Wiedersehen

„Wir treffen uns morgen nachmittag. Ich hab‘ ihn 14 Jahre nicht gesehen.“, erzähle ich der C., und krame in meinem Gedächtnis nach irgendwelchen Details jener kurzen, drei oder vier Monate währenden Liebe, wie sie angefangen hat, und wie sie endete. „Warst du sehr verliebt in ihn?“, fragt die C., aber ich kann mich nicht erinnern. „Bestimmt.“, sage ich. „Schlank war er.“, erzähle ich. „Nervös und zappelig, ein exzellenter Schachspieler mit feinen Händen und schwarzem, struppigen Haar.“ – „Oh, die Sorte Mann beziehst du schon länger im Abo?“, lacht die C., und wir bestellen mehr Wein und ein paar Oliven.

Schlank ist er nach wie vor, auch seine Haare sind noch schwarz und struppig, aber kürzer, gezähmt, wie der ganze Mann, der im Café „LassunsFreundebleiben“ auf dem Sofa sitzt und aufsteht, als ich eintrete. „Hey. Schön, dich zu sehen.“, umarmen wir uns, als seien wir uns gar nicht fremd, und sprechen laut und viel über Berlin und München, über das Meer und den arg langen Winter dieses Jahr. Er ist Lehrer geworden, und ich nicke möglichst ernsthaft. Erdkunde und Geschichte unterrichte er an der Realschule, erzählt er, und ich überlege ein bißchen, was es über mich aussagen mag, dass der Beruf des Lehrers bei einem Mann stets ein wenig ridikül auf mich wirkt. „Was machst du?“, fragt er mich, als würde es ihn wirklich interessieren, und ich erzähle ein bißchen aus einer Welt, die ihm fremd erscheinen muss und vielleicht sogar ein wenig unsympathisch. Ein netter Fremder sitzt mir mit einer Tasse Milchkaffee in der Hand gegenüber, und ich suche in seinem Gesicht, in seinen Gesten, nach etwas Vertrautem, das doch da sein muss, denn einmal, da bin ich mir sicher, habe ich die scharfe, gerade Nase, die grauen Augen und die schlanken Hände geliebt.

Er sei mit seiner Freundin zusammengezogen, die auch Lehrerin sei, Sonderpädagogin an einer Schule für verhaltensauffällige Kinder, und zeigt mir ein Photo eines pausbackigen, netten Mädchens, blond und ein wenig rundlich, die freundlich und patent in die Kamera lacht. Ein bißchen langweilig, denke ich, „Nett schaut sie aus.“, sage ich, er nickt und erzählt vom Hauskauf in einem Vorort einer hessischen Stadt, in der ich nicht begraben sein möchte, von den Eltern seiner Freundin, die um die Ecke wohnen, und dem Glück, noch gerade so verbeamtet worden zu sein . „Schon sehr groß, Berlin.“, sagt er, und ich ärgere mich ein wenig über seine Biederkeit, als ginge es mich etwas an.

„Liest du noch so viel?“, fragt er, und ich nicke. Nicht mehr soviel wie mit 15 oder 16 freilich, als ich immerzu las, nachts, tagsüber, in der Schule, und, so fällt mir ein, wir stundenlang nebeneinander im Garten seiner oder meiner Eltern lagen, lasen und uns die schönsten Stellen vorlasen. Wir erzählen uns ein wenig über die Bücher, die wir gerade lesen, gelesen haben, lesen wollen, und kommen ein wenig an in der Gegenwart. Daniel Kehlmann, sagt er. Habe ich noch nicht gelesen, sage ich. Gerade wieder den Grand Meaulnes, immer wieder Schnitzler, er hat gerade Doderer gelesen, ich lese Huysmans, und die Vergangenheit rückt noch ein wenig weiter weg: Zwei seit Jahren erwachsene Leute sitzen in einem Café und sprechen angeregt über Bücher. Egal wird, dass ich so gut wie jeden gemeinsamen Moment vergessen habe, und er vielleicht auch, und als uns nichts mehr einfällt, was wir gelesen haben oder lesen wollen, stehen wir auf und zahlen.

Dann geht er, ein schlanker, noch dunkelhaariger Lehrer, in den gewiss jedes Jahr ein paar Schülerinnen heimlich verliebt sind, und keine schlechte Wahl getroffen haben werden, die ihnen peinlich sein müsste, wenn sie einmal erwachsen sind.

„Immer noch nett.“, erzähle ich der C. am Abend. Ein bißchen langweilig. Und so egal, so schrecklich egal, wie alles einmal gleichgültig sein wird, wenn es nur lange genug vergangen ist, und keine Rechnungen offen.

15 Gedanken zu „Wiedersehen

  1. „Du sublime au ridicule, il n’ya qu’un pas…“

    …dieser Gedanke Napoleons stellt seine Stimmigkeit auch auf dem Feld der Erinnerungen unter Beweis, sofern diesen in der Regel etwas „Erhabenes“, anhaftet.

    Dieser schöne Schein hat jedoch lediglich retrospektiven Bestand. Unter dem Flutlicht des REALEN verwandelt sich diese leuchtende Gloriole immer wieder gerne in eine langweilige, knallgraue(!) Narrenkappe.

    Dabei ist das schale Gefühl, welches diese Verwandlung begleitet weniger der Person geschuldet, die uns jetzt unter dieser lächerlichen Kopfbedeckung nur noch peinlich berühren kann. Der Strudel der Ernüchterung ist so umfassend, dass wir selbst hineingeraten und mithin unsere Gefühle so idiotisch unheroisch im Brackwasser der Langeweile unterzugehen drohen…!

    Aber Ihnen, verehrte Madame Modeste, steht ja die Schwimmweste der Melancholie zur Verfügung…!

    „Le ridicule attaque tout, i ne detruit rien“, schließe ich meinen Kommentar mit Benjamin Constant und danke für den Schreibanlass!

  2. Solche Treffen sind nett, aber überflüssig. Kein Benzin, nur noch Biodiesel.

    Allerdings staune ich über Ihre ästhetische Aburteilung des Lehrerberufs. Was spricht gegen Solidität mit einem Bildungsideal. Das war auch mal mein Traum bis ich Alkoholiker und medienindustrielle Nutte geworden bin.

  3. Der Dings, der DonAlphonso hat ja da kürzlich arg böse übern Zündfunk vom Leder gezogen. Das passt jetzt überhaupt nicht richtig hierher, und ich weiß auch gar nicht, warum sich mir seine Watschn für die „verquasten Einserabiturienten“ gar so arg und vorwitzig aufassoziiert, aber irgendeinen Grund wirds schon haben. Dabei bin ich selber gar kein Lehrer.

  4. Keine Rechnung offen. Aus diesem Equilibrium strömt natürlich leicht der Hauch der Langeweile. Aber Begehrensruhe und Schmerzferne haben ihre eigene Qualität. Schön. Wenn auch ernüchternd. Man sieht sich ja immer selbst im Spiegel. (Wenn hoffentlich nicht so wie Des Esseintes bei Huysmans.)

  5. Ein gelungenes Treffen, wobei der Eindruck der Langeweile womöglich zum Gelingen beiträgt. Solche Begegnungen sind nicht immer ganz risikofrei, wenn sie zur falschen Zeit stattfinden. Es gibt auch Dinge, die zu langsam verjähren…

  6. Ach, Herr oder Frau Wallhalladada, mit den Schwimmwesten ist es ja so eine Sache, und ob die Melancholie nicht nur ebenso eine kokette Geste ist wie der Zynismus und schon aufgrund ihres äußerlichen Charakters lächerlicher als die mutig durch Berlin getragene Lächerlichkeit des Sentiments – wer weiß das schon. Wer will das wissen.

    Was den ehrwürdigen Beruf des Lehrers angeht, Herr Burnston, ist mir der idiotische Charakater dieses Vorurteils selbstverständlich bewusst. Ich habe keine Ahnung, auf welchen gewiss absonderlichen Vorstellungen dieses Vorurteil beruht, bin mir aber sicher, Sie wären ein grandioser Lehrer geworden, und die schönsten Schülerinnen des ganzen Landkreises hätten Ihnen die Bude eingerannt. Nichts als Probleme hätten Sie gehabt, zumindest diesbezüglich haben Sie’s wirklich besser, wo Sie sind. (Und ja, hätte man sich auch schenken können, dieses Treffen. Aber man ist ja neugierig.)

    Tja, Herr Rationalstürmer, da wittern Sie vielleicht mit sicherem Instinkt beim Don Alphonso wie bei mir die schleimigen Quellen der Verachtung für Lehrerschaft und Lehranstalten in lang zurückliegenden Misserfolgen. Ich war eine grauenhafte Schülerin und immerzu versetzungsgefährdet. Ich kann bis heute nicht rechnen.

    Und was den Spiegel angeht, Herr Kid, so ist vielleicht auch dieser Herr mit dem selben Gefühl einer netten, etwas belanglosen Person nach Hause gegangen, mit der ich die Straße entlang heimgelaufen bin. Die Feuer verlöschen, und Sie haben recht: Es ist gut, dass sie verlöschen. Aber manchmal bleibt halt etwas mehr als Asche, aber das alles ist so lange her. So lange, dass ich, Herr Ecce, keinen Moment an ein Revival gedacht habe. Man geht ja gern einmal auf dem Friedhof spazieren, aber mit Grund nicht auf der Intensivstation, Komapatienten gucken.

  7. Solche…

    …Wiedersehen kenne auch ich. Sehr oft fallen sie ernüchternd aus, trifft man sich nach Jahren der Abstinenz mit einer damals wohl ersehnten, zukünftigen geschätzten Gefährtin. Aber die Jahre der physischen wie auch psychischen Veränderung haben Firniß auf die einst strahlenden Farben der Erwartung und Hoffnung gelegt. Vielleicht ist es auch gut so, den Schnitt, die Unterschiede so krass zu sehen und nicht einfach über Jahre des Nebeneinanderherlebens die ständigen Veränderungen einfach assimiliert zu haben. Man trauert vielleicht noch ein wenig, ist aber trotzdem froh, sich diese brennende Frage selbst beantwortet zu haben. (Andererseits, ein Wunschbild über Jahre aufrecht zu erhalten und nicht zu zerstören ist auch ganz nett)

    off topic: werden Sie sich mit dem Gedanken tragen, ab Mitte Mai die Domain melancholieinberlin.org zu beantragen, die momentan noch auf eine Gemäldeausstellung verweist?

  8. Mir gefällt der dezente, leicht melancholische und doch gänzlich unbittere Ton des Textes. Es drohten schließlich einige Klischeeklippen, doch Frau Modeste hat sie – wie stets – mit großem Geschick umschifft.
    (gez. Matt von der Rückseite der Reeperbahn)

  9. Ja, Frau Paula, da haben Sie sicher häufig recht,aber ich bn schrecklich neugierig, und dieser frühere Freund hatte mich angemailt, dass er ein paar Tage in Berlin sein würde, und alles in allem war es nett, ein netter Kerl und eine angenehme Erinnerung.

    An eigene Domain, Herr Pathologe, habe ich wirklich schon einmal gedacht, aber ich fühle mich recht wohl bei twoday.net, und werde aller Wahrscheinlichkeit nach hier bleiben. Ist doch schön hier.

    Danke, Herr500Beine. Und schön, dass Sie mal wieder vorbeigeschaut haben. Und was wäre unser Leben, wenn wir immer ehrlich wären. Wir wollen auch nicht, dass unsere Mitmenschen uns in schonungsloser Ehrlichkeit alles erzählen, was wir gar nicht hören möchte, und nett sah sie wirklich aus, die Freundin.

    Herr Matt, ich habe sie als den Hammerhai natürlich bereits identifiziert, und freue mich immer, wenn Sie bei mir auftauchen, und wenn Sie loben, freue ich mich noch mehr.

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