Allgemein

Datscha

„Hah, Frieden!“, trompetet die A. und zieht die Nase kraus. Eine Datscha sei überhaupt nie eine friedliche Angelegenheit, und die Abende, die man sich so vorstellt, im Garten inmitten von Rittersporn und Rosen, die gebe es so selten, die fielen quasi nicht ins Gewicht. Tatsächlich gehe sozusagen täglich etwas schief. Ein Kind werde etwa von Hornissen gestochen, der Holzschuppen mit dem Gartengerät brenne ab oder sowohl Vater wie Mutter reisten ohne Lebensmittel an, weil jeder gedacht habe, der andere kaufe ein. Sei aber einmal alles ruhig, so langweile man sich zu Tode. Sie beispielsweise ekele sich vor natürlichen Gewässern wegen der darin lebenden defäkierenden Tiere, so dass Baden quasi ausfalle, verabscheue Brettspiele und verachte die Gartenarbeit als schieren Stumpfsinn. Dass es das Wochenendhaus in der Uckermark überhaupt gebe, sei deswegen allein auf ihren Lebensgefährten zurückzuführen, der, irgendwo in der Fränkischen Provinz aufgewachsen, sich ein Kinderleben ohne Kaulquappenfangen und Kürbisschnitzen im Garten nicht vorstellen könne.

Dabei, fährt sie fort, könne man noch froh sein, wenn einen das Haus nur langweile. Ihre Freundin E. etwa habe die Datscha an der Prignitz am Ende Ehe wie Dach über dem Kopf gekostet, denn um der erwähnten Langeweile des Landlebens zu entgehen, hätten die E. und ihr Gatte eine alte Schäferei, bis dato halbverfallen, gemeinsam mit zwei anderen Paaren erworben und mit ihren zusammen ungefähr zehn Kindern saniert und genutzt.

Mehrere Jahre lief alles prächtig. Man fischte, grillte, badete und bastelte an Haus und Garten herum. Wir sind ja alles entlaufene Landkinder. Das wertet derlei Aktivitäten schon aus nostalgischen Gründen mächtig auf, und weil niemand von uns ein Stadthaus, sondern alle nur Etagenwohnungen haben, kommt das Zaun Streichen oder Beete Bepflanzen auch so selten vor, dass es nicht zu lästigen Pflichten wie Staubsaugen oder so ausartet. Die E., so behauptet ihre Freundin, sei glücklich gewesen.

Doch Glück sei ja ein bekannt flüchtiger Zustand, und wenn es uns am Besten geht, werden wir unaufmerksam und behäbig. Der E. sei deswegen – oder auch einfach aus Gutgläubigkeit – komplett entgangen, dass ihr Gatte sich ihr ab-, und dafür dem weiblichen Teil eines der anderen Paare zugewandt habe, mit denen sie das Haus erworben hatten. Es sei, so meint jedenfalls die A., zwar nicht recht nachzuvollziehen, wieso sich ein mit einer Brot backenden Mutter verheirateter Vater von zwei Kindern, dem langweilig sei, nicht einer lustigen, 15 Jahre jüngeren Praktikantin aus Neukölln, sondern einer anderen Brot backenden Mutter zuwende, aber vielleicht habe es mit einer lustigeren Person ja schlicht nicht geklappt.

Ein lebensklügeres Wesen als die E. hätte nun, so meint die A., ihren ideellen und monetären Kassen gesichtet und sich zu einem stolz-beleidigten Schweigen entschieden. Zu ihrem Unglück allerdings sei die E. schon seit ehedem eher denjenigen Menschen zuzurechnen gewesen, die von sich selbst beschönigend behaupten, sie folgten stets ihrem Herzen. Mit anderen Worten: Die E. habe nicht im Ansatz nachgedacht, sondern sei erst ziemlich laut geworden und dann mit dem jüngsten, noch nicht schulpflichtigen Kinde zu ihrer Mutter gefahren. Die wiederum bestärkte die E. darin, sich nicht dauerhaft an einen Wüstling zu verschwenden. Die E. teilte also mit, sie wolle sich scheiden lassen. Der Ehemann und Kindsvater war einverstanden.

Es werde, schlug er vor, das ältere Kind bei ihm in der gemeinsamen Ehewohnung am Helmholtzplatz bleiben. Das jüngere Kind ziehe mit der E. an einen Ort ihrer Wahl. Um den Zugewinn der immerhin sechsjährigen Ehe auszugleichen, erhalte sie den gemeinschaftlichen Anteil an dem Haus an der Prignitz ganz, und in Ansehung des für den gewohnten Lebensstil vermutlich nicht ausreichenden Unterhalts für das jüngere Kind suche sie sich wohl besser einen Job. Die dann folgende Bezifferung der von ihm zu erwartenden Summe Geldes war erschreckend. Laut der A. geht es um circa 900 Euro. Die E. war fassungslos. Für 900 Euro gibt es im Prenzlberg derzeit kaum mehr eine Garage.

Mehrere konsultierte Anwälte gaben keine günstigere Auskunft zur Unterhaltshöhe. Eine Berufstätigkeit scheint  – die E. hat ein Pädagogik-Studium zwar begonnen, aber nicht beendet – nicht unmittelbar in Sicht, zumal die E. eher unscharfe Vorstellungen davon hat, in welcher Funktion sie berufstätig werden will, aber auf jeden Fall eine Vollzeittätigkeit unter Verweis auf ihr Kind ablehnt. Aktuell wohnt sie in der Wohnung einer aus beruflichen Gründen für vier Monate absenten Freundin in Mitte und sucht eine neue Bleibe. Ein grauenhaftes Schicksal, so die A. erwarte ihre Freundin E., und schuld sei nur die unglückselige Datscha.

Wolle

Mit 25 macht man mit langen Haaren, Tops und Jeans ja eigentlich nichts falsch. Aber die Jahre vergehen. An guten Tagen sieht man ungefähr so aus wie immer. An schlechten Tagen aber wirkt man nicht unbedingt faltig, nein, das nicht, aber die Haut ist nicht dieselbe, der Ausdruck wird härter, die Augen, dieser Zug um den Mund: Nichts, was Grund zur Sorge wäre, aber jung, jung ist man nicht mehr. In aller Regel ist das auch ganz okay.

Bei manchen Kleidungstücken allerdings wird man kritisch. Ob die grüne Jerseyjacke von A&F oder das blaue Empirehängerchen nicht ein bisschen allzu leger …? Und wie lange sieht man in Chucks eigentlich ordentlich aus? Und ist die Zeit für Modeschmuck vielleicht endgültig vorbei? Abstrakt weiß man, dass es eigentlich außer der Dame kein vernünftiges Rollenmodell für Frauen ab 40 gibt, aber wenn man als Dame so eine schrecklich schlechte Figur macht, weil man immer irgendwo Kaffeeflecken hat oder Nähte aufgehen und ganz generell die Sorgfalt im Umgang mit der eigenen Erscheinung nicht so zu meinen persönlichen Stärken gehört? Gilt das dann auch, oder gelten dann nicht sozusagen stark mildernde Gründe?

Schlimm wird es bei den Haaren. Ob die langen Haare wirklich noch passen? Ob es anders, frisierter, kürzer, gepflegter irgendwie besser wäre? Sollte ich mich mal beraten lassen? Oder trage ich meine Haare, die einfach nur gewachsen runterhängen, jetzt auch die nächsten 20 Jahre mit Würde und einer gelegentlichen Portion Pferdemarkkur durch Berlin? Es mehren sich jedenfalls die Gelegenheiten, bei denen ich anderen Leuten auf den Kopf gucke, in Zeitschriften blättere oder Frisuren mit rundem Gesicht googele.

Aber diesen Sommer – das habe ich gerade beschlossen – bleibt es bei lang. Eine Dame werde ich frühestens 2015. Oder noch besser: Nie.

Topographie

Natürlich hat Frau Nuf – wie meistens – recht. Die Welt ändert sich wirklich ziemlich radikal, wenn so ein kleiner Kerl in die Wohnung einzieht. Aber nicht nur die Einrichtung der Wohnung verändert sich, der Tagesablauf und der Samstagabend mit dem Sonntagmorgen dazu, nein, ganz Berlin verschiebt sich, komplette Stadtteile versinken in sozusagen privattektonischen Platten: In Neukölln beispielsweise war ich im letzten Jahr vor F.’s Geburt recht oft, und seither eigentlich nur noch, wenn die Frau Engl Geburtstag feiert. Clubs besuche ich nicht mehr, weil mein Babysitter um Mitternacht seine Tätigkeit beenden und nicht beginnen will.

Andere Teile der Stadt dagegen tauchen unverhofft auf einmal aus dem Nichts auf, denn dass man viel Zeit auf Spielplätzen oder im Zoo verbringen wird, das weiß man zwar. Das Umland aber, das hatte ich nicht auf der Pfanne. Da war ich die letzten 15 Jahre nicht. Ich komme nämlich selbst aus einem Speckgürtel und habe für dieses Leben genug Einfamilienhäuser, S-Bahnendhaltestellen und Kuhkoppeln gesehen.

Dem F. mag ich die Kühe aber nicht vorenthalten. Der F. gerät nämlich regelmäßig außer sich, sobald Tiere auftauchen. F. trampelt zwar auch schon vor Begeisterung, wenn vor einem Supermarkt ein Dackel auf seinen Halter wartet. Absoluter Favorit sind aber große Nutztiere. Allen voran Kühe und Pferde. Im Übrigen läuft es sich natürlich auch unbeschwerter durch Gras als über die Bürgersteige von Mitte, und so tauchen auf einmal Orte auf der Privatlandkarte auf, von denen man vorgeburtlich nicht wusste, dass es sie gibt, und – Kenntnis vorausgesetzt – immer bestritten hätte, sie jemals aufzusuchen. Man fährt dann doch. Vorletzte Woche etwa. Saurierpark Germendorf. Ein mit ganz offensichtlich bescheidensten Mitteln durch und durch selbstgemachter Freizeitpark für kleine Kinder, die für lächerliche Beträge stundenlang Karussell fahren, Pony reiten, Biber beobachten, Saurierfiguren bestaunen und Ziegen streicheln können. Die anderen Besucher sehen zum Teil zwar so aus, als würde das Privatfernsehen sie zur Illustration ernsthafter sozialer Probleme einladen, aber das gilt ja eigentlich für halb Berlin. Da habe ich mich dran gewöhnt.

Gestern ein weiterer an sich ziemlich obskurer Ort: Irgendwo hinter Potsdam gibt es einen Spargelhof, der sich mit Tiergehegen, Fahrgeschäften und Verkaufsbuden zu einer Art Spargelkirmes entwickelt hat. Ohne Kleinkind wäre das vermutlich ein Ort, den man nur besuchen würde, um der Freude an der Groteske einmal so richtig Feuer zu geben, wie damals, als ich kinderlos und vergnügungssüchtig irgendwann einmal in einer Plattenbauwohnung in Lichtenberg mit circa 15 Russen Karten spielen oder in einem Friedrichshainer Prekariatsschuppen mit dem freundlichen Herrn Neft und irgendwelchen Insassen des ganzen Elends würfelte, tanzte und einen ganz ausnehmend abscheulichen Likör trinken musste.

Mit Kind sieht die Sache aber anders aus. Mit Kind steht man auf diesem Spargelhof recht freundlich gesinnt vor den Wildtiergehegen und macht Tiergeräusche. Mit Kind streichelt man Ziegen, diese harthaarigen, eigentlich ziemlich hässlichen Biester. Man erklärt Funktion und Beschaffenheit der Hühner, läuft neben Ponies her, schleckt Eis und wartet vor „Zwergenbahn“ genannten Miniaturlandschaften und in den Boden eingelassenen Luftkissen. Vor dem Karussell, in dem die A. und der F. in zwei benachbarten Raketen durch den Himmel der Seligkeit fliegen, macht man ein Bild. Ich war sogar auf der zehn Meter langen Riesenrutsche.

Abends sitzt man dann auf dem Sofa. Es gibt Rosato und den Reisebericht von Klaus und Erika Mann von der Côte d’Azur. Nina Simone singt. Für zwei, drei Stunden bist du wieder ganz bei dir, in deiner Welt, mit deiner Musik, deinen Dingen und den Orten, die du dir für dein Leben ausgesucht hast, und du fragst dich – so zwischen zwei Gläsern – ob und wann die Stadt eigentlich wieder zurückmutiert in den Ort von vor zwei Jahren.

Eigentlich weisst du genau: Nie.

Madame sieht rot

Am Donnerstag den ganzen Tag die Augen kaum offenhalten gekonnt, aber alles aufs frühe Aufstehen geschoben: Sechs Uhr morgens raus, dabei erst nach zwölf zu Hause gewesen und dann auf dem Sofa noch ein paar Seiten gelesen. Julian Fellowes. Naja.

Am nächsten Morgen dann dicke, gelb-sandige Krusten vorm rechten Auge. Es juckt. Im Badezimmer mit warmem Lappen auf dem Auge auf dem Badewannenrand gesessen, bis das Auge wieder aufging, und dann vor dem Spiegel gestanden. Schau mir in mein rotes Auge, verquollenes Ungetüm.

Mit meiner scheußlichen Brille ins Büro, mit der ich aussehe wie eine drittklassiger Comedian auf der verzweifelten Suche nach Lachern. Kurzzeitig überlegt, beim Verlassen geschlossener Räume, in denen man mich kennt und weiß, dass ich so nun auch wieder nicht aussehe, die Brille einfach abzusetzen. Aber machen Sie das mal bei minus achteinhalb Dioptrien. Mit ein bisschen Pech übersehe ich einen Irischen Wolfshund, und der frisst mich zur Strafe auf.

Abends unglücklich und rotäugig heim. Daheim erwartet mich der J. mit dem F. F. läuft begeistert auf mich zu und schreit laut und vernehmlich: „Mama – Auge!“ Mir bleibt nur, betreten zu nicken. Stimmt, kleines Monster, denke ich. Und rate mal, wo ich das her hab. Seine Augen sind natürlich seit Tagen wieder okay.

Abends dann die guten Vorsätze. Gegen die Bindehautentzündungen ist vermutlich nichts zu machen, solange der F. klein ist. Aber diese Brille muss einer Nachfolgerin weichen. Oder ich mache jetzt doch endlich Nägel mit Köpfen. Nächste Woche rufe ich bei der Klinik in der Friedrichstraße an, die man mir empfohlen hat. Gehe zur Untersuchung noch im Mai. Und bevor der Sommer kommt, bin ich brillenfrei, linsenfrei und – selbst mit roten Augen – noch immer halbwegs ich selbst.

Fünfundzwanzig?

Ach, denke ich. Da schreibe ich seit fast zehn Jahren das Internet voll, lasse kaum eine Woche aus, krame in den hinterletzten Eckchen meiner Erinnerung, und dann sind es nur 25? Nur 25 Stimmen? Keine einzige Stimme mehr? Nur 25 Leute, nicht einmal eine Schulklasse voll, im ganzen deutschsprachigen Internet?

ich weiß schon, der Netzfeminismus hat eine Mission, und ich nichts als ein paar Schnurren. Aber 25 … meine Damen, meine Herren: Das ist doch frustrierend.

Stimmen Sie bitte ab. 25 ist selbst mir zu peinlich.

EDIT: Gewonnen! Doch gewonnen! Ich freue mich schrecklich!

 

Wenn die Geigen klingen

„Na, dann komm.“, sage ich und mache dem F. Platz auf dem grauen Sofa. Erwartungsvoll sitzt er da, zeigt auf den Rechner und dann klatscht er ein paarmal in die Hände. „Bilk! Mehr Bilk!“, schreit er. Bilk bedeutet Musik.

Jeden Abend, wenn es ruhiger wird und dunkel, sitzen wir auf dem Sofa. Jeden Abend gibt es Musik zum Hören, denn nachmittags ist es zu laut und zu hell. Nachmittags wird laut gesungen und getanzt. Der F. trötet dann in seine Kinderklarinette, haut auf seinem Xylophon herum oder drischt auf die Klaviertasten, dass alle guten Geister der Musik verängstigt auf die Schränke flüchten. Abends aber lasse ich für den F. den Vogelfänger von der irdischen Liebe singen und erzähle ihm von Prinzen, Prüfungen und Königinnen. Von wunderschönen Heldinnen, denen es leider am Ende manchmal nicht so gut ergeht. Ich lasse die Schwarzkopf vom Mai singen und die Callas die Carmen. Ich lasse keinen Kracher aus, denn wer noch nichts kennt, der kann noch nichts über haben, keinen Überdruss kennen am allzu schönen Klang und noch keine Sehnsucht nach dem Anderen, das der Kenntnis des Einen ja noch bedarf.

Noch scheitere ich mit Parsifal. Noch wendet sich der F. ab von meinen Verklärten Nächten und lässt mich allein auf dem Sofa immer neue Aufnahmen finden, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt und dass sie tatsächlich, wahrhaft nur einen Klick entfernt auf uns warten. Meist aber sitzt der F. glücklich auf meinem Schoß, wiegt sich, klatscht, streckt die Hände gen Himmel, wo, wie man weiß, die Engel am allerschönsten singen und lacht manchmal laut und selig auf, wenn die Musik so schön wird, dass wir alle lachen würden, wenn wir nicht so dumm wären, uns in unserer dreißigjährigen Abgeklärtheit zu suhlen.

Ganze Mottoabende finden statt auf dem grauen Sofa. Das Ännchen von Tharau wird besungen, und Hoch auf dem Gelben Wagen reitet der F. auf der Sofalehne und wiehert sehr eindrucksvoll halbwegs im Takt. Es wird ein Wein sein, schunkelt er hin und her, vom Tauben vergiften versteht er zum Glück nicht den Text und verlassen wird er hoffentlich nie.

Ein paar Lieder kann er bestimmt bald mitsingen. Manche Stücke wird er vermutlich niemals spielen. Zumindest nicht fehlerfrei. Manche Geschichten erzähle ich ihm gleich. Andere wird er später erfahren, und einige Geschichten sind so traurig, dass ich wünschte, sie blieben ihm erspart. Erzählen aber werde ich ihm die Geschichten, die ihn ganz besonders angehen. Vom Großvater des Großvaters, der – so berichtet der J. – ein Komponist war und vom König einen Flügel geschenkt bekommen hat. Vom Urgroßonkel P., der als Eurythmiker auf dem 70. Geburtstag des Urgroßvaters einen Tanz mit Gesang über das Alter aufführte, bei dem er live on stage einen Hexenschuss erlitt. Über den Urgroßonkel, der irgendwann kurz nach dem ersten Weltkrieg als falscher Zigeuner auf Volksfesten aufgespielt hat, bis ein echter Zigeuner ihn enttarnte.

So freue ich mich schon auf die erste Zauberflöte und den ersten Ring in ein paar Jahren, und das zweite Kinderkonzert in vier Wochen in der Komischen Oper. Tanz mit mir, fasse ich den F. an beide Hände, wirbele ihn herum, freue mich über Singen und Glucksen und haue gemeinsam mit ihn in die Tasten.

Sei glücklich, sage ich ihm, wann immer die Geigen klingen, und eine Heimat inmitten von Tönen und Klängen sollst du behalten, solange du lebst.

Wie wir fast nach Paretz kamen

In Prenzlberg ist Ostern niemand. Also niemand außer uns. Die anderen Prenzlberger besuchen nämlich entweder ihre Eltern in Tuttlingen oder Augsburg oder haben sich irgendwo in Brandenburg ein Landhaus gekauft, das sie zärtlich Datscha nennen, obwohl es sich meistens um ein ganz normales Haus, nur halt irgendwo im Nichts, handelt, wo sie im Sommer im Garten herumsitzen, das Gras betrachten und Butterblumen zählen.

Wir würden das gelegentlich auch ganz gern tun. Wir können nur leider nicht. Wir haben nämlich keine Datscha. Statt dessen wollen wir raus. Also ganz so, wie man es sich vorstellt: Vater, Mutter und Kind setzen sich Ostersonntag ins Auto und fahren ins Grüne. Nur ein Picknick nehmen wir nicht mit. Statt dessen wollen wir in Paretz essen gehen. Das haben wir uns so ausgedacht: Kurz durch die Sommerresidenz Friedrich Wilhelm III., dann ins Königliche Kutschenmuseum, falls des F. Neigung zu interessanten Fahrzeugen sich auch auf alte, unmotorisierte Fahrzeuge erstreckt. Dann Biergarten, Kinderbauernhof und wieder zurück. Laut Navigationssystem eine Stunde.

Eine Stunde später stecken wir allerdings nicht in Brandenburg, sondern irgendwo in den verhältnismäßig erschreckenden Outskirts von Berlin. Davon gibt es ziemlich viele. Kahle Vorgärten, Fertigbauten in unterschiedlichen Farben und vor jedem Haus ein Trampolin. Damit sind die Vorgärten dann auch voll. Weil die Hauskäufer sich für den Kauf ihres sogenannten Häuschens schon bis über beide Ohren verschuldet haben, hat es für einen anständigen Garten nämlich meistens nicht mehr gereicht. Deswegen stehen die Häuser so eng nebeneinander, dass man seinen Nachbarn auf geringste Distanz in die Fenster schauen kann. In diesen baumeln Dekorationsgegenstände. Kränze mit Osterglocken aus Plastik oder hasenförmige Holzobjekte, die an den Ohren aufgehängt in der Heizungsluft schaukeln.

Neben mir ächzt der J. leise vor sich hin. Immer weiter und weiter führt uns das teuflische Navigationssystem in diese Unterwelt der Eigenheimbesitzer, weil da, wo wir langfahren wollen, heute aus irgendwelchen Gründen gesperrt ist. Zu allem Überfluss ist der Weg mit künstlich aufgeworfenen Hubbeln versehen, damit die Leute langsamer fahren. „Nein, nein!“, jammert der F. bei jedem einzelnen Hubbel, und wir Idioten beruhigen ihn jedesmal und behaupten, es sei nicht so schlimm.

Es ist aber schlimm. Das stellt sich zehn Minuten später heraus, als dem F. beim Anfahren nach der ungefähr fünfzigsten Ampel übel wird. Zum Glück läuft fast nur Wasser aus seinem Mund, aber dafür Mengen über Mengen über Mengen. Nie hätte ich gedacht, dass in einen Zweijährigen dermaßen viel Flüssigkeit passt. „Nächste raus.“, sage ich zum J., der im inzwischen ziemlich leeren Nichts irgendwo hinter Potsdam nach Abzweigungen sucht und versuche, den F. gerade zu halten und streichele seine Hände. „Nein, nein!“, weint der F. und versucht, sich das viele Wasser von den Händen zu wischen.

Fünf Minuten später stehen wir auf einem Feldweg unter alten Bäumen. Vor mir steht der F. und hält sich an meinen Händen fest. Langsam, noch etwas unsicher und ziemlich nass tappt er hin und her, atmet laut ein und aus, und dann lässt er – offenkundig  wieder besser auf den Beinen – meine Hand los und läuft in den Feldweg hinein. Rechts und links begrenzen Zäune die Weide und ein paar Schritte weiter stehen schottische Hochlandrinder und schauen uns unter Unmengen langer, rotblonder Haare an. Wir schauen zurück, und allseitig wundern wir uns, dass man auch so aussehen kann. Haarig und mit elegant geschwungenen Hörnern auf der einen, nackt in buntem Stoff und sonderbar unsolide auf zwei ziemlich dünnen Beinen auf der anderen Seite. „Großes Schaf.“, durchbricht der F. die andächtig österliche Stille. „Hallo, Schaf!“, und ich lache und erkläre, zeige Euter und Hörner, spreche von Kälte und Zucht, als ein besonders prächtiger Bulle die Vorstellung kurzerhand abkürzt und laut und vernehmlich muht. Muh also. Nicht mäh. Überzeugt verstummt der F. und schaut den Rindern beim Grasen und Trinken zu. Ein paar Minuten spricht niemand. Irgendwo im Hintergrund flucht der J., weil sein Handy keinen Empfang hat und er sich langweilt.

„Gibt es heute auch noch was essen?“, unterbricht der J. irgendwann die gegenseitige Betrachtung der Rinder und Menschen. Der J. kommt nämlich vom Land und hat in diesem Leben genug Kühe gesehen. „Ist ja gut.“, gebe ich nach, und dann fahren wir weiter und geben in unseren Telephonen „Restaurant“ ein. Sacrower See, zeigt mein iPhone an. Da gibt es Wasser, da gibt es etwas zu essen und außerdem ist es ganz in der Nähe.

Am Ende sitzen wir am See. Grün, als habe es nie einen Winter gegeben, säumt der Wald in weitem Bogen das Wasser. Am Strand steht ein riesiger Schwan. Paare liegen im Gras, ein paar Kinder laufen hinter Bällen her und ein alter Mann betrachtet seine Zehen als wundere er sich, dass die noch da sind nach all der Zeit. Straff spannt sich über uns ein festtagsblauer Himmel, Spargel und Kalbsfilet gibt es auch, und blinzelnd vor Zufriedenheit, schnurrend vor Glück schließe ich einen Moment die Augen, schnuppere am Haar des F. und hebe mein Glas auf den Sommer, mit dem ich einen Pakt geschlossen habe, dieses Jahr: Auf dass sich alles fügen möge, sonnengelb und optimal und luftballonleicht dazu.

(Nach Paretz sind wir dann nicht mehr gefahren.)

Die guten Zeiten

Aufzuwachen an einem Morgen im Juni und dann in Unterwäsche durchs leere Haus. Die Terrassentür öffnen und den Hund in den Garten lassen. In der offenen Gartentür sitzen, die warmen Steine unter den Sohlen, und gerade so weit weg von der Telephondose, wie die Schnur so eben noch reichte, die N. anzurufen, den T., den J.2, und dann so lange im ganzen Haus nach Geld suchen, bis es für meinen Benzinanteil gerade langt. Um elf ans Meer im blauen, selbstbemalten VW-Bus von O., und vier Stunden später am Strand liegen, Sand zwischen den Zehen, Sand auf dem Bauch, das billigste Bier von Aldi in Westerland und mit dem J.2 über alle diejenigen lachen, die nicht wissen, was es heißt, zu leben und 18 zu sein, und einen Dreck darauf zu geben, was nächstes Jahr im Abizeugnis steht.

Nachts in irgendwelchen Häusern. Die Eltern des B. hatten ein Haus in Kampen. Die Mutter der S. eine Wohnung in Hörnum. Zu sechst in verschwitzten Schlafsäcken auf den Dielen, sich in der Frühe mit der N. zu streiten aus schierer Lust an der Aktion, an der brennenden Luft, das Haus zu verlassen, zwei Stunden später wiederzukehren mit einer Tüte warmer Semmeln in der Hand und sich dann schluchzend versöhnen, weil es sich gut anfühlte, lebendig, ganz hoch oben und ganz tief runter und nie da in der Mitte, wo wir den Tod vermuteten oder zumindest die Sphären, in denen sich Leute sich Kombis kaufen, in denen sie dann bei lebendem Leib verschimmeln und versteinern.

Inzwischen fährt die N. einen Porsche, und der J.2 ist im Volvo unterwegs. Manche Leute nennen uns Mamas und Papas und andere Chef. Wenn wir ans Meer fahren, planen wir das nicht vier Stunden vorher, sondern schreiben Urlaubsanträge, richten Abwesenheitsassistenten ein und buchen drei Monate vorher Häuser und Hotels und stimmen uns mit aller Welt ab.

Ich wünschte, mir fiele irgendetwas ein, was sich heute besser anfühlen würde als 1995. Das Essen höchstens. Aber wir aßen doch auch damals gut und machten Schulden in  Restaurants auf die guten Namen irgendwelcher Väter. Die Hotels bestimmt, aber ich habe auch damals nie schlecht geschlafen. Gut geht es mir, das ist wahr, gut geht es auch den anderen. Nie haben wir bezahlt für die vielen Abwesenheiten von der Schule, den Leichtsinn, die schlechten Noten und die frivole Arroganz Achtzehnjähriger, die glauben, die Welt sei dazu da, eine gute Zeit zu haben.

So gut wie damals.

(Oh, und im Übrigen … ich weiß, kleiner drei ist quasi nicht mehr zu stoppen. Aber der vorletzte Platz ist doch ein bisschen traurig. Fassen Sie sich ein Herz: https://thebobs.com/deutsch/category/2014/peoples-choice-for-german-2014/)

Hase komm!

„Die Eier versteckt der Hase.“, behaupte ich wider besseren Wissens und füge ein lahmes: „Und du suchst sie dann.“, an. Der F. nickt begeistert. Morgen werden in der Kita Ostereier gesucht. „Die Eier sind bunt und manchmal aus Schokolade.“, erläutere ich das bevorstehende Ritual weiter, und nun nickt der F. noch viel begeisterter. Schokolade kennt er. Schokolade findet er richtig gut.

„Huhn Eier?“, fragt er nun doch noch einmal nach. F. besitzt mehrere Bücher über das – allerdings stark idealisierte – Bauernhofleben. Da hatten die Eier immer mit den Hühnern und nie mit den Hasen zu tun. „Schon.“, sage ich deswegen und bin etwas unschlüssig, wie ich die Zusammenhänge nun richtig erkläre. Der F. jedoch wartet eine weitere, die divergierenden Ansätze einigermaßen harmonisierende Lesart gar nicht ab. „Eier Hase! Aus Euter! Aus Hase! Hase, komm!“, kreischt er ebenso begeistert wie irritierend und verschwindet in seinem Zimmer.

Ich werde das demnächst bei passender Gelegenheit irgendwie korrigieren.

Wäsche hängen

Samstag vormittag auf dem Markt am Arnswalder Platz. Ich also mit dem F. an der Hand bei Godshot, der glücklicherweise nichts mit martialischen überirdischen Wesen zu tun hat, sondern schlicht Kaffee verkauft. Ziemlich guten Kaffee, um genau zu sein. Also eigentlich ein Mann mit einer Kaffeemaschine auf einem kleinen, fahrbaren Wagen.

Vor mir sind noch drei, vier andere Leute. Direkt vor mir stehen zwei Frauen, vielleicht vierzigjährig mit Schöffel-Jacken, soliden Hosen, Einkaufskörben und kinnlangen  Haaren. So die Sorte, die ab und zu einen Lippenstift verwendet in einer Farbe, bei der nicht auffällt, dass sie Lippenstift trägt, so dass es bei näherer Betrachtung eigentlich sinnlos und blödsinnig erscheint, dass sie sich überhaupt die Mühe macht. Das ist aber auch das einzig Sinnlose, dass diese Frau tut, denn ansonsten ist sie bestimmt – das sind solche Frauen immer – irrsinnig praktisch veranlagt und unglaublich patent.

Die eine Frau redet auf die andere, die ihre Freundin oder Schwester sein könnte, unablässig ein. „Wäsche“ höre ich. „Wäsche hängen“, und weil es mir bemerkenswert surreal erscheint, sich ernsthaft übers Wäschehängen zu unterhalten, schiebe ich mein iPhone wieder in die Tasche und höre hin. Ein paar Meter entfernt jagt der F. inzwischen seine Kitafreundin J. um den Käsestand. Beide johlen.

Immer noch spricht die Frau über ihre Wäsche und ereifert sich in schrillen, langgezogenen Tönen. Die Wäsche sei empfindlich, höre ich, und nehme Schaden, wenn die Fase schief trockne. Vor dem Trocknen, bohrt sie einen knochigen rechten Zeigefinger in die Luft, müsste die Wäsche deswegen stets in Form gezogen werden, und das mache er einfach nicht.

Er – sie spricht, wie ich vernehme von ihrem Mann – hänge die Wäsche immer schief und krumm auf. Schief und krumm, wiederholt sie, und ihre Freundin nickt in einer komischen Mischung aus Zustimmung und Beschwichtigung und schaut sich ein wenig geniert um. Ich sehe möglichst neutral ins Nichts.

Er verderbe ihr die ganze Wäsche, kommt die Frau wieder auf das Thema zurück. Bisweilen hänge er die Wäsche sogar übereinander. Die Kinder und sie hätten in absehbarer Zeit nichts mehr anzuziehen, wenn er nicht endlich dazu überginge, die Wäsche ordentlich zu hängen, oder sie selbst klein beigebe und die Wäsche – und darum ginge es ihm ja – selbst versorge.

Ich schaue an der Frau vorbei den Kaffeesieder an. Der tut so, als würde er nichts bemerken von der Entrüstung vor seiner Kaffeemaschine und schüttet konzentriert ein wenig Milch in einen kleinen Krug. „Einen Cappuccino.“, bestellt die Frau mit Wäscheproblem, und ich verkneife mir jede Regung und suche in meiner Tasche nach den zwei Euro fünfzig für meinen Kaffee.