Allgemein

Nachts.

Ich mochte ihn ganz gern, aber ich habe ihn nicht geliebt. Manchmal sah ich ihn beim Hand in Hand Gehen von der Seite an, dann wunderte mich ein bisschen, weil er so vertraut tat, dabei hatte ich nie das Gefühl, zu wissen, wer er ist. Es dauerte nur ein paar Wochen, weil wir kein einziges gemeinsames Interesse hatten außer dem an einer Beziehung. Ansonsten war ich in jemand anders verliebt. In wen er verliebt war, weiß ich nicht. Ich hoffe, nicht in mich.

Nur eine Nacht verbrachten wir nebeneinander, in der sich seine Arme wie sehr lange Schlingpflanzen um mich legten. Ich lag neben ihm in seinem Kinderzimmer, sah die Kriegsschiffmodelle auf seinem Kieferregal an, die im Mondschein bizarre Schatten an die Tapete warfen, und konnte nicht schlafen.

Mit den Jahren wurde es besser, aber nicht gut. Alptraum, wenn es in Hotels nur eine Decke gab. Oder jemand es liebte, eng umschlungen einzuschlafen. Auf der Seite liegend zuzuschauen, wie die Vorhänge sich im Luftzug des geöffneten Fensters bewegen, als atmeten seine Träume im Leinen. Die Vögel, die jede Nacht auf dem gegenüberliegenden Haus landeten und sich wieder erhoben. Wenn sein Atem ruhig wurde, seinen Arm sehr sanft abstreifen, sich wegrobben und dann endlich schlafen.

Lange geglaubt, es läge an den Matratzenbewegungen. Oder an einem atavistischen Unsicherheitsgefühl, das nicht zwischen Freund und Feind unterscheidet. Heftig verliebt, liebend und geliebt todmüde vorsichtig die zehn Zentimeter weggerobbt, die es braucht, um Körperkontakt zu vermeiden.

Alles anders beim Sohn. Der Sohn schläft allein ein und besteht auch nicht auf einem Platz im großen Bett. Aber wenn, wie in den Ferien, wir fast gleichzeitig schlafen gehen, freut er sich so, wenn er neben mir liegt, dass ich es selten übers Herz bringe, es ihm zu verwehren. Der Sohn liegt dann direkt vor mir, mit ganzer Länge an mich geschmiegt. Er schläft schnell ein, meist braucht er nur Minuten. Rolle ich weg, greift er im Schlaf, auf einmal unruhig, nach hinten. Stehe ich vorsichtig auf, verziehen sich seine Mundwinkel, sein Schlaf wird flacher, sein Atem aufgeregt, auch wenn er nicht aufwacht.

Niemand sonst könnte so nah bei mir sein, ohne meinen Schlaf zu stören. Erst recht wäre jeder andere Körper viel zu warm. So aber wache ich manchmal morgens auf, der Sohn liegt halb auf meiner Schulter, und während wir beide langsam erwachen, freue ich mich dieser wenigen, schnell verrinnenden Jahre, bevor er von mir weggewachsen sein wird, erst nachts und dann immer.

Komplizierten

Wie sehr mich diese Pandemie in jemanden verwandelt, der ich nicht sein will. Jemanden, der sich nur alle paar Tage die Haare wäscht. Der ganz aufgehört hat, sich zu schminken, an manchen Tagen gar nicht in den Spiegel schaut, außer beim Kontaktlinseneinsetzen. Jemanden, dem es egal ist, ob er heute schon zwei Stück Torte gegessen hat, wenn er noch einen Lebkuchen hinterherstopft, weil ich ja so unsichtbar geworden bin wie alle anderen auch: Eilige Schatten, die sich manchmal dabei erwischen, wie sie Menschen, die sich lachend umarmen, wütend beneiden. Aber hier umarmen sich von Tag zu Tag weniger Menschen.

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Heute an einem Haus vorbeigefahren, in dem ich einmal neben jemandem auf einem Fußboden lag. Das ist sehr lange her. Ich weiß noch, dass seine Beine nicht ganz gleich lang waren, und dass wir sehr viel sprachen und er irgendwann ein bisschen zusammenhanglos sagte, dass wir komplizierte Leute in komplizierten Verhältnissen seien, und ich dachte, dass das auf die meisten Leute zutrifft, die ich kenne. Aber nicht auf mich.

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Es ist so kalt geworden in der Stadt und so leer und so still. Wenn die anderen Berliner noch kompliziert sind in diesen Tagen, dann sind sie es sehr privat: Lauter Explosionen eingeschlossen in Haut. Zwischen allen Menschen, die ich kenne, liegen Kontinente aus Eis, und vielleicht gibt es sie gar nicht mehr, vielleicht sind es nur Hologramme, Wiedergänger, die zerfallen, griffe ich nach ihren Händen, ihren Haaren, den vermeintlich warmen Stellen am Hals.

I Want to Ride My Bicycle

Mein Fahrradschlüssel ist weg. Ich habe keine Ahnung, wo er steckt, aber mein Fahrrad steht jetzt jedenfalls mit meinem maximalen Abus vor meinem Büro und ich fahre Tag für Tag mit einem „Nextbike“für einen Euro zur Arbeit.

Nun ist mein Fahrrad kein besonders tolles Fahrrad. Es ist ein Fahrrad, das fährt. Es ist ein Fahrrad, das nicht gestohlen wird, was auch an den festangeschraubten Kinderfußstützen liegen mag, die vor dem Hinterrad abstehen. Aber natürlich kommt es nicht in Betracht, das Fahrrad jetzt einfach auszusetzen und sich selbst zu überlassen. Das Schloss muss also auf.

Schlüssel, die man noch hat, kann man nachmachen lassen. Für Schlüssel, die man nicht mehr hat, gibt es so Karten, mit denen ruft man bei Abus an und bekommt einen neuen Schlüssel geschickt. Nun habe ich das Schloss inzwischen schon viele, viele Jahre. Wenn es jemals eine Karte gab, dann gibt es die Karte jetzt jedenfalls nicht mehr, und selbst wenn es sie noch geben sollte, habe ich keine Ahnung, wo. Abus scheidet also aus.

Leute rieten mir, einen Schlüsseldienst anzurufen. Aber der erste angerufene Schlüsseldienst winkte direkt ab. Ein Fahrrad an einem öffentlich zugänglichen Ort und ohne irgendwas, aus dem sich ergibt, dass es mir gehört? Keine Chance. Ein freundlicher Mensch bot mir an, er hätte einen Bolzenschneider, aber ein anderer netter Mann meint, der reiche nicht aus, man brauche eine Flex. Wo soll ich eine Flex herbekommen? Kann man die wirklich im Baumarkt leihen? Aber wie bedient man die? Und erst recht ich, die noch nie im Leben auch nur eine Bohrmaschine bedient habe.

Und natürlich werde ausgerechnet ich, wenn ich das versuche, von der Polizei aufgegriffen werden, wie ich in einem Hinterhof in Mitte versuche, ein Fahrrad zu knacken.

Mein Leben mit dem Virus

Seit das Virus in der Welt ist und ich abends nichts mehr vorhabe, verlieren meine Tage jede Struktur: Ich muss irgendwann zu Hause sein und an manchen Tagen nicht mal das. Aber weil ich immer und überall arbeiten kann, arbeite ich morgens ganz früh im Bett, wenn ich mich vom Schreck der immer weiter steigenden Infektionszahlen halbwegs erholt habe, fahre ins Büro, vertwittere dann halbe Tage, arbeite in kurzen Sprints, lese amerikanische Politblogs, arbeite weiter und fülle zwischendurch Warenkörbe von Onlineshops mit Kleidern für eine andere Frau in einem anderen Jahr, um dann wieder alle zu löschen.

Dann arbeite ich wieder weiter. Mag sein es ist acht, zehn, später. Fahre heim. Stürze mich wieder ins Netz, esse irgendwann irgendwas, arbeite und chatte und lese und areiten und fahre den Rechner herunter, wenn es so spät ist, dass ich nicht mehr arbeiten kann.

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Tatsächlich sind die meisten Leute, die von sich behaupten, sie seien socially awkward, kein bisschen peinlich, sondern einfach nur überdurchschnittlich kokett, und die immense Anstrengung, die es wirklich sozial schnell überforderte Menschen kostet, auch nur einen Empfang halbwegs störungsfrei durchzustehen, sich nach einem eigentlich gelungenen Abend gelungen zu verabschieden oder unpeinlich nachzufragen, wenn man glaubt, man habe sich irgendwie peinlich verhalten, ist ihnen erkennbar völlig fremd.

Völlig fremd ist ihnen auch die Anstrengung, nun nach langen Jahren der Anpassung an halbwegs normal erscheinende Verhaltensweisen sich an die soziale Welt mit Virus zu adaptieren. Hat man irgendwann endlich gelernt, wie lange man auf einer Veranstaltung mit Leuten spricht, auf welche Wendungen hin man sich besser verabschiedet, wie man ein Gespräch im Laufen hält und so weiter, fallen alle diese höchstpersönlichen Betriebsanleitungen angesichts des Virus in sich zusammen, weil mit den sozialen Events sich auch die sozialen Gepflogenheiten geändert haben, und die neue Welt erschließt sich mir zumindest nicht von selbst.

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In der letzten Woche mit einem Kollegen überlegt, noch ein letztes Mal in die Philharmonie zu gehen. Dann kommt heraus: Die Philharmonie ist schon ab Montag dicht. Es wird also nichts mit einem letzten Konzert, das das erste seit Februar gewesen wäre. Nichts mit Theater, nichts mit einem Rundgang durch die Gemäldegalerie. Ich werde nicht zum Sport gehen. Ich treffe die Freundinnen nicht in der Sauna. Ich gehe nicht essen. Ich treffe vielleicht ein paar Freunde, aber keine der Mittagsverabredungen, die für November in meinem Kalender stehen, wird stattfinden.

Ich werde arbeiten, diesen November. Arbeiten und irgendwas essen und irgendwann schlafen.

Atmen

Ich kann nicht wegschauen: Tag und Nacht rattert es durch mein Telefon, durch meine immer unruhigeren Hände, durch meinen Schlaf: Präsident Trump, Giuliani, Merkel, Drosten, Frankreich, Spanien, Tschechien. Italien. Italien.

Nun also auch die Toskana, erfahren wir am Donnerstag in der Sonne zwischen den Hügeln vor Peccioli. Fahren wir nicht morgen, dann müssten wir zwei Wochen in Quarantäne, und könnten der J. und ich das noch mit Home Office und bestelltem Essen überbrücken, so wäre es für den F. eine ziemliche Katastrophe. Wir fahren, beschließen wir freitag früh, und dann stopfen wir unser gesamtes Gepäck schnell in unsere Koffer, sagen den Ausritt am Abend ab und die letzten Reitstunden am Samstag morgen. Ich tröste den F., bitte um die Rechnung und es tut mir so leid, dass auch die anderen Deutschen vorzeitig abreisen. Gerade hat der Hof sich halbwegs vom Frühjahr erholt, nun wird es wohl wieder knapp.

Als wir fahren, lege ich meine linke Hand auf meine zuckende Rechte. Über Monate ging es ganz gut mit mir, aber nun schmerzt abends ab und zu mein Kiefer vor Anspannung, meine Schultern muss ich jede Stunde wieder weich und locker atmen, und mein Hals schmerzt ab und zu vom Geradehalten und es dauert jeden Morgen ein bisschen länger, bis mein Körper sich anfühlt wie in irgendeinem anderen Jahr.

Mit Menschen

Auf dem Weg zurück ins Büro am Samstagabend fällt mir der H. ein, mit dem ich zwei- oder dreimal Essen war, 2008 oder 2009, aber dann hatte ich quasi immer Termine, wenn er sich meldete, und wenn ich mich meldete, reagierte er nicht schnell genug und ich rief woanders an, und deswegen freundeten wir uns nicht so richtig an und ich weiß heute nicht mal mehr, wie er mit Nachnamen hieß. Es war auch nichts Romantisches, nur eine zwischen Terminen stecken gebliebene Freundschaft.

Irgendwann war ich mit dem H. im Ostwind, das war ein chinesisches Kellerlokal damals, Kollwitzkiez, ich drückte die ganze Zeit auf meinem Blackberry herum, weil immer, wenn ich was schrieb, sofort eine Antwort kam, und ich psychologisch unfähig bin, das für ein paar Stunden einfach zu vergessen. Ich entschuldigte mich quasi die ganze Zeit beim H., der lächelte ziemlich säuerlich, und als wir bei der obligatorischen gebackenen Banane angekommen waren, stieß er zu: Was ich eigentlich mit dieser Betriebsamkeit kompensieren will. Da saß ich also und der Honig tropfte von meiner Banane und ich sah genau so armselig bedürftig aus wie ich mich fühlte.

Keine Ahnung, was ich als Antwort hervorwürgte. Vermutlich, dass ich den Job eben liebe, und tatsächlich stimmte das damals und heute stimmt’s auch. Aber als ich am Samstag mein leeres Büro aufschließe, fällt mir auf, dass das nur die halbe Wahrheit ist, denn meinen Beruf kann ich ziemlich gut, aber alles andere,  alles mehr so mit Menschen, kann ich maximal mittel und an manchen Tagen nicht einmal das.

Omnia mea mecum

Im Grunde brauche ich nichts. Ich fahre in Urlaub mit zwei blauen Kleidern, die man zusammenrollen kann, Unterwäsche zum Zusammenknüllen, einem Paar Ballerinas in der Handtasche und Sandalen an den Füßen. Ich reise außerdem mit dem Zeug, in das man Kontaktlinsen tut, meiner Zahnbürste, Zahnpasta und je einem Stück Seife und Haarseife. Weil ich mich nicht richtig schminken kann, komme ich kosmetiktechnisch mit einem Lippenstift aus, weil ich mir einbilde, dass man mit Lippenstift irgendwie geschminkt aussieht. Seit man Bücher auch am Handy lesen kann, braucht man nicht mal die mehr. Laufschuhe nehme ich außerdem noch mit und eine Turnhose und ein T-Shirt. Ich bin schon mit einer großen Handtasche eine Woche lang verreist. Diesmal habe ich auch noch mein Notebook dabei.

Der geschätzte Gefährte dagegen reist mit seinem gesamten Besitz auf sieben vollgepackten Kamelen. In seinen Taschen und Koffern befinden sich Fahrradflaschen und Schuhe für jede Witterung. Pullover für draußen und Pullover für abends. Hemden, ein Fieberthermometer, die gesamte Kollektion eines Fahrradfahrerausstatters namens Rapha, genug Hosen, um keinesfalls hosenlos dazustehen, komme, was wolle, ein Gartenschlauch, ein Mammutoberschenkelhalsknochen und die Encyclopedia Brittanica.

(Okay, ich habe ganz leicht übertrieben)

Sohn F. braucht wiederum nichts. Der Sohn trägt voraussichtlich immer dieselben Kleidungsstücke, wenn man ihn lässt. Er liest Krimis, einen SPIEGEL, den er im Zug gefunden hat, und ein Buch über Chemie.

So stehen wir hier also da: Der J. stopft alles, was er hat, in alle Taschen, die wir haben. Der F. malt in der Küche in einen Collegeblock sehr konzentriert ein großes Atom mit einer gefährlich schiefen Elektronenwolke. Und ich versuche, eine lange, lange, lange Liste von Dingen zusammenzustellen, an die ich auf jeden Fall denken muss, denn auch, wenn ich kaum Kleider mitnehme: Mich hab‘ ich halt dabei. Mit meiner Unruhe. Mit meinen immer viel zu vielen Plänen, mit meiner Neigung, alles, was lustig klingt, zuzusagen und es zu meinem Glück wie Unglück zugleich dann auch irgendwie jedesmal zu schaffen. Mit meiner Unfähigkeit, die Wasser des Lebens einmal ruhen zu lassen, mit meinen Talenten, die für viel ein bisschen reichen und für nichts so richtig, und wenn wir morgen ins Auto steigen, werden meine Lasten nicht kleiner sein als die des geschätzte Gefährten, nicht leichter, nur weniger leicht zu sehen.

Sachliches Zuendeleben

Ich weiß es doch auch nicht, denke ich, als ich die D. mich fragt, ob sie wohl was falsch gemacht hat. Mag schon sein, dass sie wirklich ein bisschen viel Zeit mit den Kindern und ein bisschen wenig mit ihrem Mann verbracht hat. Sie vermutet das. Aber wir alle haben doch niemals Zeit, ziehen an unseren Stunden wie unsere Großmütter am Strudelteig, bis sie bis zum Zerreißen dünn werden und man durch sie hindurchschauen und die Finger zählen kann, wie man das früher mal machte. Wäre der Bruch die Folge von zu wenig gemeinsamer Zeit, dann gäbe es kaum mehr verheiratete Paare über 40. Und außerdem: Wenn ihr Mann hätte mit ihr Zeit verbringen wollen, dann hätte er das wohl einfach getan, irgendwo was reserviert und einen Babysitter bestellt. Vermutlich – aber auch das weiß ich nicht – hatten einfach beide keine Lust mehr auf gemeinsame Zeit.

Weil die D. Juristin im Staatsdienst ist, ist die Trennung kein finanzielles Problem. Sie behält die Doppelhaushälfte und zahlt die beiden letzten Jahre ab. Er dagegen hat jetzt eine neue Wohnung und ein neues Auto in Charlottenburg und läuft nun jeden Tag bis zur Kanzlei. Die Kinder bleiben bei ihr. Die große Tochter, mit deren Freundin D.s Ex jetzt was hat, spricht eh nicht mehr mit dem Vater. Der Junge kommt jedes zweite Wochenende und die Hälfte der Ferien.

Ich glaube nicht, dass D.s Ex dauerhaft eine Beziehung mit einem noch nicht ganz volljährigen Mädchen führen wird, denn der gegenseitige Reiz nutzt sich wahrscheinlich noch schneller ab als alle anderen Reize. Das war schon in den Neunzigern so, als wir die Mädchen waren, um die sich die von zu langen Ehen ermüdeten Väter, Trainer oder Lehrer mit mehr oder weniger viel Elan bemühten. In ein paar Jahren wird er vermutlich bei jemandem landen, den man mitnehmen kann, wenn ein Kollege 60 wird. Wahrscheinlich ist seine nächste Frau dann 35 oder so und bekommt sehr schnell ein Kind, für das er mehr Zeit haben wird als für die beiden Großen. Vielleicht mögen sie das Kind trotzdem.

Ob die D. noch einmal einen neuen Partner haben wird? Ich glaube, sie hat keine Lust mehr, noch einmal irgendwelche Kompromisse einzugehen, nicht einmal bei Wochenendtrips oder Badezimmerfliesen. Vielleicht wird sie einen Freund haben, mit dem sie sich in Hotels trifft, wenn die Kinder nicht da sind. Möglicherweise fährt sie ohnehin lieber mit Freunden in Urlaub, denn dann fühlt sie sich nicht dafür verantwortlich, dass es allen gefällt und alles funktioniert.

Es tue ihr so leid für die Kinder, vor allem die Große, sagt die D. Sie dagegen hätte ein bisschen schlechtes Gewissen, dass er ihr nicht mehr fehlt. Sie habe alles in allem gar keine schlechte Zeit. Sie ging ja nie viel weg. Ihr Leben ginge nun einfach so weiter; nicht das schlechteste Leben und auch nicht das Beste, und als ich auflege und ein paar Schritte durch die sich leerenden Straßen laufe, frage ich mich, wieso mich dieses sachliche Ende einer sachlichen Ehe so unendlich verstört.

Work. Life. Balance.

Jaja, denke ich. Work-Life-Balance. Du arbeitest, um zu leben, sagst du, und nicht umgekehrt. Aber seien wir doch mal ehrlich:

Du sagst, du erlebst lieber was, als im Büro zu sitzen. Aber vielleicht hast du einfach nur den falschen Job. 35% der deutschen Arbeitnehmer empfinden ihre Tätigkeit als sinnlos. Rundheraus: Dann würde ich auch lieber auf dem Sofa Serien schauen, dann müsste ich wenigstens nicht raus und mir was anziehen. Aber abseits der Frage, ob du die Welt besser machst, wenn du arbeiten gehst: Ist dein Leben wirklich aufregender, wenn du frei hast?

Erlebst du, gesetzt der Fall, du bist ein Justitiar oder sonst so ein Büromann, auch auf deinem Sofa Königsdramen, weil Abteilungsleiter A. in den Vorstand aufrücken will, aber auch Abteilungsleiterin B.? Konspirative Treffen mit A.s Getreuen am Samstagnachmittag. Ein Wochenende lang überlegen, auf wessen Seite du dich jetzt schlägst, und immer hoffen, dass dein Einsatz sich auch lohnt, weil A. wirklich Chef wird und deinen Einsatz dann auch noch honoriert. Mehr Shakespeare gibt es in deinem Leben doch gar nicht. Oh, und dann der Schwerterkampf, wenn A. und B. – salomonisch beide befördert – in einem großen Meeting aufeinandertreffen und sich unterschwellige Agression langsam steigert und sich schließlich spektakulär entlädt.

Oder du, Anwältin, nachts um eins. Du hast noch 23 Stunden bis Fristablauf. Du bist weit, sehr weit, deine Argumentation ist eigentlich fertig, und du bist zufrieden mit der Schneise, die du in das Gestrüpp des Sachverhalts geschlagen hast. Du bist so konzentriert, wie es andere Leute nach jahrelangen Meditiationscoachings nicht schaffen. Du hast seit Stunden an nichts anderes mehr gedacht, als an diesen Fall. Du hast sogar vergessen, dass du Hunger hast und Halsschmerzen. Den Geburtstag von Tante C., den du abgesagt hast, gibt es gar nicht, du wüsstest gerade gar nicht, dass du Tanten hast. Du bist ein aufs Äußerste gespannter Bogen. Du schreibst und löschst und schreibst wieder, schreibst dich heran an den Kern der Sache, tastest jeden Satz der Gesetze ab, bis ihr Geist unter deinen Fingerkuppen sanft pulsiert.

Fährst du noch nach Hause? Vielleicht schreibst du durch, vielleicht begegnest du morgens um sechs den ersten, die ins Büro kommen, um sauberzumachen. Dann fährst du heim. Nie sieht die Stadt so sauber aus wie um diese Stunde. Der Horizont flimmert vor Licht und Müdigkeit, und in den Augenwinkeln schimmert die Stadt in Farben, die sie sonst keinem zeigt. Langsam lässt die Spannung nach. Es hat geregnet, bemerkst du. Und es ist kühl. Daheim ist alles dunkel: Wirst du jemals wieder so gut schlafen?

Die Liebe, sagst du. Aber wann sind Leute besser angezogen als im Büro? Und wo zeigen sie, was sie alles können. Wie klug sie sind, wie schnell, wie gerissen, wie freundlich. Wie hinreißend Klugheit sein kann oder Mut. Die langen Blicke über den Verhandlungstisch hinweg: So schöne Augen. Sich extra etwas Schönes anziehen, weil sich heute nachmittag die Arbeitsgruppe trifft. Späte Drinks nach Verhandlungen, und beiläufige Berührungen, denen weniger beiläufige folgen oder eben auch nicht. Oder nur manchmal. Sich über Jahre annähern zu können, statt die üblichen paar Dates, nach denen sich dann einer überwinden muss oder es wird eben nichts draus.

Wer im Büro nicht lebt, sage ich, der sollte mal darüber nachdenken, ob es wirklich reicht, morgens und abends ein paar Stunden zu machen, was er will. Und ob das, was er dann macht, wirklich das ist, was er am Ende eines Jahres auf die Habenliste schreibt. Ob man nicht etwas Besseres als den Tod an Langeweile vielleicht nicht überall, aber vielerorts findet. Und ob das Work-Life-Balance-Modell wirklich noch überzeugt, vergegenwärtigt man sich, dass die Zeit, die man sich in öden Jobs langweilt, am Ende des Lebens nicht nachgeliefert wird.

Wall Street

„Und dann hat sie gefragt, was würdet ihr kaufen, wenn ihr neun Millionen hättet!“, berichtet der F. einen Vorfall aus seinem Religionsunterricht.

„Aha.“, sage ich und freue mich, dass der F. heute noch, im Schutz der Dunkelheit sozusagen, auf dem Weg nach Mitte nach meiner Hand greift und fröhlich schlenkernd neben mir hüpft. Es ist der letzte Abend des Festival of Lights, bei dem öffentliche Gebäude mit Lichtprojektionen verfremdet werden, und der F. darf abends mit mir durch Berlin laufen, was schon an sich sehr aufregend ist, wenn man acht ist und eigentlich nach dem Abendessen zu Bett geht.

Es stellt sich heraus, dass die Mädchen alle Pferdehöfe haben möchten. Und die kleinen Jungs entweder eine Rakete oder viele Autos. Einige wollen auch den Hunger in Afrika lindern oder sonst wie Gutes tun.Der Anteil derjenigen, der teilen möchte, ist jedenfalls nicht gering, und darauf, mutmaße ich, wollte die Lehrerin auch hinaus.

Sohn F. allerdings hat für derlei Überlegungen nichts über. „Dann ist das Geld ja weg!“, ruft er gleich mehrfach. Nein, der F. will weder ein Gestüt noch einen Fuhrpark. „Ich hab‘ gesagt, ich kaufe Aktien.“, berichtet Sohn F. mit sichtbarem Stolz und klatscht ein paarmal in die Hände. Von dem Geld, das man dann bekäme (wie heißt es noch, Mama), würde er aber auch etwas spenden.

Dass die Börse den F. deutlich mehr fasziniert als seine Mutter, war mir klar, als er irgendwann im Sommer einem anderen Kind erklärte, sein Lieblings-WasistWas handele von „Geld“. Und als er anfing, die Zeitung zu lesen, und zwar erst Panorama, dann Wirtschaft und erst zum Schluss Politik. Kultur liest er gar nicht, aber gut, er besucht keine Theater, liest die besprochenen Bücher nicht und nimmt an akademischen Debatten nicht teil. Es besteht also noch Hoffnung. Aber läuft’s schlecht, läuft er mit 18 davon, macht in der Fremde einen MBA und verkommt im Sumpf der Wall Street.

Außerdem denkt seine Klassenlehrerin jetzt bestimmt, ich hätte ihm dieses Zeug in die Ohren geblasen.