, lande wieder mit dem Bauch auf dem Pferd, ziehe, ziehe, ziehe, und bekomme mit knapper Not das rechte Bein auf die andere Seite des Pferdes. Da sitze ich nun also. Alt, schwer, schon zu Beginn der Reitstunden erschöpft, aber immerhin: Auf dem Pferd. Es kann also los gehen.

Aber ich habe für den kommenden Donnerstag ein Probetraining im Fitnessstudio vereinbart.

 

Zwei auf einer Bank

Ich glaube, beim ersten Treffen saßen sie zufällig auf einer Bank. Es war eine Bahn ausgefallen, die fuhren nämlich nur alle 20 Minuten zwischen dem Vorort und einer der kleineren Landeshauptstädte der damals ja auch noch etwas kleineren Republik hin und her. Es war einer der kühleren Abende im September, wenn man also im Sommerkleid losfährt und sich auf dem Heimweg wünscht, man hätte doch die Jeansjacke mitgenommen, und vielleicht lag es auch an dem Verlassenheitsgefühl, das sich einstellt, wenn man wartet und friert, dass sie nicht abrückte, als er ihr sein Bier anbot. Dabei war er Gesamtschüler, Lederjackenträger, und eine komische Frisur hatte er auch. Die Haare schnitt ihm nämlich sein Bruder, und der war keineswegs Friseur.

Beim zweiten Treffen hätte er sie fast nicht mehr erkannt. Sie trug die Haare inzwischen hellblond, der Rucksack mit einem baumelnden Miniplüschtier war einer kamelbraunen Ledertasche gewichen, und statt einem Streifenkleid von Esprit hatte sie meistens Caprihosen und gerade geschnittene Blusen an und dazu Pumps. Er dagegen hatte sich kaum verändert. Außerdem hatte sie ihn immer noch in der kleinen Stadt verortet, in der sie beide aufgewachsen waren.

Sie wollte ihn immer einmal fragen, wie er eigentlich nach Berlin gekommen war, denn dass er auch einfach hier studieren könnte, erschien ihr eher entlegen. Wieso sie ihn nie gefragt hatte, konnte sie sich später auch nicht mehr erklären, als er einfach weg war, nachdem das Haus in Friedrichshain saniert wurde, in dem sie ihn ab und zu besuchte, und er ihr keine Telefonnummer hinterlassen hatte, nicht einmal eine E-Mail.

Bei ihrem dritten Treffen erkannte sie ihn gleich, quer durch den Raum. Er kellnerte auf einem Sommerfest eines Industrieverbandes, sah besser aus als jemals zuvor, und als sie mit allen gesprochen hatte, mit denen sie sprechen musste, sprach sie ihn an. Er wohnte immer noch in Friedrichshain, gleich um die Ecke von seiner damaligen Wohnung, er roch mit 38 wie mit 22 oder 16, es war ein bisschen, wie nach Hause zu kommen, und als sie in der Mittagshitze nach Hause ging, tat es ihr für einen Moment leid, nicht mehr zurückzukommen.