Über Liebe

All die Asche unserer Herzen

Es sei ihr im Alter nicht mehr gut gegangen, sagt mein Gegenüber und schiebt mit zwei Fingern das obere Ende der Kerze zusammen, so dass die Flamme fast verlischt. Sie sei immer still gewesen, so dass nicht einmal sein Vater als ihr einziger Sohn bemerkt hätte, wie im Kopf der Großmutter die Lichter ausgingen, und sie nicht nur wenig sprach, sondern wenig dachte oder zumindest etwas ganz anderes als alle anderen Leute, und es irgendwann nicht einmal mehr zum Zubinden der Schuhe reichte oder zum Kartoffeln Kochen.

Ins Heim hätte die Großmutter zu allem Überfluss fast gemusst, die schon ein schweres Leben gehabt habe, und der am Ende um ein Haar auch dies nicht erspart geblieben wäre. Immer hätte die Großmutter Angst gehabt vor dem Heim, noch mehr als andere Leute hätte sie sich gefürchtet, denn als Kind, als kleines Mädchen, hätte die Großmutter im Heim gelebt, wo sie als uneheliches Kind eines Dienstmädchens abgegeben worden sei, als ihre Mutter starb. Dort hätten sie ihr die Haare abgeschnitten, und einen grauen Kittel hätte sie tragen müssen, immer denselben, denn mehr war nicht vorgesehen. Gefroren habe sie den ganzen Winter.

Auch die Großmutter sei Dienstmädchen geworden, mit vierzehn, und hätte hart gearbeitet alle Tage, gewaschen und geputzt, und auch am Abend sei die Arbeit noch nicht zu Ende gewesen, so dass die Großmutter ein Kind bekommen hätte, mit 16, die Tante meines Gegenüber, und den Vater zwei Jahre darauf. Mit den Kindern des Brotgebers seien die Kinder aufgezogen worden, großzügig zusammen zur Schule geschickt worden, und zu den unehelichen Kindern sei der Großvater, der Brotgeber der Großmutter, nicht anders gewesen als zu den ehelichen. Das sei selten gewesen, damals in den Fünfziger Jahren, und die Großmutter sei ihm so dankbar gewesen, dass es fast peinlich gewesen sei. Herrn Doktor, hätte sie ihn trotzdem immer genannt. Nie beim Vornamen.

Ob sie glücklich war oder unglücklich dabei, habe sie nie gesagt. Vielleicht gab es Glück gar nicht in ihrer Vorstellung, vielleicht war Glück nur etwas für andere Leute. Für die Frau des Herrn Doktor, die Mutter der anderen Kinder, aber offenbar nicht. Zweimal versuchte die Frau Doktor zu sterben, wurde aufgehalten auf dem Weg ins wunschlose Dunkel und lebte weiter. Jedesmal pflegte die Großmutter die andere Frau, wusch sie, fütterte sie, und eines Tages stand die Frau Doktor wieder auf.

Die Kinder des Herrn Doktor studierten, und auch der Sohn des Dienstmädchens ging zur Uni und wurde Ingenieur. Als der Herr Doktor starb, standen alle Kinder und die beiden Frauen am Grab. Dann ging jede ihrer Wege.

Man schrieb sich zu Weihnachten, man besuchte sich, man bedauerte sich, als die Tochter des Dienstmädchens starb, und der älteste Sohn der Frau Doktor: Einmal an Drogen und einmal bei einem betrunkenen, dummen Unfall. „Sie können stolz sein!“, schrieb die Frau Doktor, als der Sohn des Dienstmädchens Leiter eines Abteilung in dem Unternehmen wurde, in das er nach dem Studium eingetreten war, und erschien zur Taufe der Enkel. Als der Sohn von seiner Firma ins Ausland geschickt wurde, bedauerte die eine Frau die andere, und als Großmutter nicht mehr schreiben und nicht mehr sprechen konnte, schrieb die Frau Doktor an den Sohn.

Seine Mutter sei krank, schrieb die alte Frau Doktor. Eine Schande sei es, die alte Mutter nicht zu sich zu nehmen, und er solle sich schämen in dem fremden Land. Besuchen solle er zumindest seine Mutter, aber nicht im Heim, sondern bei ihr. Als der Sohn anrief, wohnte die Mutter schon bei der Frau Doktor.

Es gehe ihr gut, sagte die Frau Doktor, und beendete das Gespräch, weil Auslandsgespräche so teuer seien. Er möge schreiben, denn das sei billiger. Der Mutter gehe es gut, sie werde gefüttert und gewaschen, man sei überdies aneinander gewöhnt, und Geld brauche sie nicht. Das habe sie selber.

Großzügig und beschämend sei das gewesen, sagt mein Gegenüber, hält das Wachs der Kerze mit dem Finger auf, und ein paar grüne Tropfen erstarren auf dem Nagel. „Schon.“, antworte ich, und schaudere für einen Moment, wie sehr das Leben und die Liebe die beiden Frauen zerbrochen haben muss, wie fein zermahlen die Sehnsucht nach dem Geliebtwerden, nach dem Einzig- und Einigsein am Ende gewesen sein muss, um diese Geste zu ermöglichen.

„So will ich nie sein.“, sage ich, um überhaupt etwas zu sagen, und ziehe die Jacke enger um meine Schultern, denn draußen ist es kalt, und der Winter hat gerade erst begonnen.

Wunderschön (eine Neidphantasie)

Wie sich das wohl anfühlt, überlege ich am Rande der Bar, und nippe an einer Flasche Bionade. Wie das wohl ist, so schön zu sein, dass einem die Männer auf der Straße nachschauen, und ab und zu einer gegen einen Laternenmast läuft, weil er die Augen nicht von einem wenden kann, weil man so schön ist, so schön wie die Mädchen in Märchen, mit goldenen Haaren bis zum Hintern und schlank und lang wie Giraffen, eine Giacometti-Gazelle, grazil und zerbrechlich wie eine Meissner Porzellanballerina, so zerbrechlich, dass jeder sofort weiß, dass man unmöglich selber Türen aufmachen oder Tüten schleppen kann.

Großartig muss das sein, denke ich mir, so schön zu sein, dass sich jeder geschmeichelt fühlt, wenn man ihn anlächeln würde, und einem alle möglichen tollen Eigenschaften andichten würde, weil er sich ja nicht eingestehen würde, dass er nur deswegen so begeistert wäre, weil man so schön ist, so zart, so elfenhaft, dass Männer Angst hätten, man könnte zerbrechen, wenn man zu fest angefasst wird. Für humorvoll würde man gehalten, wenn man nur ab und zu lacht. „Die M. ist so humorvoll!“, würden fremde Männer mich rühmen, obwohl ich stundenlang kaum den Mund aufgemacht hätte, und nur ab und zu ein wenig ein freundliches, ein wenig abwesendes Lächeln aufgesetzt hätte, wenn sie einen Witz gemacht haben. – Andere Frauen, die bemängeln würden, dass die wenigen Sätze, die ich geäußert hätte, jedenfalls nicht als besonders amüsant gelten würden, hätte eine weniger hübsche Frau sie geäußert, würden als stutenbissig, wie man so sagt, oder als zickig gebrandmarkt. „Die X. kann’s halt nicht haben, wenn eine andere Frau besser ausschaut als sie.“, würden sie die anderen tadeln, ich müsste gar nichts dazu sagen, und würde nur freundlich lächeln. „Die X ist doch eine Nette.“, würde ich sagen, und sofort als wahnsinnig großzügig und sehr, sehr herzlich gelten, als Freundlichkeit in Person, und dann würde ich die langen Wimpern senken, und mich freuen, es der X. einmal so richtig gezeigt zu haben. Die blöde Kuh.

Vielleicht hätte ich aber tatsächlich nichts gegen die X., wozu auch, denn in meiner Gegenwart würde die X. ja ohnehin nicht einmal bemerkt, und wenn ich auftauche, schaut keiner mehr die X. an, sondern nur noch mich, und alles, was ein Mann in meiner Nähe sagt, würde er nur zu mir sagen, alle anderen Frauen wären unsichtbar, und jeder würde darauf warten, dass ich lächele, und dann hocherhobenen Hauptes durch den Tag schreiten. Würde ich sogar vielleicht einmal laut lachen, mich im Scherz für einen Augenblick bei ihm anlehnen und mir irgendetwas von ihm erklären lassen, was er kann, und ich nicht zu können bräuchte – wie großartig wäre das! Stundenlang würde er strahlen wie ein geborstener Atomreaktor, und wenn er schon eine Freundin hätte, würde er sie auf der Stelle sitzenlassen, wenn ich ihn haben wollen würde, und sich einreden, ich sei etwas ganz Besonderes.

Wunderbar wäre das. Andauernd würde das Telephon klingeln, hochintelligente Männer würden sich darum reißen, mich zum Essen auszuführen, und mir nur die teuersten und besten Restaurants zumuten, und sich freuen, wenn es mir schmeckt. Gedichte würden mir Leute schreiben, mich verherrlichen und von mir träumen. Meine Wege wären leicht und mit seidenen Teppichen ausgelegt, wie etwas Wunderbares und Kostbares würde ich geliebt, und wen ich verlasse, der würde ein Leben lang mit allen künftigen Freundinnen über mich sprechen wie Platon persönlich über das untergegangene Atlantis oder der Papst über den lieben Gott.

Die fiktive Krankenschwester

Lügen, sagt man, hätten kurze Beine, womit der Volksmund in pointierter Form zum Ausdruck bringen will, dass früher oder später ohnehin jede auf Täuschung Dritter abzielende Unwahrheit auffliegt, was, wie wir alle wissen, aber maximal dann zutreffend sein dürfte, wenn man – wie ich – seine Ausreden ständig vergisst und zudem zu faul ist, die fiktive Seite seines Lebens einfach irgendwo aufzuschreiben. Man, und da liegt der Volksmund natürlich richtig, verplappert sich, verheddert sich in den straff gespannten Fallstricken zwischen Realität und Fiktion, man trifft gleichzeitig zwei Personen, die jede eine andere Version des Verlaufes irgendeiner Geschichte aufgebunden bekommen haben, von denen maximal eine stimmt, oder man – und dann wird es erfahrungsgemäß besonders schwierig – wird von dem Drang nach Wahrheit einfach übermannt.

Der Triumph der Wahrheit über die Lüge gilt gemeinhin als eine sehr moralische Sache, und darf wohl, hält man die Wahrheit für moralisch vorzugswürdig, selbst dann als überlegen gelten, wenn sie ihrerseits nicht originär moralischen Zwecken dient. Die K. etwa, eine Bekannte von Bekannten, treibt keineswegs die Wahrheitsliebe dazu, eine harmose Lüge gerade ziemlich zu bedauern, wenngleich doch immerhin die Liebe an sich die K. motiviert, allerdings nicht die Liebe zur Wahrheit, sondern schon eher die Liebe zu einem netten Herrn.

Diesen Herrn traf die K. vor einigen Wochen auf einer größeren Party, man unterhielt sich, die K. war übermütig gestimmt, trank viel zu viel Gin Tonic, und so verschwieg sie ihm kurzerhand ihren Beruf. Rechtsanwältin ist die K., und als Rechtsanwältin, wie niemand besser weiß als ich, hat man allen Grund zu seiner Profession möglichst zu schweigen, denn aus mir unbekannten Gründen empfinden Personen männlichen Geschlechts Rechtsanwältinnen als erotisch abstoßend. Krankenschwester sei sie von Beruf, behauptete deswegen die schon ziemlich angetrunkene K., und der nette Herr glaubte jedes Wort.

Man plauderte, man küsste sich sogar ein bißchen, man ging auseinander, und die vermeintliche Krankenschwester verbuchte den Abend als etwas hochstaplerisch, aber reizend, und hatte den Abend fast schon vergessen, als sie den netten Herrn wenig später ein zweites Mal traf. „Wie geht’s im Krankenhaus?“, fragte er sie, und sie musste einen Moment überlegen, bis ihr einfiel, dass sie ja Krankenschwester war.

Eine Richtigstellung war ihr gerade in bißchen peinlich, und so spann sie schnell irgendetwas zusammen, was ihrer Ansicht nach Krankenschwestern zu erzählen haben, und wechselte schnell das Thema. – Das Gespräch verlief ansonsten noch viel netter als das erste, man küsste sich wieder, man küsste sich weiter, und man verabredete sich für einen der nächsten Abende ganz gezielt.

Recht vielversprechend sieht es also eigentlich aus mit der K. und dem netten Herrn. Die Krankenschwester, die nicht existente Krankenschwester K., liegt der Rechtsanwältin K. allerdings nun schwer auf der Seele und die Wahrheit würgt in ihrem Hals. Denn was, so hat die K. allen Grund sich zu fragen, wird der nette Herr sagen, wenn er von der Täuschung erfährt? Wird mangelnde Wahrheitsliebe der K., allzu früh offenbart, ihn unverzüglich in die Flucht schlagen? Oder wird es das rechtsanwaltliche Berufsleben sein, was die weitere Bekanntschaft beenden wird? Oder empfiehlt es sich einfach, weiterzuschwindeln und Krankenschwester K. noch ein Weilchen am Leben zu lassen, bis die verkappte Rechtsanwältin K. dem Herrn so ans Herz gewachsen sein wird, dass er ihr die Täuschung verzeiht? Indes beschwindelt man doch ungern diejenigen, die einem lieb sind oder es gerade werden, und so ist die Situation der K. ganz insgesamt gerade keine besonders komfortable. Der Sieg der Wahrheit über die Lüge, so wünschenswert auch generell, erweist sich an der K. als individuell durchaus wenig angenehm, und so verdammt sich die K. gegenwärtig schrecklich für ihre anfängliche Schwindelei, was wiederum ja durchaus im Sinne derjenigen sein dürfte, welche zu moralischen Ansichten über Wahrheit und Lüge neigen, der Volksmund etwa, um noch einmal auf jenen zu sprechen zu kommen, der ja, wie bereits ausgeführt, ansonsten selten genug zu siegen weiß, und an der K. derzeit eines seiner raren Exempel statuiert.

Was auch nicht geht (4)

„Es sieht schlecht aus, meine Damen.“, resumiert die C. ein wenig vor sich hin und zerbröckelt einen dieser italienischen Kekse zwischen den Fingern, die man verpackt kaufen kann in herrlich bunt bedrucktem Papier. „Und ansonsten gibt das Angebot nichts her?“, frage ich, und versuche mich an andere Herren zu erinnern, die man bei Gelegenheit an öffentlichen Orten kennen zu lernen pflegt. „Naja…“, unterbricht die J. meine Gedanken. In weiten Kreisen der Bevölkerung erfreue sich eines gewissen Bekanntheitsgrades ja auch noch…

Die Canaille

Fragt man einen beliebigen netten Herrn nach demjenigen Freund, den er am meisten beneidet, so wird er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weder den Wohlhabendsten nennen noch den Erfolgreichsten, und noch nicht einmal den, der am besten ausschaut. Der vielbeneidete, weil vielgeliebte Freund jedes Mannes entspricht vielmehr einem Typus, dessen Anziehungskraft auf Umständen beruht, die nur als wahrhaft dunkel zu bezeichnen sind: Es geht um die Canaille.

Der Erfolg der Canaille beruht zumindest teilweise zwar zweifellos auf seiner Unverschämtheit. Auf die Idee, irgendjemand wolle sich nicht mit ihm treffen, kommt die Canaille nicht einmal, und so spricht auch die arbeitslose, haarlose und übergewichtige Canaille nur diejenigen Frauen an, die jeder ansprechen würde, wenn er denn den Mut besäße. Die Canaille würde auch etwa Kate Moss zu einem gemeinsamen Bier auffordern, die Dame zahlen lassen, und sich nach erfolgreichem Treffen einfach so drei Wochen nicht melden.

Die Canaille hält vielleicht einer alten Dame die Tür auf, junge Damen jedoch, so nimmt es die Canaille an, seien auf seine Hilfe nicht nur nicht angewiesen – sie wären unverschämt, Hilfe zu erwarten, und so taucht die Canaille alle paar Monate auf, frisst den Kühlschrank leer, verschwindet mitten in der Nacht, weil das Telefon klingelt, und sagt nicht, wer angerufen hat. Vielleicht borgt sich die Camaille noch Geld, vielleicht lässt sie sich aber auch nur ein paar Hosen bügeln – jedenfalls ist von der Canaille außer Ärger nichts zu erwarten, und so nimmt es rein nach den Gesetzen der Logik wunder, dass das Telefon der Canaille trotzdem immerzu klingelt.

Frauen würden geradezu schlecht behandelt werden wollen, zieht so mancher Mann seine Schlüsse aus dem unglaublichen Erfolg der Canaille, und versucht es seinerseits mit ein wenig schlechtem Benehmen. Indes scheint außer Rücksichtslosigkeit und einem ungehobelten Wesen die Canaille noch über einen zusätzlichen, schwer zu benennenden und absolut imponderabilen Charme zu verfügen, denn nicht jedem ist es gegeben, von Frauen für sein mieses Betragen geliebt zu werden.

Dass von der Canaille vor diesem Hintergund nur abgeraten werden kann, versteht sich beinahe von selbst. Versuche, die Canaille zu bessern, aus einem solchen Herrn aufrichtige und nachhaltige Gefühlsbezeugungen, Geschenke, die von Herzen kommen oder ähnliche angenehme Dinge herauszupressen, sind daher schon vom Anfang an zum Scheitern verdammt.

Und selbst wenn es gelänge: Was unterschiede die Canaille dann noch von einem normalen Mann, und würde sich nicht vielleicht sein Reiz in diesem Moment ins Nichts verflüchtigen?

„Es sieht wirklich nicht gut aus“, knurrt die C., und öffnet eine letzte Flasche Wein.

Was auch nicht geht (3)

„Das hört sich ja gar nicht gut an.“, schüttelt die C. den Kopf und verschwindet kurz in der Küche. „Niederschmtternde Aussichten, so alles in allem.“, bestätige ich und helfe der C., einen Apfelkuchen aus der Form zu befreien, während die J. die Sahne schlägt.

„Ja, und das ist noch nicht alles.“, versucht die J. den Mixer zu übertönen. Denn da sei ja beispielsweise auch noch

Das ewige Kind

Das ewige Kind ist bekanntlich derjenige Herr, der den einzigen Sinn der Vaterschaft darin sähe, auf der Stelle eine Carrera-Bahn kaufen zu können. Das ewige Kind kommt zudem schon zur ersten Verabredung zwanzig Minuten zu spät, um sodann den etwas ausgewachsenen Schopf zu schwenken und von seiner Playstation zu sprechen und diesem Wahnsinnsspiel mit Monstern, das er verdammt gern hätte, aber das leider sein Einkommen gerade ziemlich übersteigt, da er auch mit 38 noch irgendwo jobbt, bevorzugt in einer derjenigen Branchen, die irgendetwas Unbestimmtes mit Kunst, Film oder Medien generell zu tun haben, denn das ewige Kind plant, einmal groß herauszukommen, wenn es einmal erwachsen ist, was voraussichtlich allerdings vorm Eintritt ins Rentenalter nicht der Fall sein wird.

Ansonsten ist das ewige Kind ein passionierter Fußballspieler in Berlins Wilder Liga, und besucht in seiner Freizeit gern Clubs in Friedrichshain oder so, wo alle Anwesenden außer dem ewigen Kind maximal 22 Jahre alt sind. Da tanzt er ausgelassen und ekstatisch, beklagt ab und zu, wie viele Leute nur dem Ausweis nach jung sind, aber um drei nach Hause gehen, während er… Leider reagiert er äußerst allergisch, macht man ihn auf die 15 Jahre Altersunterschied aufmerksam, die zwischen den anderen Gästen dieser Tanzveranstaltungen und ihm selber liegen.

Gern verliebt sich das ewige Kind in eine jener reizenden jugendlichen Personen, die in derartigen Clubs zu verkehren pflegen, und unterhält sich hingebungsvoll über die Probleme, die der Erwerb des kleinen Scheines im Strafrecht oder der Gesellenprüfung des ehrbaren Handwerks des Schaufensterdekorationswesens bedeutet. Als Mann in durchaus mittleren Jahren, der gerade im Begriff ist, sich im mit einer fünfzehn Jahre jüngeren Person zum Trottel zu machen, sieht sich das ewige Kind selbstverständlich nicht, denn die jugendliche Geliebte ist ja in der Wahrnehmung dieses Herrn ungefähr so alt, wie er sich fühlt, und wie es im Übrigen auch seinem Einkaufsverhalten entspricht, was jeder, der dem ewigen Kind einmal eine halbe Stunde gegenüber gesessen hat, bereits an seiner Garderobe bemerken kann. Diese nämlich entspricht voll und ganz dem, was die einschlägige Presse der interessierten Öffentlichkeit als exorbitant angesagt für die nach 1980 geborenen Jahrgänge vorstellt.

Aus vorstehend ausgeführten Gründen ist die Gefahr, das ewige Kind versehentlich zum Gefährten zu wählen, bereits aufgrund des Paarungsverhaltens dieser Gattung so gut wie ausgeschlossen, zumindest dann, wenn man selber den 25 Geburtstag bereits gefeiert hat, und außerdem seit vielen Jahren nicht mehr dort verkehrt, wo das ewige Kind seine mittleren Jahre verbringt, bis der Türsteher ihn nicht mehr einlässt oder fragt, ob er in diesem Etablissement seine Tochter abholen wolle.

Das sei nicht lustig, knurrt die C. aus verschiedenen Gründen, und verschluckt zum Trost ein großes Stück Apfelstrudel fast unzerkaut und mit sehr viel Sahne.

Aber das ist noch nicht alles, lässt die J. vernehmen und trink ihre Kaffeetasse leer,

weswegen übermorgen Fortsetzung folgt.

Was auch nicht geht (2)

„Schmeckt’s?“, fragt die C. und salzt den Rehrücken ein wenig nach. „Alles bestens.“, bestätige ich, verteile großzügig eine dunkle Sauce mit rosa Pfeffer und Madeira über das Fleisch und ein luftiges Puree von Kartoffeln und Sellerie, und eine kleine Weile spricht niemand.

„Was ist denn nun an den anderen Herren falsch?“, knüpfe ich an die Ausführungen der J. wieder an. „Leider auch unbrauchbar.“, bestätigt diese, betrachtet eine Weile versonnen den dunkelroten Inhalt ihres Glases und fährt fort. Denn abgesehen von den durchaus eher lästigen Rettern gebe es da beispielsweise ja noch

Den armen Ritter

Mit dem Retter auf den ersten Blick leicht zu verwechseln, lebt der Ritter die Grundannahme seiner Entbehrlichkeit auf andere Weise aus. Rettet der Retter gern arme Hascherl vor dem Untergang, so hat der Ritter begehrenswertere Ziele ins Auge gefasst. Sein Blick heftet sich nicht auf die Fußkranken der ganzen Veranstaltung, sondern auf die Burgfräulein, die Prinzessinnen, die blonde Schönheit des Semesters, die strahlende Königin des 103, und errötend folgt er ihren Spuren.

Die Prinzessin allerdings hat für den armen Ritter wenig über. Irgendetwas, so weiß die Fama, entspricht am armen Ritter stetig nicht dem Ideal, welches die Prinzessin durch die Welt trägt, und so bleibt dem Ritter nichts weiter übrig, als sich in die Rolle des Haushofmeisters zu schicken, des Reisemarschalls, der Sparkasse, des Hausarbeits-Ghorstwriters zumal, und eigentlich aller Handwerker von Berlin, um sich auf diese Weise nützlich zu machen, denn als Ritter an sich, als nackter Mann sozusagen, interessiert sich die Prinzessin nicht die Bohne für den armen Kerl, der es trotz dieser sich mit zunehmendem Zeitablauf stetig verfestigenden Gewissheit nicht lassen kann, sich auch weiterhin so lange zum Haustrottel der Dame zu machen, bis sie ihn entweder erhört, oder aber jemanden anders so intensiv erhört, dass für den armen Ritter fortan keine Verwendung mehr besteht. Während man vom ersten Fall sozusagen noch nie gehört hat, bildet letzterer den Regelfall, nach dessen Eintritt der arme Ritter sich zumeist schnurstracks das nächste unerreichbare Ziel suchen wird.

Eines Tages aber, meist um den dreißigsten Geburtstag herum, wird der Ritter nachdenklich. Die Frauen seines Herzens erweisen sich als nach wie vor unerreichbar, beruflicher Erfolg hilft entgegen seinen Erwartungen auch nur in wenigen und zudem wenig verlockenden Fällen, und so kann es sein, dass der Ritter Schwert und Lanze der hohen Minne fallen lässt und sich erreichbaren Zielen zuwendet, die dann den Rest ihres Lebens mit dem wenig angenehmen Gefühl verbringen dürfen, den traurigen Kompromiss zwischen den Möglichkeiten eines Mannes und seinen Wünschen darzustellen.

Das geht natürlich überhaupt nicht, schüttele ich den Kopf und kratze das letzte Puree von meinem Teller. Aber da war doch noch mehr, meine ich mich zu erinnern, als ich mich das letzte Mal umgetan habe unter den Söhnen des Landes, da waren doch zum Beispiel…

diejenigen Herren, die erst morgen vorgestellt werden.

Was auch nicht geht

Ein Desaster in vier Gängen

„Mit den Männern“, hebt die J. das Glas, „bin ich ja fertig. Kein Herzblut, kein Herzklopfen, und nie, nie wieder am Telephon sitzen und warten. Mit der Liebe bin ich durch.“ – Die C. und ich schauen uns ein wenig betreten an und kauen ein wenig hilflos auf den saftigen Scheiben einer Forellenterrine herum.

„Ist ja vielleicht nicht das Schlechteste.“, relativiere ich ein wenig. „Abwarten, ein wenig Zeit ins Land gehen lassen, und dann kommt einer um die nächste Ecke….“ – Die J. aber schüttelt energisch den Kopf. Da käme nun nichts mehr. Wer jetzt als Mitglied der einschlägigen Jahrgänge noch nicht in festen Händen sei, der könne nicht oder wolle nicht, und ein ganzer Mann solle es im Übrigen schon sein, denn als Nebenfrau tauge sie erfahrungsgemäß herzlich schlecht, und der halbherzigen Lösungen sei sie mehr als überdrüssig.

Über dem Tisch hängt für einige Sekunden eine düstere Wolke verlegenen Schweigens. „Nette Männer gibt’s doch immer.“, tröstet die C., aber die J. ist nun, beflügelt von dem zweiten Glas Weißburgunder, nicht mehr zu halten. Nein. So sei das eben durchaus nicht. Was nun noch, jenseits des dreißigsten Lebensjahrs verfügbar sei, sei den durchaus weniger amüsanten Kategorien der Männerwelt zuzuordnen. – „Und die wären?“, frage ich und knete ein wenig an dem Wachs herum, das am Kerzenhalter der Tischdecke entgegenläuft.

Da sei, hebt die J. an, ja zum Beispiel

Der Retter

Der Retter, wie man weiß, nimmt sich gern junger Damen an, deren Leben irgendjemand bei Gelegenheit einmal in Ordnung bringen sollte. Probleme, die jeden anderen in die Flucht schlagen würden, ziehen den Retter daher magisch an. Hört der Retter beispielsweise von einer Person, die schwere Neurosen, gern eine lange und vergebliche Therapiegeschichte, vielleicht das eine oder andere Suchtproblem oder etwas ähnliches aufzubieten hat, so zittern seine Nüstern, sofort lässt er sich Telefonnummern geben, und wird die nächsten Jahre mit dem Versuch zubringen, die Dame wieder auf die Hinterbeine zu stellen.

Das allein legt bereits die Vermutung nahe, der Retter trage einen kleinen Komplex mit sich herum. Tief vergraben in dem schlammigen Grund seiner Seele hält der Retter sich nämlich für kein sonderlich liebenswertes Wesen, das seine Anwesenheit im Leben von weiblichen Personen deswegen nur durch seine Nützlichkeit zu rechtfertigen in der Lage sei, und was könnte nützlicher sein als eben die Rettung?

Eine noch etwas anstrengendere Unterart des Retters rettet gern Frauen, die sich an sich – und für den Rest der Welt nur allzu offensichtlich – auch selber recht gut zu helfen wissen. Da hier wenig gerettet werden muss, und kein über die Ufer getretener Lebenslauf wieder in ein sanft begradigtes Bett zurückgeleitet werden braucht, muss der Zustand der Rettungsbedürftigkeit in jenen Fällen erst einmal herbeigeführt, oder doch zumindest herbeigeredet werden. Der Retter neigt also zum Pathologisieren. Gern tröstet er verlassene oder sonstwie unglückliche Frauen, findet die abenteuerlichsten Ursachen für das Scheitern verschiedenartigster Projekt in der zarten, aber schadhaften Seele der jeweiligen Frau, von der ohnehin mehr, als die meisten Damen es schätzen, die Rede ist, und empfiehlt einen guten Therapeuten, denn man müsse die Vergangenheit bewältigen, um nach vorne schauen zu können, wo das wahre Leben wartet – mit letzterer Aussicht meint der Retter indes in Wirklichkeit lediglich sich selbst.

Der Retter ist also anstrengend. Der Retter geht daher gar nicht, schließt die J. ihre Ausführungen und erntet ein zustimmendes Nicken rund um den Tisch. – Natürlich sei der Retter, schenkt die C. Wein nach, kein attraktives Modell. Indes seien die Retter ja glücklicherweise nicht allein auf der Welt,

so dass Fortsetzung folgt.

Zwischenstand

Nein, schüttele ich den Kopf. Viel wird sich da wirklich nicht mehr tun.

Wie ich bin, werde ich bleiben. Die Unstetigkeit wird mir bleiben, der schnelle Wechsel zwischen den Gefühlslagen, und das Gefühl der Taubheit zwischen den Tälern. Immer zu schnell das Interesse zu verlieren, wenn sich mir etwas, jemand, was auch immer, verweigert, und gleichfalls, wenn es mir allzu leicht zufällt, beiseite gewischt mit allzu gedankenloser Hand. Nichts zu beenden, jede Tür noch einen Spalt offenlassen, einen letzten Schlüssel am Schlüsselbund, und weiterziehen. Lauter offene Enden so vieler Geschichten, deren Anfang ich nicht mehr weiß.

Stets allzu leicht zu entflammen, abgekühlt dann wortlos zu verschwinden nicht aus Scham, nicht aus Überlegung, sondern aus schierer Gleichgültigkeit, und die Schalen des Lebens irgendwo liegenzulassen am Weg. Va banque spielen, und den Preis schuldig bleiben, wenn auch dieses Casino langweilig wird. Immer wieder packen und verschwinden und alles vergessen, was jemals war.

Das schlechte Gedächtnis wird nicht besser werden mit den Jahren. Schon jetzt Namen zu vergessen, Gesichter, Haut und Hände, irgendwo, aber das weiß ich nicht mehr. Vielleicht, mein Herz, ist es auch gar nicht wahr, denn sonst hättest du doch nicht alles vergessen, und bautest dir etwas Neues aus den faulenden Planken der Schiffe. Alle paar Jahre sich häuten zu müssen, und doch dieselbe zu bleiben auf einer anderen Bühne. Zu lächeln, zu bluten, zu spielen, weil es doch meist nur Geld ist, mit dem du spielst, nur kaltes Fleisch, und nichts Ernstes, das sich mir entzieht. Auf den Ernst zu warten, der nicht kommt. – Zieh mir die Haut ab, rufe ich ihm nach, aber er schüttelt den Kopf und bleckt die Zähne, die nur für die anderen da sind und nicht für mich.

Ein Kieselstein aus Reserve wird mir bleiben. Nie ganz dabei sein, stets einen Seitwärtsschritt entfernt, und nie deckungsgleich mit dem, was mich umgibt. Nicht wollen oder nicht können. Wer kann das wissen, zucke ich die Schultern aus Bequemlichkeit, und lebe mit dem dünnen, trennenden Faden zwischen mir und der Welt. Keine Meinungen zu haben, die ich nicht alle drei Tage vergäße, aber Nerven, die ausschlagen, wenn ein Ton zu schrill ist, eine Linie verzeichnet, oder eine Geste, ein Wort ohne Anmut. Die allzu vielen Tage, an denen ich keine Haut habe, und das rohe Fleisch mir brennt mit jedem Luftzug.

Die Melancholie wird mir wohl bleiben und der Leichtsinn dazu. Die Suche nach etwas Dunklem, nach einer gleißenden Wahrheit, die mir die Haut verbrennt, bis nur die Knochen übrig sind, weiß und rein und schweigend wie alles, was perfekt sein soll. Die Unruhe, die alle paar Jahre nach mir greift, und mich weitertreibt irgendwohin, wo vielleicht eine lächelnde Reinheit wohnt, fragloser Glaube, stumme Erfüllung, Demut, Hingabe an ein schweigendes, lichtes Meer, das sich über mir schließt.

Aber viel wird da nicht mehr kommen, und die Welt und ich werden uns einiges schuldig bleiben, was mich schmerzen würde, hätte ich es einmal erwartet und vielleicht gewünscht.

Wiedersehen

„Wir treffen uns morgen nachmittag. Ich hab‘ ihn 14 Jahre nicht gesehen.“, erzähle ich der C., und krame in meinem Gedächtnis nach irgendwelchen Details jener kurzen, drei oder vier Monate währenden Liebe, wie sie angefangen hat, und wie sie endete. „Warst du sehr verliebt in ihn?“, fragt die C., aber ich kann mich nicht erinnern. „Bestimmt.“, sage ich. „Schlank war er.“, erzähle ich. „Nervös und zappelig, ein exzellenter Schachspieler mit feinen Händen und schwarzem, struppigen Haar.“ – „Oh, die Sorte Mann beziehst du schon länger im Abo?“, lacht die C., und wir bestellen mehr Wein und ein paar Oliven.

Schlank ist er nach wie vor, auch seine Haare sind noch schwarz und struppig, aber kürzer, gezähmt, wie der ganze Mann, der im Café „LassunsFreundebleiben“ auf dem Sofa sitzt und aufsteht, als ich eintrete. „Hey. Schön, dich zu sehen.“, umarmen wir uns, als seien wir uns gar nicht fremd, und sprechen laut und viel über Berlin und München, über das Meer und den arg langen Winter dieses Jahr. Er ist Lehrer geworden, und ich nicke möglichst ernsthaft. Erdkunde und Geschichte unterrichte er an der Realschule, erzählt er, und ich überlege ein bißchen, was es über mich aussagen mag, dass der Beruf des Lehrers bei einem Mann stets ein wenig ridikül auf mich wirkt. „Was machst du?“, fragt er mich, als würde es ihn wirklich interessieren, und ich erzähle ein bißchen aus einer Welt, die ihm fremd erscheinen muss und vielleicht sogar ein wenig unsympathisch. Ein netter Fremder sitzt mir mit einer Tasse Milchkaffee in der Hand gegenüber, und ich suche in seinem Gesicht, in seinen Gesten, nach etwas Vertrautem, das doch da sein muss, denn einmal, da bin ich mir sicher, habe ich die scharfe, gerade Nase, die grauen Augen und die schlanken Hände geliebt.

Er sei mit seiner Freundin zusammengezogen, die auch Lehrerin sei, Sonderpädagogin an einer Schule für verhaltensauffällige Kinder, und zeigt mir ein Photo eines pausbackigen, netten Mädchens, blond und ein wenig rundlich, die freundlich und patent in die Kamera lacht. Ein bißchen langweilig, denke ich, „Nett schaut sie aus.“, sage ich, er nickt und erzählt vom Hauskauf in einem Vorort einer hessischen Stadt, in der ich nicht begraben sein möchte, von den Eltern seiner Freundin, die um die Ecke wohnen, und dem Glück, noch gerade so verbeamtet worden zu sein . „Schon sehr groß, Berlin.“, sagt er, und ich ärgere mich ein wenig über seine Biederkeit, als ginge es mich etwas an.

„Liest du noch so viel?“, fragt er, und ich nicke. Nicht mehr soviel wie mit 15 oder 16 freilich, als ich immerzu las, nachts, tagsüber, in der Schule, und, so fällt mir ein, wir stundenlang nebeneinander im Garten seiner oder meiner Eltern lagen, lasen und uns die schönsten Stellen vorlasen. Wir erzählen uns ein wenig über die Bücher, die wir gerade lesen, gelesen haben, lesen wollen, und kommen ein wenig an in der Gegenwart. Daniel Kehlmann, sagt er. Habe ich noch nicht gelesen, sage ich. Gerade wieder den Grand Meaulnes, immer wieder Schnitzler, er hat gerade Doderer gelesen, ich lese Huysmans, und die Vergangenheit rückt noch ein wenig weiter weg: Zwei seit Jahren erwachsene Leute sitzen in einem Café und sprechen angeregt über Bücher. Egal wird, dass ich so gut wie jeden gemeinsamen Moment vergessen habe, und er vielleicht auch, und als uns nichts mehr einfällt, was wir gelesen haben oder lesen wollen, stehen wir auf und zahlen.

Dann geht er, ein schlanker, noch dunkelhaariger Lehrer, in den gewiss jedes Jahr ein paar Schülerinnen heimlich verliebt sind, und keine schlechte Wahl getroffen haben werden, die ihnen peinlich sein müsste, wenn sie einmal erwachsen sind.

„Immer noch nett.“, erzähle ich der C. am Abend. Ein bißchen langweilig. Und so egal, so schrecklich egal, wie alles einmal gleichgültig sein wird, wenn es nur lange genug vergangen ist, und keine Rechnungen offen.

Happy End

Er erinnere sich, erzählt er, nicht mehr genau an alle Liebhaber der Mutter, die irgendwann ins Haus kamen, schon lange vor der Scheidung. An einen aber erinnere er sich noch genau, einen Studenten, zehn Jahre jünger als seine schöne Mutter, deren sinnliches, hohes Lachen einen Raum füllte, als seien die anderen Frauen eines Festes gar nicht da. Der Student habe viel mit ihm gespielt, ihm immer etwas mitgebracht, eine gelbe Trillerpfeife etwa, einen Luftballon in Form eines Hasen mit langen Ohren, und ihm morgens, wenn seine Mutter noch schlief, und der Student zum Bäcker ging und ihren Hund ausführte, immer ein Hörnchen mitgebracht, bestreut mit Mohn. Eines Nachts aber kam die Mutter mit einem anderen nach Hause, der Student wurde verabschiedet, und durfte nicht mehr erwähnt werden. „Nun gib doch endlich Ruhe mit dem G.“, wurde er von der Mutter beschieden, erwähnte den Studenten nicht mehr, und eines Tages war auch der Neue wieder weg.

Die Frauen des Vaters waren nicht so schön wie die Mutter. Wenn sie lachten, drehte sich kein ganzes Lokal nach ihnen um, und er erinnere sich aus diesen Jahren auch nur an eine Geliebte des Vaters, ein eckiges, fast unhübsches Mädchen, die, als die Eltern schon getrennte Wohnungen hatten, eines Nachts weinend in das Kinderzimmer kam, und sich neben ihm auf sein Bett geworfen hatte, heulend, als sei jemand gestorben, aber es war wohl bloß die Liebe, denn auch das Mädchen tauchte nicht wieder auf. Schließlich kam die Scheidung, sein Vater behielt die großen, etwas gespenstischen Gemälde Gerhart Richters auf der Galerie, und die Mutter bekam den Baselitz, der in ihrem Esszimmer im ersten Stock hing, später, als ich regelmäßiger Gast war in diesem Hause, in dem es so lebhaft zuging wie bei mir daheim, und ständig Menschen kamen und gingen. Im Garten lagen Freunde mit Fremden zwischen dem weißen Oleander, den Rosen und dem Lavendel aus dem Park von I Tatti. Auf der Terrasse trank seine Mutter mit meiner Mutter und anderen Freundinnen lachend Prosecco, irgendwann gegen Ende der Achtziger Jahre.

Ihr Sohn sei zu ernsthaft, ganz der Vater, nicht sehr amüsant und zu still dazu, konstatierte seine Mutter in diesen Jahren, und kümmerte sich nicht weiter um ihn, dem sie täglich Geld in eine indische, gehämmerte Schale legte, um irgendwelche Ausgaben zu bezahlen, nach denen sie nie fragte. Ab und zu, wenn sie besonders verliebt war, fuhr sie einfach weg oder zog um. Dann musste er mit. Manche von den neuen Männern der Mutter waren nett, manche bemühten sich um Kameradschaft mit dem fast erwachsenen Sohn, der an ihren Parties nicht teilnahm und selber nie eine veranstaltete. Verschwand ein Lebensgefährte oder ein Liebhaber der Mutter, so dachte er nicht mehr an ihn, vergaß ihn, wie ihn die Mutter vergaß, und gewöhnte sich an den Neuen. Manchmal verschwand auch die Mutter für ein paar Wochen, dann rief er den Vater an, der Geld überwies, das man in die indische Schale legen konnte, damit immer etwas da war.

Nach dem Abitur zog er aus und kam nicht wieder. Ab und zu verliebte er sich, und wenn er nicht wiedergeliebt wurde, oder viel zu viel, dann verabschiedete er sich oder wurde verabschiedet, und vergaß die Geliebte sofort. Konnte eine einmal nicht vergessen werden, rief er nie wieder an, ging ins Ausland, verreiste mit einer anderen, und als es einmal einen scharfen Stich gab, als eine anrief, die doch nicht ganz vergessen war, da legte er mitten im Gespräch auf. Schmerzlos wurde er 25, 26, und als er 27 war, beschloss er, dass es so nicht weitergehen könne. Man stürbe ab auf diese Weise, behauptet er und klopft mir gegen die Wange. Man wolle erst nicht mehr lieben, und dann könne man es nicht mehr, und laufe am Ende herum als eine verlockende Attrappe seiner selbst. Niemand aber, so fährt er fort, hänge sein Herz an eine Attrappe, eine Fata Morgana, die sich stetig entfernt, wenn man sich ihr nähert, und so zöge man eben weiter und weiter und weiter.

Er wollte nicht mehr weiter, er suchte sich ein Mädchen aus, das ein bißchen zu ernsthaft ist und ein wenig unhübsch. Wenn sie lacht, hört man sie kaum, und umgezogen ist sie in ihrem Leben nur zweimal, einmal nach dem Abitur und einmal nach der Uni.

Zusammenziehen will sie demnächst, heiraten, ein Kind oder auch ganz viele, und das, sagt er, sei eine gute Sache.