Allgemein

Picasso und ich

Als ich in der Picasso-Ausstellung bin, fällt mir wieder ein, dass ich die Moderne eigentlich nicht mag. Ich bin nämlich gar nicht so sehr für unmittelbaren Ausdruck, kraftvolle Farben, eine Feier des Lebens, und was die Kunstkritik sich alles so hat einfallen lassen, um das Kunstschaffen seit 1900 zu beschreiben. Ich habe ein echtes Faible für die zarten, transparenten Himmel des Rokoko, die duftenden Bäume Lorrains und die warme Haut, unter der das kühle Herz dieses intimsten der europäischen Zeitalter schlägt. In Hamburg habe ich letztlich eine Gainsborough-Ausstellung gesehen, die ich mochte, aber hier laufe ich durch den aufgebrochenen Körper der Jacqueline Picasso und versuche Sohn F. zu erklären, was die Moderne einmal war.

Es ist schrecklich voll, außer uns sind alle Bewohner Potsdams und Berlins da. Die Einwohnerschaft Potsdams zerfällt von Jahr zu Jahr mehr in zwei Teile, einen, der blässlich und missgestimmt ist und an den irgendwie verformten Körpern bunte Kleidung aus Kunstfasern trägt, und einen, der aussieht wie Alexander Gauland. Ja, einen dritten, gutaussehenden und sympathischen Teil gibt es auch noch, das ist meine Freundin J. Und ihr Mann.

Ich würde mich ganz gern mit der J. unterhalten, weil mein Leben gerade sehr aufregend ist und ihrs auch. Man fürchtet ja mit 17, das Leben sei quasi zu Ende, wenn man mal 30 oder älter und mit der Suche nach dem Mann fürs Leben fertig sei. Dass man einen Beruf auch deswegen hat, um sich auch ab 30 nicht zu Tode zu langweilen, sagt einem ja keiner. Leider ist hier inmitten von mehreren Hundertschaften Menschen nicht daran zu denken, meiner Freundin von den aufregendsten Seiten meines Lebens zu erzählen, außerdem wird Sohn F. irgendwo zwischen Stierbildern und Frauenbildern schlecht. Der J. geht dann mit Sohn F. ein paar Runden zwischen den historischen Gebäuden herum, die der F. für eine Zeitung fotografiert, die er in einer einzigen Ausgabe textet, bebildert und verkauft. Dann steigt der J. in unser Auto und fährt davon. Sohn F., der ungern Auto fährt, und ich bleiben zurück.

Im Café Kaiserwetter sitzen wir irgendwann zwischen Blumen und Törtchen und Sesseln in Pastell. Ich erzähle Sohn etwas über die Farben des Rokoko, über Friedrich II, über Fragonard und die Sitte, sich die Haare zu pudern, damit man alt aussieht, und plaudere mit meiner Freundin und ihrem Mann. Dann fahren wir heim. Ich bin, denke ich, und schaue in die Wälder rechts und links der Strecke: Ich bin der Moderne abhanden gekommen.

Nächte

Vielleicht ist das jetzt einfach so, denke ich und laufe langsam Richtung Friedrichstraße. Vielleicht ist das bei allen Leuten so, die Anfang 40 sind, die ihre Jobs mögen, die Kinder haben und Ehrenämter und Aufsätze schreiben und irgendwo lehren, die ab und zu einer fragt, ob sie irgendwo öffentlich sprechen, die also das führen, was man ein gutes Leben nennt, und das sich auch so anfühlt. Meistens.

Vielleicht ist das normal, dass man unter der Woche vielleicht einmal Freunde trifft und ins Kino geht. Oder essen. Und dass man am Wochenende meistens befreundete Familien trifft, aber meistens eben nur eine. Dass manche Freunde einem einfach so verlorengehen, und dann sieht man sich und es fällt einem ein, wie schrecklich lange man sich nicht mehr gesehen hat, und es tut einem leid, dass die Tage vorbei sind, an denen man reich an Zeit beim Grillen im Park saß, die langen Abende in Bars, die Samstagnächte und die Sonntagnächte und die Dienstagnächte, ach: Die Nächte überhaupt.

Vielleicht ist es das, was einen das Alter kostet: Die Nächte.

Unterwegs

Bist du auch so gern unterwegs, fragt er und ich verneine.

Ihm, sagt er, fehle das am meisten: Das Nirgendwo zwischen Abfahrt und Ankunft. Die Unendlichkeit, das der Welt abhanden gekommene zwischen den Autobahnen, den Flughäfen und dem leeren, grauen Himmel.

Ab und zu, sagt er, sei er früher einfach ausgestiegen an irgendeiner Ratsstätte, hätte sich mit einem Tee an die Mietwagen gelehnt, die er damals immer hatte. Einen ICE später genommen und auf dem Bahnsteig gesessen. Am Flughafen an einem ganz anderen Gate gewartet und in den Himmel geschaut, so sehr bei sich, so weit weg von allen anderen wie man es sonst ja niemals ist.

Jahresrückblick 2018: Viertes Quartal

Oktober

Als hätte die Einschulung einen eingebauten Turbo angeworfen, wird der F. von Woche zu Woche mehr er selbst. Jemand, der sich für Technik begeistert und Maschinen zeichnet, deren Funktionen er säuberlich mit 1 – 2 – 3 markiert. Der nicht auffallen möchte und darüber nachdenkt, warum es anderen Leuten anders geht. Der fest an Gott glaubt. Der sich gern gut anzieht und mit seinem neuen Freund P. in der Schulhofpause darüber spricht, ob er, wenn er einmal groß ist, Fliegen oder Krawatten tragen wird. Der sich für Politik interessiert. Und für Pferde.

Der F. saß schon oft auf Pferden. Voltigierte, wurde geführt, arbeitete das erste Mal mit Steigbügeln zu Ostern, aber im Oktober in Diacceroni reitet er das erste Mal richtig: Die Zügel in den Händen, die Füße in Steigbügeln. Gangwechsel, rechts und links an kleinen Hütchen vorbei. Eine ganze Woche trägt der F. im Wesentlichen Reithosen, spricht über Pferde, zuckt nachts mit den Beinen, als würde er selbst über die sanften Hügel der Toskana reiten, und freundet sich mit den anderen Kindern an, die auf dem Hof Urlaub machen. Ich lese, lese, lese. Und als ich eines Abends zwischen Pinien und Zypressen über die Äcker reite, fühlt die Welt sich an, als sei sie fehlerlos und wunderbar.

November

Ich habe mir jahrelang eine BahnCard 100 gewünscht, und weiß nicht, warum ich sie mir nicht gekauft habe. Es ist großartig. Nichts geht über Fortbewegung, und einfach losfahren,  Aufbruch mit Köfferchen ist das Beste, was es gibt. Ich fahre viel herum in diesem Jahr, weil ich muss, aber ich fahre auch viel herum, weil ich will, und am ersten Novemberwochenende fahre ich mit dem F. nach Nürnberg.

Dem F. gefällt alles. Die Burg. Die Stadtmauern, das Spielzeugmuseum, die Bratwürste, der Pool im Hotelkeller, das Frühstück mit fünf verschiedenen Sorten Wurst. Das machen wir jetzt immer, sagt er, als wir wieder in Berlin am Bahnhof stehen, aber vorerst fahre ich ohne den F. quer durch Deutschland, spreche mit Leuten, höre mir an, was sie erzählen, aus diesen unruhigen, zornigen Zeiten, und sitze mit vielen, vielen alten und neuen Freunden zusammen, weil ich das endlich schaffe, mit dem neuen Job und dem schon recht großen Kind.

Dezember

Was für ein gutes, gnädiges Jahr, denke ich, als ich heimfahre, Silvester, von Freunden. Was für ein Glück, geliebt zu werden, was für ein Glück, zu können, was man will. Vielleicht ist dieses Jahr das Beste, das Dir gegeben sein wird, denke ich und mich fröstelt, und ich bete an die Mächte, von denen ich nichts weiß, dass auch 2019 mir lächeln wird und auf mich wartet mit einem Arm voll Trauben, voll Blüten, Honig und Wein und das rauschende Meer von Kythera.

Jahresrückblick 2018: Drittes Quartal

Juli

Im Juli geht auf einmal alles ganz schnell. Ich richte mich – zu zweit mit dem allerbesten Kollegen – bei konstanten 32° C ein. Ich telefoniere, ordne, organisiere, kaufe ein Schild, suche Bilder aus und schraube eigenhändig ein paar Möbel zusammen.

Im Juli treffe ich auch meine Lieblingsprofessorin aus der Uni. Sie ist grau geworden, älter, aber sie spricht immer noch mit derselben Eindringlichkeit, es ist ihr immer noch nichts egal, und wir verabreden uns für den Herbst. Man spricht oft schlecht über das deutsche Unisystem, aber ich bin vom ersten Tag an bis heute großzügig gefördert worden, man hat mir immer aufmerksam zugehört, mich früh auf Tagungen mitgenommen, mir erklärt, wer wer ist und wie der Betrieb funktioniert. Vielleicht haben die, die jammern, ihre Chancen nicht genutzt. Vielleicht haben sie aber auch weniger Chancen bekommen. Ich habe – das wird mir nie klarer als 2018 – immer Glück gehabt.

Doch bevor es richtig losgeht, fahre ich noch einmal weg. In Klagenfurt sitze ich auch diesmal in der Sonne, lese Texte mit, spreche, denke, träume tagelang über Literatur, feuere eine mitlesenden Freund an und schwimme im Wörthersee.

August

Alle guten Vorsätze sind zum Teufel. Ich wollte eigentlich weniger arbeiten, mehr Zeit mit dem F. verbringen, auch mal morgens im Café Zeitung lesen, aber offenbar liegt es gar nicht an meiner Umgebung, sondern an mir höchstpersönlich: Ich arbeite immer und fühle mich prächtig dabei. Ich telefoniere, ich schreibe, ich fahre kreuz und quer durch die Republik, und dass es tatsächlich möglich ist, die Dinge, die ich an meinem Job sehr mag, ohne die Dinge, die ich gar nicht mag, zu behalten, macht mir extrem gute Laune. Morgens fahre ich in den leichtesten Kleidern, die diese Stadt zu bieten hat, durch den Tiergarten in meiner Büro und jubele abends mit dem F. auf dem Schoß in den Biergärten Berlins herum.

Dann aber ist es vorbei mit den langen Abenden mit F. Er wird eingeschult. Stolz läuft er mit seinem Sakko und der Riesentüte zur Schule, wird aufgerufen und steht dann doch sehr klein mit den anderen sehr kleinen Kindern in der Aula. Bis zum Herbst wollen sie alle nicht mehr hin, behauptet eine befreundete Mutter, aber das wird sich nicht bestätigen. Wir haben Glück. Der F. mag die Schule, findet Freunde und bewundert seine Lehrerin. Weil die Schule sehr religiös ist, ist der F. schon Ende des Jahres ein evangelischer Fundamentalist. Die Zeit wird es richten. Hoffentlich.

September

Wien. Wein beim Mayer am Pfarrplatz. Brötchen bei Trzesniewski, Schnitzel und Torte, Siegmund Freud und Mozart. Aber auch das AKK, in das der S. muss, weil er sich den Arm gebrochen hat. Schön ist es hier, denke ich und laufe mit dem J., aber ohne das befreundete Paar durch die Stadt, aber noch schöner wär’s, wenn der F. auch hier wäre. Das denkt der F. übrigens auch und bekommt einen Ausflug an die Donau für 2019 versprochen.

Wir leiden alle drei am entsetzlich frühen Aufstehen. Immerhin macht das Jahr es uns leicht, denn wir lieben den Sommer, und Sommer ist nach wie vor, Sommer ist monatelang, täglich esse ich unter den wippenden Bäumen der Stadt und schaue an den Wochenenden in den Himmel über der Stadt und trabe über die staubigen Äcker der Mark.

 

Jahresrückblick 2018: Zweites Quartal

April

Seien wir ehrlich: Das Veneto sieht aus wie Niedersachsen. Die Dörfer scheinen alle aus den Fünfziger Jahren zu stammen, die Äcker sind flach, aber unser Ferienhof ist schön, die Pferde gepflegt,  und Ostern sitzen wir mit dem halben Dorf zusammen und essen einen Gang nach dem anderen. Schön auch: Verona.

Überhaupt entdecke ich das Reiten dieses Jahr wieder neu. 2017 saß ich das erste Mal nach langer Zeit wieder auf einem Pferd, kam kaum ohne Aufsteighilfe in den Sattel, wurde beim Leichttraben hin- und herumgeschleudert, aber im Herbst 2018 werde ich über die Hügel der Toskana reiten und es wird sein, als wäre ich nie abgestiegen, und ich werde nie glücklicher gewesen sein in diesem Jahr als in diesen Momenten.

Ich hatte mir eigentlich vorgestellt, über Monate zu verschwinden. Leider ist das Verschwinden schwieriger, als man so denkt. Aus Italien zurückgekehrt bin ich deswegen eine Woche in Berlin, führe Gespräche, telefoniere viel, und entscheide mich in dieser Woche endgültig gegen die Fortsetzung des alten Lebens in neuen Kulissen. Als ich nach dem letzten Gespräch auf der Friedrichstraße stehe, fühle ich mich so leicht und frei wie zuletzt am Tag nach meinem zweiten Examen und fliege übermütig durch die Straßen der Stadt.

Eine Woche später fahre ich nach Malta.

Ich war noch nie auf Malta, aber das Angebot in einem der ungefähr zehn Reisenewsletter war so bestürzend günstig, dass ich kurzerhand ein paar Kleider in eine Tasche werfe, den F. in der Kita abmelde und in einem Strandhotel lande. Einem All-Inclusive-Strandhotel. Immerhin fünf Sterne.

Was soll ich sagen. Es war überraschend okay. Das Hotel war voller älterer, sehr ruhiger Engländer. Das Essen war gut, vielleicht sollte ich meine Vorurteile gegenüber Buffets doch nochmal überdenken. Mit Bussen und Taxen fuhren wir über die Insel, balancierten über Burgmauern, staunten in Palästen, aßen Kekse und tranken Tee in verstaubten Tee Salons und saßen abends am Meer und sahen zu, wie der Himmel errötete und sich in Dunkelheit verhüllend zur Nacht begab.

Der F., übrigens, spricht immer noch von diesem Hotel, in das meinen geschätzte Gefährten zum Leidwesen des F. keine zehn Pferde bekämen.

Mai

Die re:publica ist riesig, gewiss, aber ich plaudere über Tage mit genau den Leuten, mit denen ich seit zehn Jahre spreche. Dieses Jahr ist aber besonders schön, denn ich habe Sohn F. dabei, der inzwischen sechs ist, und F. liebt alles. Er jubelt im Bällebad. Er führt ein langes Gespräch mit einem Mann, der sich Roboter ausdenkt, und springt sogar ein bisschen auf der Stelle, als er erfährt, dass auch er, der F., vielleicht eines Tages ein Cyborg werden wird. Im Vortrag von Felix Schwenzel fasst der F. den Vorsatz, auch unsere Wohnung komplett zu automatisieren, und ganz am Ende singt auch er vor der Bühne inmitten des wirbelnden Konfettis mit. Is this the real life.

Ach, aber sonst? Was habe ich im Mai getan? War ich essen unter wippenden, grünen Bäumen? War ich im Theater? Habe ich nachts mit J2, mit der J., mit der C., mit der I., Wein getrunken? Habe ich viel geschrieben und telefoniert? Vor allem aber habe ich gelesen, viel gelesen, und in Cafés Tee getrunken vor meinem Notebook wie jemand, der ich war und wieder sein werde. Gut geht’s mir im Mai.

Juni

Der Lieblingsbauernhof ist voll, aber ein paar Kilometer abseits gibt es einen Reiterhof mit Ferienwohnung, und der F. und ich reiten durch die Uckermark. Der F. wird geführt, ich verscheuche die Bremsen und der Sommer liegt heiß und trocken auf den Feldern.

Heiß ist und bleibt es. Ende des Monats bin ich wieder in Brandenburg, ein Workshop, und als ich abends noch einmal durch den verwilderten Park spaziere, höre ich nichts, gar nichts, außer dem leisen Rauschen der Bäume, und ich glaube, ich kann den Sommer sehen, wie er auf einem Ast sitzt, die Beine baumeln lässt und mich lässig näher winkt, bekränzt mit Laub und Blüten.

 

Jahresrückblick 2018: Erstes Quartal

Januar

Soviel Freiheit hatte ich zuletzt mit Ende 20. Da war ich Doktorandin, wälzte mich in lauter lustigen Dramen, hatte nicht so besonders viel zu tun, und stiftete Unruhe unter den Dächern der Stadt. Ungefähr so sieht es auch jetzt aus: Ich habe nach Jahren wieder einmal richtig viel frei. Das alte Leben ist endlich vorbei, das neue noch nicht losgegangen, und so treffe ich fast täglich alte und neue Freunde, esse und schreibe. Entwerfe großartige Pläne und verwerfe sie wieder und schmiede neue, und außerdem fahre ich einfach so zum Spaß fürchterlich viel durch die Republik. Köln, Bielefeld, Hamburg, Hannover, Leipzig: Ich lerne wieder zu schlendern, nehme mir Zeit für lange Gespräche in Cafés, und auf einmal fallen mir sogar wieder Freunde und Freundinnen ein, an die ich ewig nicht gedacht habe, und rufe sie an, die sich dazu noch alle freuen, und wenn ich morgens in den Spiegel schaue, dann sehe ich eine ältere Version meines ich mit 25 und nicht mehr eine Fremde.

Februar

Das Semester ist zuende und ich breche auf: Im Sommer wird der F. eingeschult werden. Das ist die letzte Gelegenheit. Unter mir wird Berlin kleiner und kleiner, verschwindet unter kalten Wolken, und als wir in Dubai zwischenlanden, kann ich die Sonne schon sehen, die dieses Jahr mir mehr gehört als jedem sonst.

In Hua Hin haben wir eine Wohnung gemietet in einer Anlage am Meer, vor unserer Veranda schlängelt sich ein Pool wie eine Lagune über einen Kilometer einmal um die Anlage herum, und unter Palmen, zwischen Orchideen, eingehüllt in die feuchte, nach Blüten und süßer Fäulnis duftende Wärme der Tropen, spazieren der F. und ich am Strand entlang, essen die riesengroßen, vor Saft strotzenden Früchte, kaufen jeden Tag auf dem Nachtmarkt gegenüber alles, was unser Auge reizt, freunden uns mit Nachbarn an und freuen uns auf den J., der zwei Wochen später eintrifft.

Geht’s dir gut, fragt mich ein paar Tage später mein alter Freund S., Freund seit Schultagen, der mit seiner Freundin aus Burma zu Besuch gekommen ist, und dann freuen wir uns beide, dass es uns besser geht, als wir jemals erwartet haben, als wir 15 oder 18 waren in unserer kleinen Stadt.

März

Was habe ich eigentlich im März getan? Als ich wieder da war nach ein paar Tagen Bangkok nach den Wochen am Meer? Die ich genossen habe, weil ich diese asiatischen Megastädte mag, besonders Bangkok, wo ich vor einigen Jahrhunderten mal Referendarin war, und es liebe, wie die Stadt sich verändert, verformt, verschlankt, verschönt manchmal, und ich zünde für alles, was ich liebe, eine Kerze an in einem Tempel und eine riesengroße für das, was ich auf Erden am allermeisten liebe: Den klugen, liebevollen, freundlichen F.

Ich fürchte, ich habe einfach nur sehr viel geschlafen. Und noch mehr Freunde getroffen und herumgefahren. Leute getroffen, die ich online kennengelernt habe und schon lange mal in echt treffen wollte. Und überhaupt so viel ausgegangen, dass ich jetzt wieder wie zuletzt vor zehn Jahren oder so ziemlich genau weiß, wo man so hingeht und was es da gibt. Im Theater war ich auch, endlos viel gelesen und habe alle meine Pläne für zehn Jahre oder so aufgeschrieben und hake seither ab, was ich geschafft habe. Punkt für Punkt.

 

Hai

Na, geben Sie es zu: Sie wollen es doch auch. Schließlich herrscht bei Ihnen diesbezüglich Ebbe. Nicht mal ein bisschen Tuna haben Sie im Haus, so von wegen Delphine. Und ihr Aquarium, das Sie mit 12 von ihrer Patentante bekommen haben, haben Sie nicht mehr, seit Sie 16 geworden sind. Aber wenn Sie sich so umsehen, ganz ehrlich, Ihr Heim ist vielleicht schick, aber leer. Ich weiß, was Ihnen fehlt: Sie haben keinen Hai.

Wir dagegen, der geschätzte Gefährte, unser liebenswürdiges Kind und ich, wir leben in unserer Berliner Wohnung zwar fernab der salzigen Fluten der Meere. Aber ob es an der heute Morgen besuchten Führung durch die Ausstellung „Europa und das Meer“ lag, oder ob der F. schon immer davon träumte, einen eigenen Hai zu halten: Seit heute nachmittag wohnt Markus bei uns, ein ungefähr ein Meter langer Plüschhai, aufgesticktes Maul, weich, aber blutrünstig, und zur Stunde liegt der F. inmitten seiner ungefähr fünfzig Kuscheltiere neben dem riesigen Vieh.

Nur ganz kurz hatte der F. bei Ikea den Elefanten gestreichelt, den Tiger getätschelt und den Hund geschwenkt. Dann hatte er höchstpersönlich (ich bot die Tasche an, aber wurde zurückgewiesen) den Hai zur Kasse geschleppt, und nun gehört er ihm. Der mit den beiden Gutscheinen aus F’s Ikea Adventskalender gekaufte Kuschelhai.

Und ich bin mir sicher, auch Sie sehnen sich gerade nach danach, einmal im Leben etwas so Geliebtes in den Armen zu halten wie der F. heute nacht.

Törtchen

Sie glänzten schokoladenbraun wie lackiert. Sie waren kreisrund, vielleicht vier Zentimeter hoch, bestäubt mit essbarem Glimmer, und obendrauf lag ein kleiner Weihnachtsbaum aus heller Creme. Sie stammten aus der überaus empfehlenswerten Patisserie Jubel, und ich hatte sie am 22. vorbestellt und am 23. abgeholt. In einer hellbraunen Schachtel trug ich sie vorsichtig nach Hause.

Was soll ich lang erzählen: Die Törtchen standen in der Loggia auf einem Hocker. Am selben Tag nachmittags ging Sohn F. in die Loggia, nahm die Schachtel hoch und kam damit in die Küche. Schwenkte die Schachtel, hielt sie hochkant dem geschätzten Gefährten entgegen und fragte laut, was denn in der Schachtel sei.

Also war. Mit überdeutlicher Betonung auf dem Präteritum.

Als ich kam, brach ich fast in Tränen aus. Der geschätzte Gefährte aß das, was noch übrig war. Der F. heulte. Ich rief meine Mutter an und verfluchte die Unfähigkeit meines Sechsjährigen, unbekannte Schachteln einfach dort zu lassen, wo sie sind, und blätterte in Kochbüchern. Man kann ja eine Menge auch noch recht kurzfristig machen. Aber diese Törtchen kann ich nicht mal, wenn ich sehr, sehr, sehr viel Zeit hätte.

Der J. war dann am 24. vormittags im italienischen Supermarkt und kaufte eine Riesenportion Tiramisu, die okay war, aber eben eine Tiramisu und kein Kunstwerk. Und als dann am 24. ein neuer Christbaumständer beschafft (jaja, mal sehen, wo der alte wieder auftaucht), der Baum geschmückt, die Freunde eingetroffen, die Bescherung abgeschlossen und zwei Gänge gegessen waren, löffelte ich entschlossen die Fabriktiramisu aus und nahm mir vor, direkt nach der Jubel-Weihnachtspause das allerschönste Törtchen zu kaufen und vor Ort ganz allein zu verzehren.

Gilbert Grape

Kenne ich, höre ich einem Teenager beim Weihnachtskonzert der Musikschule zu. In den Reihen vor mir wippen kleine und nicht mehr ganz kleine Kinder aufgeregt oder gelangweilt mit den Füßen, und mein Sohn dreht sich ab und zu zu mir um und schaut mir einen kurzen Moment direkt in die Augen. Er hat schon gespielt, langsam fällt die Aufregung von ihm ab.

Kenne ich, denke ich, während der vielleicht Vierzehnjährige angestrengt weiterspielt: Das ist aus „Gilbert Grape“, den ich Anfang der Neunziger gesehen habe, da wohnte ich noch zuhause, und jeden Montag gab es im Kino in der kleinen Stadt einen Film, der als „Der besondere Film“ angekündigt wurde. Das war dann Tarantino. Oder Kaurismäki, Kusturica, irgendwie so.

Von Gilbert Grape weiß noch, dass Juliette Lewis mitspielte, die ich nicht so schön fand wie Winona Ryder, die Audrey Hepburn jener Jahre. Und Johnny Depp, ganz jung mit langen Wimpern, androgyn und hübsch, der scheue Außenseiter spielte, und der ganz junge Leonardo Di Caprio. Ich weiß noch, dass eine dicke Mutter mitspielte, die am Ende in ihrem Haus verbrannte, und dass es darum ging, freundlich zu sein, aber sich selbst nicht dabei zu vergessen, und dass es eine Utopie war, einfach eines Tages aus Liebe mit einem Wagen davonzufahren.

Ich weiß noch, dass ich damals in einen Jungen verliebt war, den ich nie bekam, und mit einem zusammen, der mich langweilte und den sehr schlecht behandelte, aber wochenlang nicht verließ, warum auch immer. Ich weiß, dass ich mir mit meiner Freundin N. wie jeden Montag im Kino eine Schachtel Eiskonfekt teilte, und dass ich in diesem Jahr fast sitzengeblieben wäre, weil ich meinem Widerwillen gegen die Schule endlich nachgeben konnte und an manchen Tagen einfach nicht mehr hinging. Ich weiß noch, wie es war, stattdessen bei meiner Freundin zu übernachten und nachts in ihrem Zimmer im Bett zu liegen, zu zweit auf 90 Zentimetern, und über Dinge zu sprechen, die sehr wichtig gewesen sein müssen, aber ich habe sie alle vergessen.

Ich weiß noch, dass ich mich damals sehr einsam gefühlt habe und sehr unverstanden, dabei stimmte zumindest das mit der Einsamkeit nicht, oder jedenfalls nur so, wie man eben einsam sein kann, wenn man ständig umgeben ist von Leuten. Ich weiß, dass Filme damals wichtig für mich waren und dass ich sehr viel las. Das weiß ich alles, während die kurze Melodie endet, auf diesem Musikschulkonzert an diesem unfassbar grauen Samstag, und als der Junge, der gespielt hat, wieder zu seinem Platz geht, muss ich daran denken, dass ich ewig nichts von Juliette Lewis gehört habe. Dass Johnny Depp der verrückte Hutmacher geworden ist, ein Zerrbild, ein Bajazzo als Howard Hughes. Dass die N. selbst bei Instagram aussieht wie eine unzufriedene Frau mit genug Geld und trotzdem nichts zu Lachen, und dass ich von Glück sagen kann, von unverdientem, unerwarteten Glück, um das ich manchmal zittere, weil nichts auf Erden sicher ist, erst recht nicht: Das.