Liebe Freunde

Andreas und Sandra

Hach, sage ich. Wenn das so weitergeht, muss ich mein Blog noch schließen. Mein gesamtes Sozialleben dreht sich um die Kinder, entweder, weil meine Freunde und ich mit allen unseren Kindern irgendwo sind, oder weil wir irgendwo sitzen und über die Kinder sprechen. Ins Kino schaffen wir es alle zusammen nur alle paar Monate mal, zuletzt in Birdman, und da können Sie sich ja schon denken, dass das nicht gestern war. Mit dem Theater oder Tanzengehen sieht es ähnlich aus, und wenn ich es irgendwohin schaffe, um da was zu essen, kann man sicher sein, dass die ganze Stadt schon da war. Vorgestern zum Beispiel, da war ich in der Cordobar in der Großen Hamburger Straße. Das ist toll da, aber das haben Sie natürlich schon gewusst.

Irgendetwas, über das zu schreiben sich lohnt, passiert mir daher eigentlich nie. Auch meine Freunde erleben nämlich nichts, was interessanter wäre als die Frage, wann der Sohn der lieben C. aufsteht und läuft, wann der kleine F. endlich Fahrrad fährt, und ob die Tochter der I. noch diesen Sommer Seepferdchen macht. Oder sie erleben es doch, aber kommen wegen der ununterbrochen plappernden Kinder nie dazu, es mir zu erzählen. Wenn wir alle uns nicht um unsere Kinder kümmern, arbeiten wir, und das wollen Sie doch gleich gar nicht wissen. Da blieben eigentlich nur die kinderlosen Freunde, aber die erzählen mir nichts, vermutlich, um nicht meinen Neid zu erregen. Höchstens vielleicht diese Sache mit der D. … aber urteilen Sie selbst.

Stellen Sie sich also – wir schreiben das Jahr 2003 – eine junge D. von damals 25 vor, die als Praktikantin im Bundestag die Zeit bis zu ihrem Referendariat überbrückte, des Nachts feiern ging und mit ihrem Mitbewohner sehr friedlich und rein gar nicht amourös in der Schliemannstraße vor sich hin lebte. Die Schliemannstraße, Sie werden sich erinnern, war damals noch verhältnismäßig studentisch-verstrubbelt, und auch die junge Frau war noch in einem Stadium ihres Lebens, in dem sie erstens alles aß, zweitens auch völlig egal, wann, und drittens eines Morgens von einer Wurstbude in Mitte einen schönen Fremden einfach mit nach Hause nahm.

Sie hätte dem Fremden ebenso gut ihren richtigen Namen sagen können. Dass sie stattdessen behauptete, „Sandra“ zu heißen, lag einfach daran, dass auch er ihr seinen Namen nicht verraten wollte, sondern behauptete, er heiße „Andreas“, was Mitte der Siebziger auch eher so eine Art eine Gattungsbezeichnung war. So beschloss man beiderseits, Namen seien Schall und Rauch, und als man – das war einige Stunden später – rauchend auf dem Dach des Hauses in der Schliemannstraße lag und in den Sommermorgen sah, war ihr sowieso egal, ob er nun Hinz oder Kunz oder Rumpelstilzchen hieß. Es blieb dann auch bei Sandra und Andreas, als man sich noch ein paarmal wiedersah, aber dann ging sie für ein paar Monate nach Rio de Janeiro, und als sie wiederkam, zog sie mit ihrem Freund zusammen, arbeitete drei Jahre für eine Kanzlei und dann für einen Verband, und als sie zwei Kinder bekam, verließ sie den Prenzlberg und wohnt heute in Wannsee.

Abendtermine übernimmt sie eigentlich ziemlich ungern. Da muss schon ziemlich was kommen, damit sich der Babysitter lohnt, aber manche Einladungen kann selbst eine Frau, die seit ihrer ersten Geburt vor acht Jahren nach eigenem Bekunden nie wieder nach Mitternacht im Bett war, nicht ausschlagen. Da stand sie dann also gähnend auf dem Fest eines großen Industrieverbandes, der … ach, eigentlich egal, aß Miniblutwurst auf Minikartoffelschnee auf Löffeln, Krabben auf Wasabicrackern, trank Riesling und plauderte mit Leuten, die sie teilweise kannte, teilweise wenigstens so tat und simulierte sich so durch den Abend. Nach drei Glas Riesling ging es im Übrigen auch wieder ganz gut.

Ganz nüchtern hätte sie möglicherweise allerdings etwas schneller reagiert, als sie so von vage seitlich angesprochen wurde. Sie sah auf. Es war Andreas. Also sozusagen Andreas. Und ganz offensichtlich ging es ihm prächtig, und peinlich war ihm die alte Angelegenheit auch nicht. Man stieß also an auf die alten Zeiten, Andreas holte Wein und Bier und dann wieder Wein, und als gegen Ende alle eingeladenen Gäste verschwunden waren und nur noch die Praktikanten an der Bar standen und tranken, tranken sie in der bar tausend weiter. Was sie zuhause erzählte, als sie morgens um fünf auftauchte, entzieht sich leider meiner Kenntnis.

Eine gute Woche rang die D. mit sich und speicherte die Nummer von Andreas ein halbes Dutzend mal ab, um sie dann ganz schnell wieder zu löschen. Sie rief jemanden an, von dem sie dachte, er müsste ihn kennen, und sprach dann doch lieber über etwas anderes. Dann stritt sie sich mit ihrem Mann über die Frage, wie viele Gäste ein Fünfjähriger zum Geburtstag einladen darf und ärgerte sich so, dass sie Andreas eine SMS schrieb, und am letzten Mittwoch saß sie dann doch in der Lounge des Esplanade Hotel, bestellte schnell hintereinander zwei Tom Collins und war gerade noch so pünktlich zuhause, dass der Babysitter den letzten Bus ganz knapp noch bekam.

Ein schlechtes Gewissen, behauptet die D., habe sie gar nicht. Es sei ja auch quasi nicht sie selber, die nächsten Monat schon wieder, diesmal in einem anderen Hotel, verabredet sei. Sandra sei, das sei mehr als eine faule Ausrede, ganz klar jemand anders, und alles, was Sandra so anstelle habe mit ihr, der D., deswegen sozusagen annähernd rein gar nichts zu tun.

Nicht hier, nicht dort

Oje, denke ich und schlendere, die Hände in den Taschen, über den nassen Sand, den Kindern hinterher. Der J.2 erzählt von seinem neuen Job, jeden Tag im selben Büro, und hört sich ein wenig so an, als trauere er dem Beraterleben doch durchaus hinterher. In Gedanken zähle ich die Jahre, die er aus dem Koffer gelebt hat. Montag morgen nach Tegel, Donnerstag Abend zurück, Freitag Office Day und zwei Tage zu Hause: Die meisten Leute macht das auf die Dauer krank und einsam, aber er mochte diese ganz besondere Form der Abwesenheit über fast zehn Jahre, und findet sich im neuen Leben offenbar nicht so ganz mühelos zurecht.

Ob es das Leben im Hotel war, frage ich mich. Dass man nicht abwaschen muss, und die Abwesenheit von zu viel Besitz um einen herum. Dass man morgens sein Frühstück einfach vorfindet. Oder ob es die Leute waren. Dass man immer nur Kollegen und kaum Familie oder Freunde um so hat, und deswegen sehr selten die Zumutungen der Nähe an einen herangetragen werden. Das Sich-verhalten-müssen. Die Pflicht, wirkliche Gespräche führen zu müssen und nicht nur einfach so etwas zu sagen. Der J.2 ist ein kluger, sensibler Mensch, um so schwerer diese beständige Last, auf der Emotionalitätsskala immer die zehn ansteuern zu müssen, und es nicht bei der vier belassen zu dürfen.

Oder es war nichts davon. Keine Bequemlichkeit, weder in den täglichen Dingen noch emotional. Vielleicht war es schlicht so eine Freude an der Unsichtbarkeit, am Hier-wie-dort-sein, an der Beweglichkeit, die über Jahre – ich glaube, fast zehn – dazu führt, dass man nie wirklich irgendwo ist, sondern wie ein Läufer auf einem lange belichteten Bild nirgends wirklich und überall zugleich, ein farbig-rotierender Schatten, Wolken am stürmischen Himmel, und nun, des Wirbelnd beraubt, verdammt zur Sichtbarkeit und – wenn mich nicht alles täuscht – schon ein ganz klein wenig gelangweilt.

Der B., die D. und das Vergessen

„Hey!“, begrüßt mich der B. auf dem Markt vorm Stand vom Metzger und schiebt mit der linken Hand seinen kleinen Sohn an einer Frau mit Zwillingswagen vorbei. Es gehe ihm gut, entnehme ich dem kurzen Gespräch in der Schlange, er habe die Kanzlei gewechselt, seine Freundin geheiratet, mit der er das Kind hat, und ganz um die Ecke eine Wohnung gekauft. – „Schöne Grüße an die D., wenn ihr euch noch seht!“, lässt er noch ausrichten, als die Verkäuferin mich zum zweiten Mal aufruft, zu bestellen. „Richt‘ ich aus!“, wende ich mich noch einmal kurz nach hinten und ordere dann frische Weißwürste, ein Stück Leberwurst und werfe einen begehrlichen Blick auf die Lammrippchen. Dann gehe ich heim.

„Ach – der!“, gluckst die D. am Montag drauf, als ich die Grüße ausrichte. Der, meint sie. Der mit den Halluzinationen. Die D. lacht und auch am Telephon höre ich die D. fröhlich den Kopf schütteln. Dann fällt auch mir alles wieder ein: Der B. und die D. und der nie geklärte Pfingstmontag.

Eines Tages nämlich – das ist schon ziemlich lange her – saßen die D. und ich vor dem 103 in der Kastantienallee. Da gehen wir schon lange nicht mehr hin, aber damals waren wir andauernd da, frühstückten, tranken frischen Pfefferminztee und den schlechtesten Wein der Stadt, und meistens trafen wir irgendwen, weil alle dahingingen. An diesem Tag, es war ein Pfingstmontag, trafen wir irgendwann spät auch den B. Der B. war ein Bekannter von mir, der D. aber sichtbar auf Anhieb sympathisch.

Was wir alles getrunken haben, habe ich vergessen. Irgendwann schloss das 103 und der große, schlanke Kellner, der, glaube ich, Klaus heißt, klapperte so ausdauernd mit Gegenständen, dass wir gingen. Irgendwann waren wir dann in Mitte. Und in Friedrichshain. Und noch später wieder in der Metzer Straße in der Wohnung vom B.

Die Wohnung vom B. war damals eine Art antibürgerliche Installation. Es war wirklich schmutzig, aber es gab noch Bier und Wodka, und als ich ging, war sogar immer noch etwas da. Mit mir brach der K. auf, den hatten wir irgendwo in Mitte aufgelesen, und erzählte mir am Rande des Bauspielplatzes in der Kollwitzstraße eine lange, ziemlich unwahrscheinliche Geschichte. Während dessen wurde es unfassbar hell.

Ein paar Tage später traf ich die D. wieder irgendwo. Es sei nicht mehr viel passiert in dieser Nacht, meinte sie eher beiläufig. Sie sei irgendwann beim B. auf dem Sofa eingeschlafen und am nächsten Morgen hätte sie mit dem B. im MS Völkerfreundschaft gefrühstückt. „Netter Kerl so an sich.“, meinte sie, und dann sprach sie nicht mehr vom B.

Der B. dafür sprach um so mehr von der D. Anders als jene meinte der B. nämlich sich durchaus an bemerkenswerte Vorfälle zu erinnern, auch sei das Frühstück (hier stimmten wenigstens wieder die gemeinschaftlichen Rahmendaten) durchaus romantisch verlaufen, und so fühlte sich der B. wohl durchaus zumindest subjektiv zu recht enttäuscht, dass die D. keinerlei Anstalten machte, sich erneut zu verabreden oder sich zumindest an ihn zu erinnern. Auf ein oder zwei SMS kam wohl keine Antwort.

Die D. dagegen schwor Stein und Bein, da sei nichts gewesen. Die D. gehört auch nicht zu den Leuten, die solcherlei Intermezzi absichtsvoll verschweigen. Man darf der D. daher abnehmen, dass sie sich zu Erinnerungen bekennen würde, besäße sie jene, und auch, dass sie derlei Ereignisse an sich nicht einfach vergisst. So viel, dass das Vergessen pharmakologisch bedingt eingetreten sein könne, habe sie zudem bei weitem nicht getrunken, behauptet die D. bis heute und so schwebt ein Mysterium über diesem Pfingstmontag, ein dunkler Fleck in der Privatgeschichte der D.und des B., unaufklärbar wie alle wahren historischen Rätsel.

Mutter

„Oha.“, sage ich, verkneife mir ein herzhaftes „Bist du wahnsinnig“ und wechsele einen besorgten Blick mit dem C. Die L. lacht. Sie persönlich werde ja gern photographiert, wirft sie in die Runde im Toca Rouge, allerdings kämen auch ihr die Umstände ein wenig sonderbar vor.

In der Tat:

Die L., Rechtsreferendarin und Gelegenheitsfreundin des mir befreundeten C., begab sich also vor zwei Wochen in Begleitung einer Freundin zu einem bekannten Club in Friedrichshain, und stand dort, wie es dort halt so Sitte ist, eine Stunde lang in der Schlange vor der Tür. Es war saukalt, die L. fror in einer Kombination aus einem nachthemdartigen blauen Gewand, sehr, sehr engen Jeans, einer viel zu kurzen Lederjacke und diesen Stiefeln, die aussehen wie die Fußbekleidung auf Mittelaltermärkten.

Nach circa 45 Minuten hatte die Freundin der L. genug gewartet und ging einfach weg. Die L. fror allein weiter. Irgendwo im Inneren des Gebäudes befanden sich weitere Freunde der L., die galt es zu finden, aber zunächst stand sich die L. vor der Tür die Beine in den Bauch.

Als ihr ein Fremder etwas zu trinken anbot, griff sie sofort zu. Ihre Hände seien schon ganz steif gewesen, berichtet die L., und der fremde Samariter habe ihr seine Handschuhe ausgeborgt. Schnell freundete man sich an. Der Fremde, so erfuhr die L., war Photograph, 38 oder so, gebürtig aus Aachen, aber ansässig in Kreuzberg seit fast zwanzig Jahren, und arbeite für verschiedene Presseorgane und ansonsten photographiere er halt so herum. Ein- oder zweimal habe er in kleinen Galerien ausgestellt.

Die L. fand das alles hochspannend. Die L. stammt selbst aus einem Kaff in Hessen, dessen Namen wir uns alle nicht merken können, hat dann in Marburg studiert und ist seit knapp sechs Monaten – für immer, wie sie beteuert – in Berlin. Entsprechend bewunderte sie den Photographen bestimmt zehn bis zwanzig Meter lang in Richtung Haupteingang, und das dauert ziemlich lange.

Kurz vor dem Eingang bot der Photograph an, die L. zu photographieren. Er habe da so ein Projekt. „Wenn es nichts Nacktes ist ….“, stimmte die L. etwas vorsichtig zu, und der Fremde beruhigte sie. Es gehe um voll bekleidete Bilder. Die L. gab ihre Telephonnummer heraus. Dann trennten sich die Wege: Die L. ging tanzen, der Photograph fuhr, von der Tür verschmäht, heim.

Schon am nächsten Tag rief der Photograph an. Noch am selben Abend traf die L. ihn in einem Café und ließ sich erläutern, worum es ging. Sie sollte in Abendkleidern photographiert werden, teilte der Photograph ihr mit, und zwar in den Abendkleidern seiner Mutter. Dieser – und der Photograph zückte ein paar Bilder seiner Mutter in jungen Jahren – sehe die L. im Übrigen außergewöhnlich ähnlich.

„Kleiner Mutterkomplex.“, kommentierte der C. dieses Projekt einige Tage später eher sparsam, wie es dem betont nicht-beziehungsähnlichen Verhältnis zwischen dem C. und der L. entspricht. Sorgfältig ist der C. darauf bedacht, weder Verhaltensweisen, die nach Eifersucht aussehen könnten, noch übertriebene Fürsorge an den Tag zu legen, und so behielt er seine Meinung auch dann noch für sich, als sich herausstellte, dass es nicht um die Kleider einer lebenden, sondern einer vor einigen Jahren verstorbenen Mutter geht. Als aber die L. ankündigte, diese Bilder würden nicht in Kreuzberg, sondern in Aachen im inzwischen unbewohnten Einfamilienhaus der toten Mutter gefertigt, wohin sich der Photograph mit der L. zu diesem Zweck für mehrere Tage begeben werde, bat der C. dann doch einige vorwiegend weibliche gute Freunde, der L. den eindrücklichen Rat zu geben, hiervon auf jeden Fall Abstand zu nehmen, selbst wenn, wie der L. versichert wurde, diese im Bett seiner Mutter schlafen dürfe, während der Photograph im Kinderzimmer übernachte wie immer.

Der Zsa-Zsa-Gabor-Komplex

Tatsächlich hat das Alter keinerlei Vorteile: Wenn man 20 ist, kann man nächtelang feiern und sieht am nächsten Morgen aus wie neu geboren, aber versuchen Sie das mal zehn Jahre später. Was eine wirklich junge Frau verbricht, fällt fast samt und sonders unter gütig belächelte Jugendsünden, wohingegen Damen mittleren Alters für ihre Faux Pas auf keinerlei Nachsicht hoffen können. Dass die männliche Nachfrage, um auch dieses schwierige Kapitel anzusprechen, sich in erster Linie auf junge Damen richtet, bedarf wohl keiner weiteren Worte, und so nimmt es nicht wunder, dass die Welt um manche ältere Dame weiß, welche ihr Geburtsjahr mindestens verheimlicht, wenn nicht sogar verfälscht.

Doch auch das männliche Alter ist kein gemütlicher Zustand, und so ist auch nicht jede männliche Altersangabe zutreffend, und daher antwortete ein 2005 an und für sich noch recht junger Mann von ca. 32 auf die Frage anderer Rechtsreferendare im Bundestag (tatsächlich handelte es sich um zwei Damen), wie alt er denn sei, mit einem kräftigen „28“. Die beiden Fragenden selbst bekannten sich zu ihren damals 24 oder 25, und so war alles gut. Einträchtig, ja freundschaftlich sogar, arbeitete man im Jakob-Kaiser-Haus vor sich hin. Dann aber hatte der junge Mann – wir wollen ihnen der Einfachheit halber J. nennen – Geburtstag.

Zu seinem Geburtstag lud der junge Mann die beiden Kolleginnen ein. Außer den Kolleginnen waren auch die Freunde eingeladen, die der junge Mann sowieso schon hatte, und so saßen im Februar 2006 (draußen war es ziemlich kalt) ungefähr 15 Personen in seiner Wohnung am Helmholtzplatz herum. Es gab Bier, Bouletten und Salate, leise Musik, die den guten Geschmack des jungen Mannes bezeugte, und weil es zu wenig Sitzgelegenheiten gab, hockten die meisten Gäste auf dem Boden.

Zu den Freunden, die den jungen Mann schon mehrere Jahre umgaben, gehörte unter anderem auch die C., die – wie die meisten anderen Anwesenden auch – ebenfalls Juristin ist, ebenfalls Jahrgang 1973 und ebenfalls keine gebürtige Berlinerin. Die C. stammt, wie es sich für eine Prenzlbergerin gehört, aus des Landes Südwesten, und dort hat sie irgendwann in den Neunzigern auch studiert. Nach dem Studium aber hat die C. mehrere Jahre an einem Lehrstuhl als eine wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet und promoviert und während dieser Zeit auch Arbeitsgemeinschaften gegeben, im Staatsrecht nämlich, und zwar gegenüber den damaligen Studenten der Anfangssemester.

Unter diesen Studenten war auch eine der Mitreferendarinnen des J., und ob diese nun den Altersunterschied zwischen der sofort wiedererkannten C. und sich selbst sogar richtig einschätzte oder möglicherweise die Rollendistanz zwischen Lehrenden und Unterrichteten mehr als die vier Jahre suggerierte, die beide tatsächlich trennte: Als die C. in irgendeinem Zusammenhang bekanntgab, sie sei ja nur drei Monate jünger als der J., sah die Mitreferendarin erstaunt auf, sah erst nach rechts zur C., dann nach links zum J., und dann saß sie da, runzelte die (übrigens hübsche) Stirn und dachte nach. Weil die Mitreferendarin nicht die Hellste ist, wie man so sagt, dauerte dieser Prozess ein paar Minuten. Dann fragte sie den J. ganz direkt nach seinem Alter.

Der J. sah ein wenig unbehaglich um sich. Nun ist es nicht schön, bei einer kleinen Korrektur des Alters erwischt zu werden, das sicher, aber auf der anderen Seite ist es auch nicht lustig, von guten, alten und insbesondere gleich alten Freundinnen ausgelacht zu werden, und das voraussichtlich über einen Zeitraum von mehreren Jahren mindestens alle paar Tage. Der J. atmete also dreimal tief durch, trank einen großen Schluck Bier und sagte die Wahrheit. Im Anschluss schwiegen alle Anwesenden kurz und betreten und feierten dann um so entschlossener weiter.

Ein paar Tage später trafen der J. und die C. wieder aufeinander. Die C. hatte die Geschichte in der Zwischenzeit laut lachend einer unwesentlichen Anzahl von Personen weitererzählt, der J. hatte die ganze Geschichte nach einer kurzen Scham- und Erholungsphase ebenfalls schon kolportiert, und so fiel der Teil des Gesprächs, der im Wesentlichen aus Vorwürfen bestanden hätte, relativ kurz aus: Der J. sagte irgendetwas wie „wie kannst du nur“, die C. sagte „wenn mich keiner vorwarnt“, und dann traf man ein Arrangement: Künftig würde die Bezifferung des Geburtstages im Vorfeld abgestimmt. Das Erstvorschlagsrecht hat jeweils an seinem Geburtstag der J.

Nach dem J. richten sich dann die C., die I., der M. und sein Bruder T., denn alle drei gehören demselben Jahrgang an. Die M. und der S. sind ein Jahr jünger und ziehen dieses Jahr folglich ab. Ich folge mit einem zweijährigem Abstand, weitere drei Jahre jünger ist die F.

Nun fühlt sich der J. nicht jedes Jahr ein Jahr älter. Manchmal altert der J. jahrelang nicht, dann gibt es auf einmal Sprünge, und so ist das Lebensalter der Menschen, die den J. umgeben, eine etwas erratische Angelegenheit, bisweilen selbst für die Beteiligten schwer nachzuvollziehen, ab und zu schert auch einer aus, dem die aktuelle Bezifferung aus persönlichen Gründen gerade nicht entspricht, und dann tut man gut daran, sich das alles zu merken.

Gegenwärtig bin ich, glaube ich, 31, aber das kann sich jederzeit ändern.

Schwiegerfreunde

Man lernt sich kennen, man geht ein paarmal miteinander aus, und irgendwann ist man dann zusammen. Die ersten zwei Wochen geht man kaum vor die Tür. Eines Tages aber klingelt bei der Geliebten das Telephon, und man hört irgendwas mit wie „Dachte, du lebst nicht mehr“ oder „Ist er jetzt da?“. Dann wird ziemlich lange über Leute geratscht, die man nicht kennt (vielleicht hat man von dem einen oder anderen schon mal gehört, aber das hat man nicht behalten). Es folgt eine Verabredung. Ein Sonntagsfrühstück beim Pappa e Ciccia vielleicht oder ein Glas Wein im Liebling.

Kurz vor der Verabredung ist man verblüfft, wie nervös die Geliebte auf einmal wird. Man selbst hat die Ruhe weg. Schließlich trifft man weder die Mutter noch den Chef der neuen Freundin, es geht nur um ihre Freunde. Welchen Grund sollen diese Menschen schon haben, einen nicht zu mögen. Hand in Hand läuft man also los.

Im Lokal angekommen, gibt es dann zwei Möglichkeiten: Entweder ignorieren die Freunde einen komplett und unterhalten sich ausschließlich über Angelegenheiten, die einen nicht interessieren, und Leute, von denen man gerade das erste Mal hört. Schweigend sitzt man da und sieht seine neue Freundin von der Seite an. So kennt man sie gar nicht. Und offenbar gibt es Leute, die sie viel, viel besser und länger kennen als man selbst. „Damals in Mentone …“, schnappt man auf und „… aber mit deiner Mutter ist es ja nicht anders.“ Da sitzt man dann und fühlt sich irgendwie fremd und ausgeschlossen.

Die andere Möglichkeit ist unangenehmer: Man wird nach Herz und Nieren ausgefragt. Dabei fällt einem auf, wie viel diese Leute schon über einen wissen. Offenbar haben umfangreiche Gespräche in der Anbahnungsphase stattgefunden, gut, man selbst hat ja auch – aber doch nicht so umfassend. Was sie wohl sonst noch alles …, sieht man seine Freundin von der Seite an, die auf einmal viel mehr zu diesen Menschen, und viel weniger zu einem selbst zu gehören scheint.

Zu Hause ist dann alles wieder okay. Die Freundin relativiert hier ein bißchen und erklärt da. Man erfährt, wieso eine arglose Antwort auf eine Frage zu einem überraschenden Stirnrunzeln geführt hat, und wieso man es bei einem der Leute am Tisch ein bißchen schwer hat. Gut, man würde den Nachfolger eines guten Freundes vielleicht auch nicht mit offenen Armen wllkommen heißen. Insgesamt aber mag man die Leute, schon weil sie mit der großartigsten Frau des Universums befreundet sind. Es bliebe einem ja auch gar nichts anderes über.

Nach einigen Wochen stellt man fest, dass die Freunde schon sehr (um nicht ganz direkt zu sagen: unangenehm) omnipräsent sind. Sie klingeln, ohne vorher anzurufen, und die Freundin macht in Unterwäsche auf. Sie gehen einfach so an ihren Kühlschrank, wenn sie Hunger haben. Sie schreiben sich täglich ungezählte E-Mails über alles Mögliche. Sie sehen sich jederzeit und ständig zu sechst, zu acht, zu zehnt, es scheint gar kein Ende zu nehmen, und verbringen ganze Sonntage miteinander.

Eigentlich, fällt einem auf, sind die Freunde ganz schön arrogant. Beispielsweise besteht ein ganzer Freundeskreis aus Juristen, nur aus Juristen (kennen die den keine anderen Leute als immer nur Juristen) und diese Juristen fühlen sich Gott und aller Welt überlegen. Meistens merkt man das nicht so, aber ab und zu sagt einer etwas über Fächer, die man auch studieren kann, und dann wird rund um den Tisch ein bißchen gelacht, als sei ein Studium der angewandten Kulturwissenschaften, des Maschinenbaus oder der Betriebswirtschaft irgendwie witzig. Oder die Freunde verbindet die Musik, und dann schauen immer alle betont unbeteiligt an einem vorbei, wenn man auch mal was über Musik sagt. Oder alle sind ziemlich reich und gehen ständig irgendwohin, wo man beim Lesen der Speisekarte die ganze Zeit schwitzt.

Wenn man klug ist, sagt man dazu nichts. Die Freunde waren vor einem da. Sie werden allem menschlichen Ermessens auch noch in fünf Jahren ständig auftauchen, und so tut man gut daran, sich so gut es geht zu integrieren. Ansonsten wird es schwierig. Nehmen wir nur einmal den Urlaub: Den ersten Urlaub wird die Geliebte im Hormonrausch vielleicht noch zu zweit verleben wollen. Igendwann aber fängt alles an zu planen, ein Wochenende Rom, eine Woche nach Schottland, und dann steht man da. Nicht mitkommen kommt irgendwie nicht in Betracht, wenn alle anderen als Paar fahren. Mitkommen und die ganze Zeit den komischen Freund von X geben, ist aber auch keine Alternative.

Manche Menschen gehen in die Offensive und laden nach einigen Monaten die Freunde der Freundin zu einer eigenen Party ein. Da stehen sie dann, sehen sich gründlich die Wohnung an, zeigen sich verstohlen die Bücher im Bücherregal, und reden den ganzen Abend mit niemandem, den sie nicht schon kennen. Oder höchstens nur mal so zehn Minuten und aus Höflichkeit.

In der ersten Krise werden die Freunde der Freundin so ein wenig zum Alptraum. Man sitzt dann so zu Hause, fühlt sich elend, und stellt sich vor, wie alle um die Freundin herumsitzen und Dinge sagen wie „natürlich schon was anderes“ oder „ganz ein netter Kerl, aber am Ende“. Selbst wenn alles wieder gut ist, betrachtet man die Freunde von nun an mit noch mehr Reserve. Wieso zum Beispiel mailen sie sich ständig alle an, aber man selbst erhält die Mails immer nur über die Freundin? Und warum fragt einen eigentlich keiner, wo man war, wenn man mal ein paar Wochen nicht auftaucht?

Nach ein paar Monaten geht auch diese Phase vorbei. Vielleicht geht man mit dem einen inzwischen ab und zu zum Tennis. Das hat sich so ergeben, und ist eigentlich immer sehr nett. Danach isst man noch was zusammen, meistens einen Burger unter Männern im Bird oder im White Trash, und irgendwann wird der Tennisfreund dann auch ohne Tennis mal getroffen. An einer umfassenden Burgertestreihe der Burgerbräter von Berlin kommen dann auch noch zwei andere Freunde der Freundin ab und zu mit. So langsam kennt man die Zusammenhänge und neuralgischen Punkte, und wenn alle lachen, dann weiß man zumindest wieso. Inzwischen bekommt man auch alle E-Mails.

Irgendwann trennt sich dann eine Freundin der Freundin von ihrem Freund. Es wird fürchterlich viel diskutiert, es müssen sehr schwere Möbel geschleppt werden, und dann begibt sich die nun Alleinstehende auf eine pannen- und verwicklungsreiche Suche nach einem neuen Mann. Man bekommt das so halb und halb mit und schüttelt bisweilen den Kopf. Die Arme, bemitleidet man ein bißchen. Leider bestimmt nicht leicht vermittelbar. Ein bißchen üppig ist sie ja schon. Und überhaupt – diese arroganten Juristen.

Irgendwann scheint es dann doch hingehauen zu haben. Die Freundin der Freundin verschwindet über Wochen. „Der Neue belegt Y ja völlig mit Beschlag.“, sagen die Freunde, und man ärgert sich auch ein bißchen. Ist ja schön für sie, aber man ist doch ungern so ganz abgemeldet, nur wenn es da jetzt wieder jemanden gibt. Schließlich ist der Typ ganz neu, und man selbst und die anderen Freunde waren quasi immer schon da.

Eines Tages erhält man dann eine E-Mail. Es wird gefrühstückt im Fleury oder es gibt ein Glas Wein im Rutz. Y wird kommen und bringt ihren neuen Freund mit. Man ist sehr gespannt auf den Neuzugang. Ein Mathematiker, hat man gehört. Einzelkind. Davon hält man eigentlich nichts. Man will seine Zeit ja nun auch nicht mit jedem verbringen.

35 (01.12.2009)

Die M. wird 35. Es gibt Pizza und Sekt, und das überraschte Geburtstagskind sitzt inmitten der Freunde, die ihr Freund am Vortag per Mail zusammengerufen hat.

Gut sieht sie aus, finde ich, gut auch die anderen Freunde, die teils aus dem Büro gekommen sind und teils von zu Hause. Wir haben uns nicht sehr verändert in den letzten sieben, acht Jahren, glaube ich und schaue in die Gesichter rund um den Tisch.

„Was hast du vor im nächsten Jahr?“, frage ich irgendwann und schenke mir ab und zu Sekt nach und esse Torte. „Nichts.“, sagt die M. und fügt hinzu, dass es kaum mehr etwas gebe, was sie hoffe und erwarte, und ich bin ein wenig erschrocken.

Aber vielleicht hat sie recht: Zwischen zwanzig und dreißig passiert unglaublich viel, wenn das, was man machen wird und wie man lebt, sich langsam und mühevoll herauskristallisiert. Noch viel mehr verändert in den zehn Jahren davor, wenn man aus einem weichen, noch fast ungeformten Kind man selber wird, mit dem man leben muss den Rest seiner Jahre. Ab 30 ist dann vielleicht nicht mehr arg viel los.

Vielleicht läuft alles reibungslos weiter. Ein wenig Karriere wird man jetzt noch machen. Vielleicht bekommt die eine oder andere ein Kind. Aber jemand anders wird keiner von uns mehr werden, es sei denn, es läuft etwas schief. Nur noch Variationen wird es geben der Möglichkeiten seiner selbst, und Überraschungen, Überraschungen bieten die Jahre, die kommen, wohl nicht mehr arg viele, und was bleibt ist Verfall am Ende und ein wenig Langeweile zuvor.

Das Geschenk

„Zum Beispiel einen Frühstücksgutschein!“, sage ich und überlege, ob die einschlägigen Hotels mit bekannt guten Brunches wohl Gutscheine verschicken. Zum Abholen komme ich jedenfalls vermutlich nicht mehr. Außerdem müsste ich dann raus und würde erfrieren.

„Gutscheine sind blöd.“, kommentiert die A. und spricht über lauter tolle Hochzeitsgeschenke, die ich am Donnerstag wohl kaum mehr bekommen werde, wenn die Hochzeit Samstag stattfindet. Nein, ich verschenke im Oktober keinen Picknickkorb. Nein, ich kaufe auch keinen Sektkühler, wenn ich weder ihn noch sie jemals Sekt habe trinken sehen.

Wenn ich einen Gutschein verschenke, dann muss ich zumindest etwas Originelles beifügen, höre ich. Sie zum Beispiel – im Hintergrund rasselt es – habe vom O. einen Gutschein für einen Day Spa bekommen, und auf dem dazugehörigen selbstgedrehten Video habe sich der O. mitsamt zwei hübscher Freunde ganz und gar ausgezogen und dazu getanzt. Ich schaudere. Ich sehe schon angezogen komisch aus. – Ohne etwas Originelles dazu, sagt die A., sei ein Gutschein aber ganz und gar nicht zu vertreten. Ich verwerfe also den Gedanken.

Nun folgen Vorschläge Schlag auf Schlag.

Ein Badethermometer.
Das Paar hat keine Wanne.
Ein Austernmesser.
Er isst schon keinen Fisch.
Ein Riesenkorkenzieher.
Haben die beiden, glaube ich.
Eine Jahreskarte für den Zoo.
Er ist so gut wie nie zu Hause.

Dann wisse sie auch nicht weiter, seufzt die A. „Was kaufst du, wenn dir nichts einfällt?“, frage ich. Es wird still in der Leitung.

„Einen Trüffel.“, antwortet die A. irgendwann. Größe je nach Bedarf. Ich bin ratlos.

Hauptrolle

Sie habe sich das, sagt ihre Mutter, ausgedacht, erzählt sie und schüttelt den Kopf. Dabei sei alles wahr. Die Schulaufführung immerhin streitet ihre Mutter nicht ab. Es sei ein Stück gewesen, dass eine Lehrerin geschrieben habe. Es habe in der großen Stadt im Rheinland gespielt, in der sie aufgewachsen ist, und es habe so viele Rollen gegeben, wie Kinder in der Theater-AG gewesen seien, also zehn oder zwölf. Von diesen Kindern sei sie eins der jüngeren Mädchen gewesen und ein bißchen mollig. Es gebe wenig Photos aus diesen Jahren. In Berlin habe sie nur eins. Blond sei sie damals gewesen, pausbackig und nur so mittelhübsch. Sie sei ziemlich groß gewesen für ihr Alter, etwas unglücklich darüber und stets ein wenig eckig und unbeholfen, wie das so ist, wenn man 13 ist und sich nicht recht wohl fühlt in der noch neuen Haut eines Halberwachsenen.

An ihrer Mutter lag das nicht. Ihre Mutter habe sie stets hübsch angezogen und immer gern für sie eingekauft. Manchmal habe ihre Mutter sie geschminkt, frisiert, geföhnt und ihr immer eingeschärft, sich nicht gehen zu lassen. Ihre Mutter sei selbst keine schöne Frau, aber sehr gepflegt. Bisweilen habe sie ihre Mutter gefürchtet, damals, wegen ihrer Ausbrüche und ihren Migränen, in denen sie ihren Bruder, mehr noch aber sie selbst, attackiert habe, beschimpft und einmal sogar geschlagen. Auch das, sagt ihre Mutter heute, sei aber gar nicht wahr.

Als sie nach Hause kam und von dem Theaterstück erzählte, habe ihre Mutter sofort nach der Hauptrolle gefragt. Es gebe zwei Hauptrollen für Mädchen, erzählte sie ihrer Mutter. Sie müsse eine der Hauptrollen spielen, beschloss die Mutter und machte sich Gedanken über das Kostüm. Nebenrollen kämen für ihre Tochter nicht in Frage, beschloss die Mutter und dachte darüber nach, was sie der Leiterin sagen solle, damit sie ihr die Hauptrolle gab. Es hänge nur von ihr ab, schärfte ihr die Mutter ein.

Zur nächsten Theater-AG ging sie mit Bauchschmerzen. Dass sie eine der Hauptrollen erhalten würde, war unwahrscheinlich. Es gab in der AG sehr begabte Mädchen, die auch noch hübsch waren, und dass diese Mädchen eher als sie die Rolle erhalten würden, lag auf der Hand. Tatsächlich sollte sie eine Kioskverkäuferin spielen. Ihr Magen zog sich zusammen und sie musste weinen, als sie das hörte. Die Lehrerin tröstete sie, aber umstimmen ließ sie sich nicht.

Als ihre Mutter fragte, sagte sie die Wahrheit. Ihre Mutter wurde böse. Was genau ihre Mutter damals gesagt hat, habe sie nicht behalten, nur den Tonfall wisse sie noch. So ein böses Zischen. Sie solle noch einmal mit ihrer Lehrerin sprechen, befahl die Mutter und etwas bestimmter auftreten. Sie sei zu schüchtern und lasse sich dominieren. Gleich morgen früh müsse sie mit der Lehrerin sprechen. Als sie am nächsten Tag nach Hause kam, fragte ihre Mutter noch in der Tür nach. Sie aber habe an diesem Tag nicht mehr streiten gewollt und nicht, dass ihre Mutter wieder schimpfte. Sie habe Angst gehabt, den ganzen Tag Beklemmungen wegen der Hauptrolle, und deswegen habe sie einfach ja gesagt: Ja, sie habe die Rolle. Ihre Mutter habe darauf zufrieden gewirkt und von ihr abgelassen. In den nächsten Wochen habe ihre Mutter die Hauptrolle abgefragt. Sie habe die ganze Hauptrolle auswendig gewusst, und natürlich die Kioskverkäuferin, die sie tatsächlich spielen würde. Die lernte sie heimlich. Zum Schulfest dann sollte das Stück aufgeführt werden.

Zuerst habe sie gedacht, sie würde einfach krank. Warum sie das nicht umgesetzt habe, wisse sie selbst nicht mehr, denn tatsächlich habe sie sich krank gefühlt, fiebrig und zittrig, Magenschmerzen habe sie bekommen, und sich fast täglich übergeben vor Angst. Ihre Mutter aber habe ihr ein Kostüm genäht, und jedesmal, wenn sie es anprobiert habe, habe sie vor Angst geschwitzt. Ein- oder zweimal habe sie vorm Lehrerzimmer auf die Leiterin der AG gewartet, um sich auszusprechen, aber auch das habe sie nicht getan. Schließlich war es zu spät.

Als die Aula sich füllte, habe sie in den Kulissen gesessen. Niemand habe sich um sie gekümmert, alle seien mit sich beschäftigt gewesen, und so saß sie noch da, als der Vorhang sich öffnete. Ihre Mutter saß in der dritten oder vierten Reihe. Sie habe sie genau gesehen, die ganze Zeit.

Sie habe gar nicht schlecht gespielt, sagte ihr die Leiterin später. Auch sie habe ihren Applaus bekommen, wie man die Nebenrollen eben beklatscht bei einer Schulaufführung, und dass sie schweißnass gewesen sei, als der Vorhang sich schloss, hatte niemand verwundert. Ganz allein saß sie nach der Aufführung im Chorraum hinter der Bühne und zählte die Sekunden, bis es nicht mehr aufzuschieben sein würde, hinauszugehen. Schließlich verließ sie den Raum, verließ die Schule, und setzte sich in eine S-Bahn, die eben fuhr. Stundenlang sei sie so durch die Gegend gefahren. Abends saß sie an einer S-Bahnstation, ließ den letzten Zug ohne sie die Türen schließen, und lief zu Fuß nach Hause, bestimmt 15 Kilometer oder mehr. Sehr spät in der Nacht sei sie angekommen. Ihr Bruder öffnete die Tür.

Ihr Bruder wusste nichts von der ganzen Geschichte. Ihre Mutter hatte also nichts erzählt. Aufatmend legte sie sich zu Bett und schlief. Am nächsten Morgen kam sie bebend vor Angst zum Frühstück. Ihre Mutter aber verlor kein Wort über die Aufführung, nichts über die Hauptrolle, und dass sie nur mit dem Bruder, nicht mit ihr, sprach, wertete sie eher als Vorteil. Bestimmt eine Woche oder so habe ihre Mutter damals nicht mit ihr gesprochen. Dann, eines Morgens einfach so, habe die Mutter wieder ganz normal kommuniziert, zumindest für ihre Verhältnisse, und über den Vorfall sei nie wieder ein Wort verloren worden. Zur nächsten Schulaufführung kam ihre Mutter allerdings nicht (sie spielte eine Busfahrerin), und als sie tatsächlich einmal die Hauptrolle spielte, zehn Jahre später an einer Unibühne, behielt sie den Termin für sich. Mit ihrer Mutter habe sie damals ohnehin wenig Kontakt gehalten.

Wandern

Ich glaube, wie waren im Harz. In unserer Jugendherberge hingen überall Brockenhexen herum. In den Zimmern musste man zu sechst schlafen, und mir gegenüber schlief ausgerechnet die D., die ich nicht leiden konnte, weil sie strohdumm war und trotzdem beliebt. Morgens musste man früh aufstehen, ich glaube, um sieben, und im Speisesaal, der natürlich auch voller Brockenhexen hing, an langen Tischen Früchtetee und schlechtes Brot frühstücken, zu dem es Margarine und Marmelade gab und Teewurst, vor der es mir grauste.

Jeden Tag mussten zwei andere Schüler Küchendienst leisten und abends die große Spülmaschine ausräumen. Immerhin entging man so der Deutschlehrerin Frau Dr. F., die nach dem Abendessen eine halbe Stunde vorlas, und zwar mit großer Treffsicherheit etwas komplett Ödes. Frau Dr. F. besaß das absolute Gehör für miese Bücher.

Nachts versuchten (wir waren dreizehn oder so) immer irgendwelche Jungen, ins Mädchenzimmer zu kommen, aber weil ohnehin alle Besucher für dieselben Mädchen kamen, zu denen ich nicht gehörte, stellte ich mich schlafend, wenn es nachts gewaltig gegen die Tür donnerte. Eins der begehrten Mädchen machte dann meistens auf. Irgendwie hatten sich ein paar der Besucher Obstwein verschafft, der ging dann herum. Neben uns schlief Frau Dr. F. und tat so, als würde sie das alles gar nicht mitbekommen. Wahrscheinlich las sie in ihren unverdaulichen Büchern, während meine Freundin S. das erste Mal geküsst wurde, um mir später zu erzählen, Jungen würden sich kalt und feucht anfühlen, nicht unähnlich kleinen Hunden.

Den ganzen Tag mussten wir wandern. Jeder sollte jeden Morgen einen Rucksack mit Brot und Wasser füllen, und dann liefen wir den ganzen Tag hinter Frau Dr. F. und dem Wanderführer her. Rechts waren Bäume, links waren Bäume, in der Mitte war ein relativ breiter, festgetretener Sandweg, und den liefen wir auf und ab. Landschaft sah man eigentlich keine. Ab und zu war irgendwo ein See. Zum Baden allerdings war es zu kalt. Nach fünf Tagen fuhr die ganze Klasse, nicht zuletzt Frau Dr. F., aufatmend wieder nach Hause, aß, was ihr schmeckte, schlief allein (auch Frau Dr. F.), und wanderte nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ungefähr zwanzig Jahre lang bin ich nie länger als vielleicht so zwei Stunden am Stück zu Fuß gegangen.

Am Samstag aber wird sich das ändern. Die C. hat mich überredet. Wir fahren mit der J. und einem Drei-Personen-Gruppenticket nach Pirna, wandern zwei Tage durch die sächsische Schweiz und übernachten in einem Hotel an der Elbe, das zwar nicht nach Margarine aussieht, auch nicht nach Brockenhexen und Spülmaschinenausräumpflicht für Gäste, aber geküsst wird wohl keiner, nicht einmal von kleinen Hunden, und erst recht nicht …. aber lassen wir das.