Über öffentliche Angelegenheiten

Erfolg

Beruflichen Erfolg finde ich richtig gut. Dafür bin ich dann auch bereit, notfalls auch einmal zu wenig zu schlafen, zumindest zeitweilig wochenlang bis nachts um elf am Schreibtisch zu sitzen und drei Geburtstage hintereinander mit Kollegen statt mit dem J. zu verbringen. Das ist okay, wenn im Gegenzug möglichst große, wilde Tiere durch brennende Reifen springen, wenn ich das will, und außerdem kann ich mit Geld nicht um und brauche deswegen ziemlich viel.

Wie bei den meisten Menschen hat mein Wunsch nach Erfolg und Geld aber eine klare Grenze nach oben. Ein Job muss mich zunächst einmal interessieren. Aber auch ein interessanter Job, der alles, was ich bin und kann, restlos auffräße, wäre mir zuviel. Einen Job, der mir weder Zeit für Freunde, noch Zeit für den J. und den F. ließe, der mir weder den Raum für dieses Blog noch für gutes Essen, Kino, Reisen und die Oper einräumen würde, möchte ich deswegen nicht haben. Man könnte also sagen: Erfolg ist mir so circa 50 – 55 Stunden die Woche wert. Mehr nicht. Für mich gilt also: Der richtige Job ist der mächtigste, angesehenste, interessanteste, bestbezahlte Job, der mit diesem Aufwand zu stemmen ist.

Für Anne Marie Slaughter scheint sogar noch etwas mehr zeitlicher Aufwand „richtig“ gewesen zu sein. Der Job als Chefin des Planungsstabs im amerikanischen Außenministerium ging über das Budget an Zeit, die Slaughter der Erfolg wert war, aber offenbar deutlich hinaus. Als sie das anlässlich von Problemen, die einer ihrer Söhne in der Pubertät hatte, bemerkt hat, hat sie diesen Job verlassen und ist in ihren früheren Job als Professorin in Princeton zurückgekehrt. Nun scheint das Verhältnis wieder zu stimmen.

Mit der Frage, ob Slaughter eine Frau oder ein Mann ist, hat diese Geschichte aus meiner Sicht nun gar nichts zu tun. Die persönliche Obergrenze für den Aufwand, den ein Mensch für beruflichen Erfolg zu betreiben bereit ist, mag bei Männern traditionell etwas höher liegen, weil die meisten Männer noch immer weniger Zeit in Haushalt und Kindererziehung stecken als ihre Frau. Die Bereitschaft, viel zu arbeiten, ist aber auch bei Männern nicht unbegrenzt gegeben, und so wäre ebenso gut ein Mann vorstellbar, der mit dem selben Job eines Tages bemerkt, dass er zu wenig Zeit hat für Dinge, die ihm wichtig sind, und der deswegen kündigt.

Warum Slaughter ihre Kündigung trotzdem auf einen spezifischen Unterschied zwischen Männern und Frauen zurückführt, hat sich mir also nicht ganz erschlossen. Ihre Begründung, warum Frauen ihre Familie existentiell wichtiger sei als Männern (hier auf S. 3), erschöpft sich im rein Anekdotischen. Argumente, die die Allgemeingültigkeit dieser Einzelerfahrungen auf Frauen generell stützen, fehlen.

Bringt man diesen Teil des Aufsatzes also als unlogisch in Abzug, bleibt trotzdem Einiges übrig, was zu lesen sich lohnt. So ist die Forderung, Schul- und Berufsleben sollten zeitlich besser aufeinander abgestimmt werden, sicherlich richtig. Auch der Wunsch, Karrierewege mögen flexibler werden, wird sicherlich zu recht von vielen geteilt. Auch der Hinweis, dass die Epoche der Anwesenheitskultur gerade in den großen Law Firms offenbar mangels Nachfrage gerade zu Ende geht, ist interessant. Ich habe mich schon einige Male gefragt, ob das ein deutsches Phänomen darstellt oder eine weltweite Entwicklung.

Unschön an der ganzen Sache bleibt die Überschrift. Der Bezug auf Frauen, die „nicht alles haben können“, suggeriert gerade denjenigen, die finden, dass Frauen auch nicht alles haben sollten, Bestätigung, und wenn es darum geht, ob ich oder irgendeine andere Frau befördert wird, werden wir noch etwas härter kämpfen müssen, um den mächtigsten, angesehensten, interessantesten, bestbezahlten Job zu bekommen, der zu uns passt, wenn diejenigen, die das entscheiden, glauben, einer Frau sei der Job ja im Grunde gar nicht so wichtig.

Verschwörungstheorie

Sehen Sie, die Regierung hat halt Feinde. Ich meine da nicht die Opposition. Die Opposition besteht ja in Deutschland einerseits aus sehr staatstreuen und andererseits aus völlig unfähigen Leuten. Die Opposition steht deswegen keineswegs den Bestrebungen der Regierung im Wege, die Deutschen zum Kinderkriegen aufzufordern. Wenn ich von „Feinden“ spreche, dann meine ich andere Kräfte.

Nicht, dass ich wüsste, um wen es sich dabei handelt. Ich bin eine einfache Rechtsanwältin, woher soll denn ausgerechnet ich wissen, wo das ganze Geld herkommt, das den Pressemarkt überschwemmt? Nur dass es da irgendwelche Geldflüsse gegeben haben muss, davon bin ich überzeugt, denn es kann doch kein Zufall sein, dass seit ein paar Jahren – ungefähr solange, wie es das Elterngeld gibt – alle Zeitungen und Zeitschriften nur noch schreiben, wie grauenhaft es ist, Kinder zu haben. Der FAZ ist das auch schon aufgefallen. Wie nervig die kleinen Blagen sind und wie langweilig das Leben als Mutter, steht da dann etwa. Dass man immer unausgeschlafen sei, keine Zeit mehr habe, zu lesen oder auszugehen, und dass man statt nach New York die nächsten zwei Jahrzehnte nach Dänemark fahren wird.

In Wirklichkeit ist das alles Quatsch: Ich habe seit Jahren nicht mehr so viel geschlafen, weil ich ansonsten ja arbeiten muss und zuviel ausgehe. Die Vereinbarkeit von Berufs- und Nachtleben hat bei mir nie so richtig hingehauen, und dann habe ich halt am Schlaf gespart. Das ist nun natürlich anders. Gerade ein Baby kann man außerdem überall hin mitnehmen. Wir waren mit F. beispielsweise auf einer Vernissage und gehen ständig essen. Später hat man dann Babysitter und ansonsten wechselt man sich halt ab. Man muss ja nicht zwangsläufig zusammen ins Theater. Überdies – mein Gott, so ein Baby schläft 12 Stunden am Tag, das reicht für einen Haufen Bücher und Filme. Selbst ein waches Baby liegt ja meistens einfach so auf seiner Decke und spielt fröhlich brabbelnd mit herabhängenden Rasseln oder versucht vergeblich, einen großen Plüschwürfel vollständig in den Mund zu stecken. Da kann man gut daneben sitzen und die Süddeutsche lesen, so beispielsweise. Oder man sitzt in einem Flugzeug nach San Francisco, sieht hintereinander True Grit und zwei Folgen The Big Bang Theory und sieht wohlgefällig seinem Baby zu, dass in einem Hängebabybett vor einem liegt und freudig strampelt, strahlt und meistens schläft. Die Geräusche des Flugzeugs und die Vibrationen müssen da irgendwie eine ziemlich wohltuende Wirkung ausüben: Der F. schläft zwar auch ansonsten viel, aber so viel schläft er eigentlich nicht.

Geschrien hat der Kleine auf der ganzen Reise im Übrigen überhaupt gar nicht. Zweimal habe ich gewickelt, ebenfalls zweimal wurde er gefüttert. In der Schlange für die Passkontrolle wurden der J. und ich dann etwas ungeduldig, nicht aber der F., und als wir todmüde um 19.30 Ortszeit zu Bett gehen wollten, schlummerte auch der F. in seinem Babybett selig ein.

Die ausufernde Gegenpropaganda kann ich mir daher ganz eindeutig nur mit Bestechung erklären. Die Verlage müssen für ihre Greuelpropaganda in Geld schwimmen. Nur warum irgendwer ein Interesse daran hat, dass die Deutschen aufhören, Kinder zu bekommen, kann ich mir nicht erklären. Die Deutschen sind doch so nützlich. Man denke doch nur an die Eurokrise. Wie soll denn das weitergehen, wenn es irgendwann keine Deutschen mehr gibt? Die einzige Erklärung, die mir für die Überschwemmung mit „No Kids“-Texten daher einleuchtet, ist diese: Die Regierung hat Feinde. Irgendwen. Irgendwen mit ziemlich viel Geld.

Ich weiß es nicht

Letzte Woche habe ich wieder eine getroffen: Eine meiner Mitschülerinnen mit besserem Abi als ich. Das ist nicht so besonders schwierig, das mit dem besseren Abi, denn ich war eine berüchtigte Katastrophenschülerin, eine Schwänzerkönigin und Langschläferin, und deswegen hat nahezu jeder ein Abi, das besser ist als meins.

Gebracht hat es den anderen Mädchen aber irgendwie nichts.

Ein Teil ist erst einmal eher so seiner inneren Berufung gefolgt. Die haben dann also Romanistik studiert, Psychologie oder evangelische Theologie. Da wurden unglaubliche Mengen an Herzblut in Magisterarbeiten gesteckt und nie über die Frage nachgedacht, was man eigentlich später mal so macht. Ich möchte schwören, Überlegungen wie die, keinen Chef zu haben und wirklich große Räder zu drehen, soviel zu verdienen, dass man eine Villa im Grunewald kaufen kann, oder einen Haufen Leute springen zu lassen, wenn man einmal laut hustet, spielten da keine Rolle, und heute haben die Mädchen von früher meistens ein paar Kinder und einen Halbtagsjob. Natürlich fachfremd. Der ist meistens schlecht bezahlt und in der Hackordnung der Firma, um die es geht, nicht so sonderlich angesehen, was bedeutet, dass man sehr selten machen kann, was man selbst will, und ziemlich oft machen muss, was andere Leute wollen.

Das Orchideenfach allein scheint an dieser Entwicklung allerdings unschuldig zu sein. Mein Gott, der Historiker J.2 reist als Unternehmensberater durch die Lande, der Historiker F. hat sich habilitiert. Der Theologe G. ist nach zwei Jahren als Vorstandsassistent in einem ziemlich großen Laden nun Herr einer ganzen Abteilung von Ingenieuren. Warum die Mädchen sich da einfach nie beworben haben? Ich weiß es nicht.

Ich weiß auch nicht, was mit den Juristinnen und Medizinerinnen los ist. Die hatten doch alle gute Examen. Ein Teil hat dann noch ganz ordentlich promoviert. Ein paar Jahre lang lief auch alles ganz gut. Aber dann traf man sich ein paar Jahre später, und der S. war Junior Partner einer Kanzlei, und die K. war immer noch Fußvolk. Der B. wurde Leiter einer Forschungsgruppe, und die F. forschte immer noch befristet für einen egomanen, alten Prof. Was in der Zwischenzeit schief gelaufen ist? Ich weiß es auch nicht. Ich kann es mir nicht einmal richtig vorstellen. Ich weiß nur das: Ich bin mit diesen Leuten jahrelang zur Schule gegangen. Ich wei0, sie sind ungefähr gleich intelligent und gleich belastbar. Wieso die Männer Karrieren machen und die Frauen nicht? Ich weiß es nicht.

Die meisten der Mädchen aus meiner Klasse haben Kinder. Meistens arbeiten sie vor dem ersten Kind ebenso viel wie die Väter dieser Kinder, und meistens ebenso qualifiziert. Oft verdienen sie etwas weniger, das liegt zum einen an dem üblichen Altersunterschied von drei, vier Jahren, der sich wegen der unterschiedlich langen Berufserfahrung dann oft in unterschiedlich hohen Gehältern niederschlägt. Zum anderen liegt es an der schlechten Bezahlung in vielen Jobs, die Frauen gern machen. Eine Museumspädagogin verdient halt weniger als ein Anwalt.

So arm, dass sie sich eine Aufteilung der Elternzeit partout nicht leisten können, sind die meisten Familien aber nicht. Trotzdem wird die Elternzeit nicht hälftig geteilt. Angeblich gibt es in jedem einzelnen von sehr, sehr vielen Fällen gute Gründe, warum er gerade jetzt nur die beiden Vätermonate nehmen kann. Manchmal gibt es angeblich die Unternehmenskultur nicht her. Oder er ist gerade befördert worden oder will befördert werden und wird, wenn er mehr nimmt, nie wieder befördert. Dann nimmt sie also zwölf Monate (bei jedem Kind), dann wird sie eben nie wieder befördert, und wenn sie befristet gearbeitet hat, läuft ihr Vertrag irgendwann aus. Das war es dann. Der nächste Job ist selten besser. Diese Entwicklung ist absehbar. Warum die Frauen trotzdem nicht auf einer Halbteilung beharen? Ich weiß es nicht.

Ich weiß, dass es viele Ansätze gibt, das Verhalten der Frauen zu erklären. Vielleicht hat es etwas mit gesellschaftlichen Leitbildern zu tun, die man ändern sollte. Oder es beruht auf individuellen Schwerpunktsetzungen, gegen die man wenig sagen kann, weil schließlich jeder selbst wissen muss, was er mit seinem Leben anstellt. Letztlich weiß ich nicht, wieso Frauen entscheiden, wie sie es tun. Was ich aber weiß: Fast alle dieser Entscheidungen von Frauen gegen Macht, Geld und gute Jobs führen zu schlechteren Arbeitsbedingungen, als man sie haben könnte, zu wirtschaftlicher Abhängigkeit von einem Partner und zu weniger Freiheit, eigene Ideen umzusetzen und zu tun, was und wie es einem beliebt. Für mich wäre das nichts. Ob für die anderen? Ich weiß es nicht.

Ganz egal

„Ach was.“, sage ich und zerteile meinen Pancake sorgfältig in vier gleich große Stücke. „Dann haben die Kinder mit den übereifrigen Mamas halt die besseren Abiture.“ Mein Begleiter nickt mit vollem Mund und bestreicht ein Croissant mit Orangenmarmelade. „Das ist doch egal.“, bestätigt er, verrührt einen Löffel Zucker in seinem Tee und winkt dem Kellner um ein Schälchen Honig.

Wir zum Beispiel haben beide kein gutes Abi. Als wir zur Schule gingen, gemeinsam, irgendwann in den Neunziger Jahren, war der Ehrgeiz ja quasi noch nicht erfunden. Niemand von unseren Eltern hatte Angst, dass Inder oder Chinesen mit doppelt soviel Wissen und dreimal so viel Fleiß uns den Rang ablaufen würden. Zwischen meinen Eltern und mir gab es die unausgesprochene Abrede, dass sie sich nicht einmischen und ich nicht sitzen bleiben würde. Weil meine Eltern offenbar überhaupt nicht in Frage stellten, dass ich meine Versprechungen in Hinblick auf eine ungestörte Schullaufbahn auch halten würde, nahm mein Vater pünktlich zu jedem Halbjahrszeugnis die warnenden Briefe zur Kenntnis, in denen stand, dass ich wegen zwei Fünfen in Chemie und Physik versetzungsgefährdet sei. Ich glaube, es hat ihn keinen Tag beunruhigt.

Auch die Mutter meines Begleiters zog Schulversagen nicht weiter in Betracht. Ich glaube, sie wusste nur sehr ungenau, welche Leistungskurse ihr Sohn so besuchte und sprach nie mit ihm über seine auffallend asymmetrischen Zensuren, die entweder (in Latein, Griechisch oder Geschichte) durchweg auf eins oder (in Mathematik, Physik oder Sport) maximal auf einer Gnadenvier für ein freundliches Wesen standen.

Guten Noten maßen wir auch bei anderen keinerlei Bedeutung bei. Wir wussten ziemlich genau, wer geistreich und wer zumindest belesen war und wer sich nur Königs Erläuterungen drei Tage lang merken konnte. Diffus war uns von Anfang an klar, dass aus den fleißigen Mädchen in unserer Klasse keineswegs die erfolgreichsten Erwachsenen werden würden, und wir verachteten die Mädchen mit den sauberen Heften schon vorab ein bißchen für so viel unnütz aufgewandte Arbeit.

Ich habe für mein Abi nicht gelernt. Der NC für Jura war bei 2,5 damals, da war klar, dass jeder spätestens im Nachrückverfahren einen Platz bekommen würde. Mein Begleiter lernte eine Woche für Mathe, weil er ansonsten durchgefallen wäre und ein Jahr verloren hätte. Wir haben beide nie auch nur im Ansatz in Betracht gezogen, dass man uns das Abitur verwehren könnte. Am Ende standen wir in der Aula, ich hielt die Abirede. Er spielte, meine ich, vierhändig Mendelssohn-Bartholdy. Es gab ziemlich salbungsvolle Worte und mittelmäßiges Essen. Ich hatte ein weißes Kleid an und sehe auf den Photos, die es gibt, irgendwie ungebürstet aus.

Das ist nun fünfzehn Jahre her. Wir haben beide ziemlich gute Examina. Seine Diss ist sehr, sehr gut und meine immerhin ansehnlich. Man lädt uns zu Kongressen ein, um dort zu sprechen und wir publizieren ab und zu in Zeitschriften, was wir uns über dies und das so denken. Es läuft, wie man so sagt, alles recht gut.

„Meine Sekretärin hat ein besseres Abi als ich.“, sagt er und blättert in der Teekarte. Ich nicke. Es ist ganz egal, was passiert, bevor es losgeht, sage ich laut und korrigiere mich sofort: Nein. Es ist nicht egal. Aber das, was man in Schulen lernt, das ist egal, und die Mühen der Mamas vermutlich ganz vergeblich.

Die Welt von gestern

„Das ist merkwürdig.“, sage ich zum J. beim Essen. In den letzten zehn Jahren muss irgendetwas passiert sein, denn als wir so alt waren wie die, die derzeit in der halben Welt demonstrieren, hatten wir diese Angst nicht im Geringsten, mit unseren Examen nichts anfangen zu können.

Anfang, Mitte zwanzig waren wir damals. Die New Economy war gerade vorbei, aber bis auf ein paar Parties haben wir davon nichts mitbekommen. Die Kanzleien wurden gerade groß und stark und international, fusionierten in alle Richtungen und luden uns ein zu Vorträgen oder Essen oder irgendwelchen Events, auf denen die Partner der Kanzleien über Deals und Gehälter sprachen, die wir aufregend fanden und ein bißchen frivol für Leute wie uns, die ja praktisch nichts konnten. Die Unternehmensberatungen stellten ein, wenn jemand etwas eher Exotisches studiert hatte. Die Verbände boten Jobs, die Unternehmen Trainee-Programme, und meine Freundinnen gingen reihenweise zum Staat und wurden Ministerialbeamtin und Richterin oder leiten heute irgendwo ein Finanzamt.

Angst, auf der Straße zu sitzen, hatte niemand von uns. Wir promovierten, weil es noch nicht so schnell losgehen sollte mit dem Erwachsensein, und bekamen alle entweder einen Job an der Uni oder ein Stipendium. Es war genug für alle da.

Dass es damit vorbei zu sein scheint, haben wir nicht bemerkt. Wir wurden Senior, Partner, Richter am Landgericht, Regierungsdirektor. Wir haben uns Wohnungen gekauft und Kinder bekommen. Wir sind 35. Wir fahren ein bißchen herum, wir gehen ins Theater, wir kochen, wir lesen viel und wir sehen kaum fern. Vielleicht haben wir Teile der Welt einfach ausgeblendet, weil sie nicht so schön aussehen und uns ein bißchen ratlos machen. Wir zahlen unsere Steuern, wir wählen am Ende dann doch alle grün, wir wissen auch nicht weiter, und wenn wir uns fragen, wann die Welt sich verändert hat, zucken wir mit den Achseln.

Ich weiß es nicht, sagen wir dann. Ich habe davon nichts mitbekommen.

Schönen Tag

„Oha.“, sage ich und schüttele den Kopf. Die ausgestreckte Hand mit dem Zettel bleibt in der Luft stehen. „Vermieterterror stoppen! Wir bleiben alle!“, steht auf dem Flugblatt, das offenbar die Thesen von Menschen verbreitet, die etwas gegen die marktwirtschaftlichen Gesetze der Preisbildung bei Wohnungen haben.

Den Jungen mit den Flugblättern schaue ich flüchtig an. 19 oder 20 wird er sein, vermutlich Student, schwarzgefärbte Haare und schlechte Haut, schöne Augen, aber die Hände könnten gepflegter sein und das T-Shirt nicht ganz so verwaschen.

Schnell gehe ich weiter. Ich missbillige solche Bestrebungen, wie sie der Junge vertritt. Ich habe mich sehr wenig mit diesen Dingen beschäftigt, weil ich mich für Politik nur eingeschränkt interessiere, aber ich argwöhne, dass sich der Missmut solcher Leute irgendwie auch gegen mich richtet, denn wenn man möchte, dass keine Alteingesessenen durch Zugezogene verdrängt werden, dann meint man vermutlich, dass in meiner Altbauwohnung im Bötzowkiez nicht der J. und ich wohnen sollen, sondern die Ostberliner, die hier früher irgendwann mal gewohnt haben, und die ich gar nicht kenne. Das wiederum würde bedeuten, dass ich ja irgendwo anders wohnen müsste, dabei gefällt es mir da, wo ich bin, extrem gut. Auch abseits meiner persönlichen Abneigung, den Prenzlauer Berg wieder zu verlassen, ist mir ziemlich schleierhaft, wieso es ein Recht auf Fortsetzung von Mietverträgen zu trotz Sanierung unveränderten Konditionen geben soll, nur weil jemand immer schon da war. Dass etwas schon immer so war, ist kein überzeugendes Argument dafür, dass es sich auch künftig nicht ändern solle.

Mit den Tiraden von Leuten, die aus kulturellen Differenzen moralische Überlegenheiten ableiten, beschäftige ich mich schon aus Prinzip nicht. Das ist mir zu gehässig. Ich habe registriert, dass die Gehässigkeit eher auf Seiten der sogenannten Gentrifzierungsgegner zu liegen scheint, jedenfalls habe ich umgekehrt noch keinen Schwaben anti-ostdeutsche Parolen dreschen hören, aber ansonsten finden diese Debatten weit weg von mir statt, die ich im Übrigen auch überhaupt keine Leute kenne, die so aufgeregt-unschöne Worte wie „Vermieterterror“ benutzen.

„Schade. Schönen Tag noch!“, grüßt der Junge mich auch ohne Flugblatt freundlich und wartet auf den nächsten Passanten. „Man kann doch nicht mit 20 schon dafür sein, dass sich nie etwas ändert.“, liegt es mir auf der Zunge, aber dann sage ich nichts. „Viel Spaß und viel Veränderung.“, würde ich ihm fürs Leben wünschen, aber das würde er nicht verstehen. So sage ich gar nichts. Außer: „Schönen Tag.“

Die „bürgerliche Partei“

„Ich habe ja nie verstanden, was die CDU an Bürgerlichkeit eigentlich so großartig findet.“, sage ich und warte auf die Peking-Suppe, die es in der Ming Dynastie an der Jannowitzbrücke so gut gibt, wie ansonsten selten. „Welchen Wert messen diese Leute Bürgerlichkeit zu, dass sie sich immerzu als „bürgerliche Parteien“ vermarkten?“, frage ich mein Gegenüber und freue mich über die Suppe, die braun, sauer und pfeffrig und nicht ketchuprot wie woanders vor mich hingestellt wird.

Tatsächlich halte ich Bürgerlichkeit nicht für eine Angelegenheit, der irgendeine Werbewirkung zukommt. Natürlich gibt es Verhaltensweisen, die typisch für das deutsche Bürgertum sind. Darunter gibt es grässliche Angewohnheiten. Ein unangenehmer Stolz auf Geld, Tüchtigkeit und eine humorfreie Redlichkeit etwa. Es gibt auch angenehme Seiten des Bürgertums, aber die, fahre ich fort, verkörpert die CDU eindeutig nicht.

Als positiv empfinde ich etwa den kaufmännischen Wagemut, der im 19. Jahrhundert aus Handwerksgesellen Industrielle geschaffen hat. Die Kreativität, sich in jeder Generation etwas Neues einfallen zu lassen, anders als der Adel, der stolz darauf ist, sich nie zu ändern. Die Freiheiten zu nutzen, die die Moderne mit sich gebracht hat, etwa Zeitungen zu drucken, sich niederzulassen, wo man will, nicht den Beruf zu ergreifen, den der eigene Vater hatte, und viel Geld in Kunst zu investieren. So viele Museen, Kulturvereine, Opernhäuser und Konzertsäle wie hier gibt es in der Welt selten. Die meisten beruhen auf dem guten Geschmack und der Großzügigkeit von Bürgern.

Die CDU aber steht der Moderne und ihren Freiheiten meistens eher ablehnend gegenüber. Letztlich habe ich Interview mit dem Innenminister gelesen, in der dieser eine patriotische Bratkartoffelidylle hat hochleben lassen, die lustig wäre, wäre der Mann nicht Minister. Der bei aller modernen Fassade spürbare Wunsch nach Ehen, die – welches Elend da auch sei – nicht geschieden werden, und nach Frauen, die zu Hause viele Kinder erziehen, steht zu meiner Vorstellung von Freiheit, sein Leben selbst gestalten zu können, in Widerspruch. Ich will nicht eine Lebensform als wünschenswert vorgesetzt bekommen. Ich finde es gut, wenn jeder, der niemandem schadet, auch von niemandem geringgeschätzt wird.

Ach, spreche ich weiter, und schaufele mir Reis und Hühnchen Gong Bao in mein Schälchen. Der feige, rückwartsgewandte Protektionismus, der stets unterscheidet zwischen „wir“ und die „anderen“. Die nationale Engherzigkeit, die sich als Heimatverbundenheit tarnt, und in Freiheit und Globalisierung immer nur ein Problem sieht und nie die Großartigkeit, die Länder wechseln zu können wie die Berufe, die Ansichten und die Partner. Das provinzielle, selbstgerechte Verhältnis zur Kunst, in der das, was nicht auf den ersten Blick dekorativ aussieht, abgewertet statt erkundet wird.

Nein, sage ich. Die CDU ist keine bürgerliche Partei. Und selbst wenn sie es wäre, fände ich es absurd, sich dessen zu rühmen.

Man wird ja noch mal sagen dürfen.

Sie. Ja, Sie an Ihrem häuslichen Rechner. Ich möchte Sie kennenlernen, denn über Leute wie Sie weiß ich bisher nichts.

Gelegentlich begegne ich Ihnen beim Zeitunglesen im Netz, aber bis heute weiß ich nicht einmal, wie man Sie anspricht. Sagt man „Liebe Forennutzer“? Oder ist „sehr geehrte Damen und Herren Kommentatoren“ besser? – „Hallo miteinander“ erscheint mir etwas informell, denn so, wie Sie sich in den Foren und Kommentarsträngen zu vorwiegend politischen Artikeln etwa bei Spiegel Online, bei faz.net, sueddeutsche.de oder zeit.de äußern, scheinen Sie sich meistens so ernst zu nehmen, dass ein lässig dahingegrüßtes Winken Ihrem Geltungsanspruch möglicherweise nicht gerecht werden wird. Vielleicht sind Sie dann beleidigt. Beleidigt sind Sie – verzeihen Sie mir den Einwurf – schließlich ziemlich oft.

Ich will nicht ungerecht sein, aber der Anteil derer unter Ihnen, die sich von der Welt und der Politik beständig schlecht behandelt oder auf bisweilen diffuse Art und Weise geringgeschätzt, für dumm verkauft oder nicht ernst genommen fühlt, erscheint mir verhältnismäßig hoch. Ich teile diese Empfindung, meine Interessen würden nicht gehört, zum Beispiel nur sehr selten, aber diese Ansicht über die Einrichtung der Welt gilt Ihnen, ich habe es gelesen, entweder als naiv oder ich gehöre in Ihren Augen möglicherweise auch zu denen, die dieses Land zu ihrem Vorteil unter sich aufgeteilt haben. Die Meinung, es gebe eine Art Verschwörung wahlweise von naiven „Gutmenschen“ oder von „denen da oben“, die an der Mehrheitsgesellschaft vorbei Klientelinteressen bedienen, scheint unter Ihnen deutlich verbreiteter zu sein als unter Menschen, mit denen ich am Tisch sitze und Meinungen austausche, wenn mir einmal danach ist.

Überhaupt Meinungen. Ein schwieriges Thema. Ich bin mir, was die eigene Meinung angeht, oft nicht so sicher, welche Mechanismen Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft bewegen. Was rechts unten passiert, wenn man links oben an einer Strippe zieht, ist für mich oft überraschend. Ich habe mich da auch schon nicht selten geirrt. Zum einen verstehe ich nicht so arg viel von Volkswirtschaft oder Soziologie. Zum anderen ist mein Horizont ein ziemlich spezieller. Ich kenne einen eher engen Ausschnitt der Gesellschaft. Das bringt die Großstadt so mit sich; bei meinen Eltern in einem kleinen Nest von 10.000 Einwohnern ist das noch deutlich anders. Wären alle Menschen so, wie die, die mich umgeben, wäre jeder so ungefähr 35, hätten die Grünen Stimmanteile von 85%, weniger als 25% der Bevölkerung hätte ein Auto, dafür 95% einen geistes- oder gesellschaftswissenschaftlichen Abschluss und gute 75% Wohnungen am Prenzlauer Berg. Es mag deswegen sein, dass die Gesellschaft auf irgendwelche Maßnahmen oder Änderungen völlig anders reagiert, als ich es annehme. Dass das die Belastbarkeit meiner Einschätzungen beeinträchtigt, versteht sich von selbst.

Sie dagegen sind, wie ich Ihren Postings entnehme, von der Allgemeingültigkeit Ihrer Weltsicht oft auf frappierende Weise überzeugt. Andere Ansichten sind deswegen in Ihren Augen meistens keine Anregung, wie man die Welt sonst noch so betrachten kann, sondern schlichtweg falsch. Temperamentvollere Gemüter unter Ihnen sehen angesichts falscher Ansichten dann jedesmal gleich das Abendland in Gefahr. Sie sehen, wenn ich Sie richtig interpretiere, in Diskussionen nicht eine ziemlich gute Methode, die vielen gesellschaftlichen Handlungsoptionen daraufhin abzuklopfen, ob sie einerseits funktionieren und andererseits von tragfähigen Mehrheiten unterstützt werden. Sie gehen stattdessen vielfach davon aus, es gebe einen richtigen Weg zu einer guten Gesellschaft, und wer diesen nicht vertrete, sei entweder böswillig oder dumm.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, wenn Sie Entscheidungsträger in Politik oder Wirtschaft geringschätzen. Wer denkt schon gut über böse oder dämliche Personen. Was ich aber doch gern einmal von Ihnen wüsste: Glauben Sie wirklich, das alles ginge anders? Politik könnte einfach so Ihre persönliche Weltsicht vollstrecken, durchregieren, umsetzen, was Ihnen richtig erscheint? Und halten Sie Ihre Ansicht wirklich für so verbreitet, wie es bisweilen scheint? Sie identifizieren sich ja in verblüffendem Maße mit einer angeblich schweigenden Mehrheit. Woher wollen Sie das eigentlich wissen? Halten Sie es nicht für möglich, dass es Ihnen am Ende geht wie mir: Sie leben umgeben von Personen, die Ihnen vom Herkommen, vom Habitus, von den Lebensumständen und von der Weltsicht stark ähneln und verwechseln ihre persönliche Wahrnehmung mit der Realität einer komplexen Bevölkerung von 80 Mio. Menschen.

Wie diese Lebensumstände aber so aussehen, in denen Sie sich befinden, dass frage ich mich bisweilen dann doch. Ich kenne keine Leute, die mir spontan in den Kopf kommen, wenn ich lese, wie Sie sich austauschen. Oder kenne ich sie doch, aber Sie verschweigen mir Ihre Ansichten, wenn Sie mir gegenüberstehen, weil sie annehmen, dass ich diese nicht teile? Halte ich jedes Gegenüber für einen weltklug-humorvollen Liberalen, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es Leute gibt, die ich nett finde, die aber Weltsichten hegen, die ich unverständlich finde, ein wenig engherzig oder gar verächtlich? Oder leben Sie tatsächlich woanders, in kleinen Städten irgendwo am Land vielleicht oder in Spandau, Köpenick oder Wilmersdorf und ich treffe Sie deswegen nie? Sind Sie vielleicht deutlich älter als ich, vielleicht ein gelangweilter Rentner? Ich kenne quasi niemanden über 50, vielleicht liegt es daran. Ich stelle Sie mir meistens männlich vor, aber vielleicht stimmt das gar nicht? Sind die männlichen Namen, die Sie bei der FAZ angeben, vielleicht Pseudonyme und in Wirklichkeit heißt mancher Gerd Gertrud, Manuela oder Kerstin?

Aber werden wir konkret: Sind Sie verheiratet? Wann waren Sie das letzte Mal verliebt? Sehen Sie gut aus? Ich trage heute Jeans von G-Star, Chucks, ein Top von Zara und einen Cardigan vom Comptoir des Cottoniers. Was haben Sie denn so an? Haben Sie dieses Jahr schon für etwas demonstriert? Wie viel geben Sie pro Jahr für andere Menschen aus? Überhaupt Geld: Sind Sie mit Ihrem Einkommen zufrieden? Ist Ihnen Geld wichtig? Wären Sie als Unternehmer lieber Steve Jobs oder Ferdinand Piëch? Als Schriftsteller lieber Clemens Meyer, Daniel Kehlmann oder Frank Schätzing? Wer würde Sie in einem Biopic angemessen darstellen? Glauben Sie an Gott?

Ich weiß nichts über Sie. Ich würde gern wissen, wer Sie sind.

(Ich glaube, ich werde Sie nicht mögen.)

Nächsten Sonntag: Eine Ratlosigkeit

Aber seien wir ehrlich: Ganz egal ist es natürlich nicht, wer nächsten Sonntag gewinnt, und die Entscheidung fällt mir schwer:

Da hätten wir zunächst einmal die CDU. Ein bißchen unangenehm, das ist wahr, ist mir bereits die kulturelle Heimat der deutschen Konservativen in einer so etwas muffigen Welt aus Schützenkönigen und Hausfrauen und Rentnern, die jede Woche ihren Rasen mähen. Was die Modernisierung der CDU angeht, traue ich dem Braten nicht so recht. Mag sein, man tut der CDU unrecht, aber ich werde das Misstrauen nicht los, dass die Ressentiments gegen die Unordnung der großen Städte, Lebensformen, die anders aussehen als Kleinfamilien mit Kombi, noch ganz dicht unter der aufpolierten Oberfläche lauern, und die CDU, kurz gesagt, für ein anderes Deutschland steht als das meine. Nun soll man Wahlentscheidungen nicht anhand ästhetischer Kriterien treffen. Doch allein schon wegen des Umstandes, dass die CDU die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken befürwortet, geht meine Stimme nächsten Sonntag wohl eher nicht an Frau Merkel.

Die FDP wähle ich nicht. Gegen die FDP spricht – neben der Frage der Kernkraftwerke – ein Grundmisstrauen. Ich habe nichts gegen einen gewissen Unernst und den Wunsch, Karrierre zu machen. In meinen Augen ist es normal, dass jemand, der Politik betreibt, regieren will. Ich habe auch nichts gegen SUV-Fahrer. Ich hege keine Abneigung gegen Zahnärzte. Die intellektuelle Unredlichkeit der FDP aber hinsichtlich der Frage, wie Gesellschaft aussehen soll, empfinde ich als unangenehm und als feige. Wer eine Klientelpolitik betreibt darf nicht sich und anderen weismachen, dies gehe ohne Opfer an anderer Stelle ab. Wer den wirtschaftlich und gesellschaftlich Erfolgreichen weitere Vorteile verschaffen will, handelt unredlich, wenn er dies moralisch auflädt. Es ist jedem normalen Menschen klar, dass Leistung nur sehr teilweise über individuellen Erfolg bestimmt. Erleichterungen für ohnehin nicht sonderlich Belastete als Leistungsprämie auszugeben, widerstrebt mir. Ich werde die FDP – so viel steht fest – nicht wählen.

Mit der SPD ist es ebenfalls nicht einfach. Ich habe an sich gar nichts gegen die SPD. Dass ihr Spitzenkandidat nicht gerade das ist, was man einen Charismatiker nennt, nun gut: Das unterscheidet ihn nicht von der Konkurrenz. Wenn die SPD Klientelpolitik betreibt (von der ich nicht profitiere), dann hat dies zumindest nicht den unangenehmen Beigeschmack wie bei anderen Parteien, hier würde eine gesellschaftliche Gruppe eine ohnehin starke Position ausnutzen, um sich weitere Vorteile zu verschaffen. Auch die Agenda 2010 hat mir einigen Respekt abgenötigt.

Indes: Die Ansichten der Sozialdemokratie über die Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik teile ich ganz ausgesprochen nicht. Die sozialdemokratische Bildungspolitik halte ich für ein Verhängnis. Ich glaube nicht, dass das gemeinsame Lernen Kindern nützt, und sehe Bildung – anders als weite Teile der Sozialdemokratie – nicht als ein Instrument gesellschaftlicher Veränderung. Zudem irritiert mich an der SPD der durchaus beschränkte Radius ihrer Phantasie, das Defensive eines Kampfes um Arbeitsplätze in einer industriellen Welt, die ich als gestrig empfinde, und das Würdelose, wenn die SPD versucht, auf neue Milieus zuzugehen. Ich mag auch die meisten SPD-Politiker nicht. Ich könnte mir eine SPD in der Opposition für die nächsten zwei, drei Wahlperioden gut vorstellen, wenn denn die Alternativen nicht gar so unattraktiv wären. Wählen werde ich die SPD aber schon deswegen nicht, weil ich nicht davon überzeugt bin, dass das Versprechen, mit der in meinen Augen ganz und gar unseriösen Linken nicht zu koalieren, besonders lange hält.

Mit den Grünen ist es aus diesem Grunde diesmal leider auch schwierig. Kulturell bin ich im grünen Milieu wahrscheinlich am ehesten daheim. Das grüne Personal irritiert mich relativ gesehen noch am wenigsten. Die Betonung ökologischer Fragen auch unabhängig von Nützlichkeitserwägungen halte ich für ebenso richtig wie die grüne Politik im Umgang mit Minderheiten. Was die Bildungspolitik angeht, halte ich die Grünen (sonderbarerweise – im Programm steht bekanntlich etwas anderes) für vernünftigem Zureden empfänglicher als die insgesamt durchaus etwas bildungsferne SPD. Es kann sein, dass ich nächsten Sonntag wieder bei den Grünen lande. Aber die rot-rot-grüne Option gefällt mir dermaßen gar nicht, dass ich vielleicht, möglicherweise und erstmals bei einer Bundestagswahl zu Hause bleibe. Jedoch ist dies natürlich auch keine Alternative, denn regiert, regiert wird am Ende sowieso, ob nun mit oder ohne meine Stimme.

Doch wie die Regierung auch immer aussehen wird: Ich werde nicht glücklich sein, nächsten Sonntag.

Die Anderen

Ab und zu spreche ich mit Leuten, die sich beruflich mit Politik beschäftigen, und die Gespräche verlaufen dann oft ein wenig ungut: Ich sage, was ich über irgendetwas denke, und mein Gegenüber verweist auf die Anderen. Die Anderen, die das, was ich will, nicht wollen. Die Anderen finden etwa, wie ich bisweilen höre, Arbeitsplätze seien wichtiger als Ökologie. Sie finden Protektionismus gut. Sie sind stolz auf deutsche Autos. Sie haben mehr Angst vor Kriminalität als vor einem Polizeistaat. Alle diese Annahmen teile ich nicht, aber wie man mir sagt, komme es auf meine Überzeugung nicht an. Die Anderen seien nämlich zahlenmäßig viel, viel stärker als Leute, die ähnlich denken wie ich, und deswegen seien Leute wie ich als Wähler im Grunde zu vernachlässigen.

Dies allein wäre nun an sich unproblematisch. Es gehört zum Wesen einer Demokratie, dass Minderheiten sich selten durchsetzen. Zum Problem wird der Glaube an die Anderen aber durch die Annahme, die Anderen seien ein bißchen blöd. Diesen Hinweis höre ich öfters, etwa, wenn ich das Niveau der politischen Auseinandersetzungen als einen der Gründe benenne, weshalb ich mich mit Politik ungern beschäftige. Mir ist – neben der Abwesenheit wirklicher Diskussionen – zudem die Inszenierung von Politik unangenehm, das Anbiedern, die Schauspielerei, der Politiker (im besten Fall ein Visionär, im schlechteren der unbegabte Leiter einer Behörde) sei eigentlich ein Jedermann und unterscheide sich nicht von seinen Wählern. Ich leide bei derlei Bildern stets ein wenig an der mit Händen zu greifenden Herablassung, die aus solchen Szenen spricht. Die Anderen, sagt man mir, wollen das aber so. Die Anderen wollen Politiker zum Anfassen (wie man so sagt), die auch in der Schrebergartenkolonie eine gute Figur machen. Die Anderen merken dabei angeblich nicht, dass man sie sehr sichtbar nicht als Gesprächspartner auf Augenhöhe betrachtet.

Für die Politik bedeutet dieser Glaube an die Beschaffenheit der Anderen eine große Versuchung, der sie keineswegs standhält. Gilt der größere Teil der Bevölkerung als dumm, so muss und kann das politische Handeln ihnen gegenüber nicht mehr verteidigt, diskutiert und gerechtfertigt werden. Wer glaubt, seine Wähler seien zu dumm, um überzeugt zu werden, wird um so mehr Kinder tätscheln, markige Rede halten oder derlei Dinge mehr. Nimmt man an, der Rest der Bevölkerung sei möglicherweise normal intelligent, aber zu klein, um Wahlen zu entscheiden, so wäre es unökonomisch, die Diskussion mit diesen Leuten zu führen.

Politik wird durch das Axiom der Dummheit der Anderen damit ein unernstes Geschäft, ein bißchen wie Waschmittelwerbung oder das Self-Marketing von Fernsehschauspielern. Diese dem Ernst der zu klärenden Fragen letztlich unangemessene Leichtigkeit ist dem politischen Betrieb nun aber nicht peinlich. Aus irgendwelchen, von außen schlecht durchschaubaren Gründen, ist man vielmehr stolz auf die Annahme, Wahlen würden durch Manipulation dummer, eher ressentimentgetriebener, jedenfalls ein wenig subalterner Menschen gewonnen. Es mag sein, dass hierbei ein gewisses Überlegenheitsgefühl mitspielt, und wie immer, wenn eine These für denjenigen, der sie vertritt, sehr angenehm ist, wird am Glauben an die Dummheit der Anderen auch dann festgehalten, wenn er sich in der Praxis nicht bewährt, und die Anderen nicht dankbar, sondern ablehnend reagieren, wenn die Politik ihre vermeintlichen Affekte bedient: Statt das Axiom von der Dummheit der Anderen fallenzulassen, nimmt der politische Betrieb an, man sei ihr entweder noch nicht weit genug entgegengekommen, oder die Anderen hätten – dämlich wie sie sind – die Erfüllung ihrer Wünsche durch die Politik nicht verstanden. Das ist dann der Zustand, in dem das Schlagwort vom Vermittlungsproblem fällt.

Dass es aber möglicherweise die Anderen in dieser Form nicht gibt, dass die Mehrheit der Leute, die wählen gehen, großmütiger, mutiger, weltoffener und kreativer sind, als ihnen die Gewählten und ihr Tross zutrauen, dass Leute oft dann klug reagieren, wenn man ihre Klugheit anspricht: Dass bezeichnet der Betrieb gern kopfschüttelnd (aber Modeste!) als ein wenig naiv.

Ich glaube aber trotzdem, dass es stimmt.