Hach, sage ich. Wenn das so weitergeht, muss ich mein Blog noch schließen. Mein gesamtes Sozialleben dreht sich um die Kinder, entweder, weil meine Freunde und ich mit allen unseren Kindern irgendwo sind, oder weil wir irgendwo sitzen und über die Kinder sprechen. Ins Kino schaffen wir es alle zusammen nur alle paar Monate mal, zuletzt in Birdman, und da können Sie sich ja schon denken, dass das nicht gestern war. Mit dem Theater oder Tanzengehen sieht es ähnlich aus, und wenn ich es irgendwohin schaffe, um da was zu essen, kann man sicher sein, dass die ganze Stadt schon da war. Vorgestern zum Beispiel, da war ich in der Cordobar in der Großen Hamburger Straße. Das ist toll da, aber das haben Sie natürlich schon gewusst.
Irgendetwas, über das zu schreiben sich lohnt, passiert mir daher eigentlich nie. Auch meine Freunde erleben nämlich nichts, was interessanter wäre als die Frage, wann der Sohn der lieben C. aufsteht und läuft, wann der kleine F. endlich Fahrrad fährt, und ob die Tochter der I. noch diesen Sommer Seepferdchen macht. Oder sie erleben es doch, aber kommen wegen der ununterbrochen plappernden Kinder nie dazu, es mir zu erzählen. Wenn wir alle uns nicht um unsere Kinder kümmern, arbeiten wir, und das wollen Sie doch gleich gar nicht wissen. Da blieben eigentlich nur die kinderlosen Freunde, aber die erzählen mir nichts, vermutlich, um nicht meinen Neid zu erregen. Höchstens vielleicht diese Sache mit der D. … aber urteilen Sie selbst.
Stellen Sie sich also – wir schreiben das Jahr 2003 – eine junge D. von damals 25 vor, die als Praktikantin im Bundestag die Zeit bis zu ihrem Referendariat überbrückte, des Nachts feiern ging und mit ihrem Mitbewohner sehr friedlich und rein gar nicht amourös in der Schliemannstraße vor sich hin lebte. Die Schliemannstraße, Sie werden sich erinnern, war damals noch verhältnismäßig studentisch-verstrubbelt, und auch die junge Frau war noch in einem Stadium ihres Lebens, in dem sie erstens alles aß, zweitens auch völlig egal, wann, und drittens eines Morgens von einer Wurstbude in Mitte einen schönen Fremden einfach mit nach Hause nahm.
Sie hätte dem Fremden ebenso gut ihren richtigen Namen sagen können. Dass sie stattdessen behauptete, „Sandra“ zu heißen, lag einfach daran, dass auch er ihr seinen Namen nicht verraten wollte, sondern behauptete, er heiße „Andreas“, was Mitte der Siebziger auch eher so eine Art eine Gattungsbezeichnung war. So beschloss man beiderseits, Namen seien Schall und Rauch, und als man – das war einige Stunden später – rauchend auf dem Dach des Hauses in der Schliemannstraße lag und in den Sommermorgen sah, war ihr sowieso egal, ob er nun Hinz oder Kunz oder Rumpelstilzchen hieß. Es blieb dann auch bei Sandra und Andreas, als man sich noch ein paarmal wiedersah, aber dann ging sie für ein paar Monate nach Rio de Janeiro, und als sie wiederkam, zog sie mit ihrem Freund zusammen, arbeitete drei Jahre für eine Kanzlei und dann für einen Verband, und als sie zwei Kinder bekam, verließ sie den Prenzlberg und wohnt heute in Wannsee.
Abendtermine übernimmt sie eigentlich ziemlich ungern. Da muss schon ziemlich was kommen, damit sich der Babysitter lohnt, aber manche Einladungen kann selbst eine Frau, die seit ihrer ersten Geburt vor acht Jahren nach eigenem Bekunden nie wieder nach Mitternacht im Bett war, nicht ausschlagen. Da stand sie dann also gähnend auf dem Fest eines großen Industrieverbandes, der … ach, eigentlich egal, aß Miniblutwurst auf Minikartoffelschnee auf Löffeln, Krabben auf Wasabicrackern, trank Riesling und plauderte mit Leuten, die sie teilweise kannte, teilweise wenigstens so tat und simulierte sich so durch den Abend. Nach drei Glas Riesling ging es im Übrigen auch wieder ganz gut.
Ganz nüchtern hätte sie möglicherweise allerdings etwas schneller reagiert, als sie so von vage seitlich angesprochen wurde. Sie sah auf. Es war Andreas. Also sozusagen Andreas. Und ganz offensichtlich ging es ihm prächtig, und peinlich war ihm die alte Angelegenheit auch nicht. Man stieß also an auf die alten Zeiten, Andreas holte Wein und Bier und dann wieder Wein, und als gegen Ende alle eingeladenen Gäste verschwunden waren und nur noch die Praktikanten an der Bar standen und tranken, tranken sie in der bar tausend weiter. Was sie zuhause erzählte, als sie morgens um fünf auftauchte, entzieht sich leider meiner Kenntnis.
Eine gute Woche rang die D. mit sich und speicherte die Nummer von Andreas ein halbes Dutzend mal ab, um sie dann ganz schnell wieder zu löschen. Sie rief jemanden an, von dem sie dachte, er müsste ihn kennen, und sprach dann doch lieber über etwas anderes. Dann stritt sie sich mit ihrem Mann über die Frage, wie viele Gäste ein Fünfjähriger zum Geburtstag einladen darf und ärgerte sich so, dass sie Andreas eine SMS schrieb, und am letzten Mittwoch saß sie dann doch in der Lounge des Esplanade Hotel, bestellte schnell hintereinander zwei Tom Collins und war gerade noch so pünktlich zuhause, dass der Babysitter den letzten Bus ganz knapp noch bekam.
Ein schlechtes Gewissen, behauptet die D., habe sie gar nicht. Es sei ja auch quasi nicht sie selber, die nächsten Monat schon wieder, diesmal in einem anderen Hotel, verabredet sei. Sandra sei, das sei mehr als eine faule Ausrede, ganz klar jemand anders, und alles, was Sandra so anstelle habe mit ihr, der D., deswegen sozusagen annähernd rein gar nichts zu tun.