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Aber anders

Dass ich ein ganz anderes Leben führen könnte, denke ich vor dem Spiegel und sehe mich an. In einer kleinen Stadt zum Beispiel seit zehn Jahren einen Job haben, morgens alle grüßen, die ich treffe, und am Sonntag mit zwei Kindern und dem Hund an der Leine um einen See spazieren. In einer großen Stadt leben, vielleicht auch das, richtig Karriere machen, so mit Dienstwagen und Fahrer und einem großen Haus. Oder Bilder malen, in Kreuzberg in einem Hinterhaus vielleicht, und mir ausmalen, wie es wäre, wenn einer kommt und etwas kauft.

Ganz anders könnte ich leben und vielleicht sein, denke ich mir und wasche die Hände. Etwas schaffen könnte ich wohl, was den Tag überleben würde und vielleicht auch mich. Ein Kind könnte ich haben, oder einen anderen Mann, viele Männer oder vielleicht auch Frauen. Verliebt könnte ich viel öfter sein und dafür selten aufgehoben, geborgen und warm. In einem anderen Land könnte ich sein und in einer anderen Sprache träumen.

Vorstellen kann ich mir all das, denke ich mir, und ziehe ein Papierhandtuch nach dem anderen aus der Box aus Blech an der Wand. Ausmalen lässt sich das alles, schön wäre auch das andere Leben vielleicht, aber wünschen, wünschen würde ich mir nichts, als das, was ich habe, auch wenn es nicht viel sein mag, nicht großartig auch, kein Rausch, kein Flug, kein Feuerwerk und kein Regenbogen, und nicht Wunsch und Traum, sondern vielleicht nur die Frucht von Gelegenheit, von Phantasielosigkeit und den Dingen, die eben einfach so sind.

Dort draußen am Walde

Im Frühling dann doch am liebsten aufs Rad. Die großen Straßen stadtauswärts fahren, weiter und weiter, bis die Häuser kleiner werden und einsam auf den Weiden stehen, als sprächen sie nicht miteinander und seien sich selbst genug, die Mauern verschleiert vom Weißdorn.

Die Alleen verlassen. Sich ganz zu verlieren zwischen Himmel und Feld, und die Knospen der Bäume so vorsichtig streicheln wie ein kleines, neugeborenes Tier. Auf dem feuchten Gras vor den Koppeln zu rasten. In den Abend zu fahren durch die beseelte Stille der Wälder, am Wasser vorbei hinter Schilf.

Ungern nach Haus, wenn es dunkel wird und kühler. Unterwegs die Straße noch einmal verlassen. Minutenlang am Feldessaum stehen, die Füße im Unkraut, und eine Handvoll fetter, schwarzer Erde in einem Beutel verstauen, um den großen Pan zu sich nach Hause zu locken, damit er die Flöte mir spiele den Sommer entlang bis zum Herbst.

Brüsseler Frost

Also … sage ich und schiebe mir einen Scheibe Aubergine auf die Gabel: Es war wahnsinnig kalt. Schön war es, keine Frage, aber gefroren habe ich wie der sprichwörtliche Schneider, und zwar ein nackter Schneider, und, um den in Brüssel herrschenden Grad der Kälte mit den unvollkommenen Mitteln der Sprache anzudeuten: Wie ein nackter Schneider in Sibirien.

Kalt war es schon im Flugzeug. Die J. und ich also Freitag um 7.05 ab Berlin nach Brüssel, zweite Reihe, natürlich komplett und bodenlos unausgeschlafen, wegen mehr oder weniger aus dem Büro nach Schönefeld. Mag sein, dass auch die Müdigkeit dem Frösteln Vorschub geleistet hat, aber ich habe schon unterwegs gefroren, als hätte ich nicht ein schwarzes Wolloberteil von Kookai an, sondern maximal einen Bikini.

In Brüssel dann weitergefroren. Durch den Flughafen durch, in den Bus, weiter Richtung Innenstadt, und dann an der Place Sablon erst mal gefrühstückt. Die C. noch im Büro, die J. und ich also zu zweit gefroren und hastig, wie man das halt so macht, wenn man elend friert, zunehmend blau durch die Brüsseler Innenstadt. Ich kannte Brüssel bisher quasi nur als Verwaltungssitz, also hin, Taxi, zur KOM, dann zurück und wieder ab nach Tegel. Diesmal dagegen: Sightseeing.

Mittags die C. getroffen und mit ihrem Schlüssel zu ihrer Wohnung. Ein Eispalast, Betonung: Palast. Wunderschön, üppiger Stuck, Stuckatur vom Boden an ein halber Meter, hohe Kamine, Riesenfenster. Die aber einfachverglast, und entsprechend alles sehr, sehr kalt. Die C. scheint wenig daheim zu sein und hat dem entsprechend wenig geheizt.

Trotz der Kälte ein bißchen geschlafen. Irgendwann dann komplett blaugefroren raus, an der Place Bruckman Tee getrunken, weitergefroren, bis dann irgendwann die C. auftaucht. Ab dann also Frieren zu dritt.

Ich ab nachmittags in meinen grauen Pullover. Ich habe nur einen Pullover, der wirklich warm ist, ein grauer Zopfstrick mit Rollkragen von Hugo, den ich trage, wenn Minusgrade herrschen, und ich muss trotzdem raus. Der Pullover ist ungefähr (nicht ganz) so sexy wie eine Burkha, ich fühle mich komplett geschlechtslos in dem guten Stück, und entsprechend trage ich den Pullover auch nur, wenn es wirklich, wirklich, wirklich nicht anders geht. Ich fühle mich dann auch nie so sonderlich wohl in dem Pullover, und habe bei solchen Temperaturen dann also die Wahl: Frieren im Pullover und sich fühlen wie die dicke Frau eines Mullah oder sich fühle wie man selbst, aber ab und zu fällt einem ein blaugefrorener Zeh aus den Schuhen.

Nachts dann bis zur Nase unter einer dicken Decke. Samstags dann weitergefroren, etwas besser immerhin, und beim Spazierengehen immer so ein wohl ausgewogenes Hin und Her zwischen Geschäften (warm), Straßen (kalt) und Cafés (wieder warm). Viel zu viel gegessen, aber das war klar.

Abends dann Muscheln, relativ viel Wein, drei Bars, bis in der letzten dann der J. zwei Schachteln Pralinen gestohlen worden sind, und diesmal nachts geschlafen wie ein Stein. Heute nur ein ganz bißchen gefroren vor einem Museum, auf dem Rückweg dann von Tim Krohn Irinas Buch der leichtfertigen Liebe gelesen und sehr gemocht und schließlich mit dem Taxi vorm Pappa e Ciccia vorgefahren.

Jetzt nach Hause, sage ich und bohre meine Gabel in das letzte Stück Hirsch. Aufwärmen. Nicht mehr frieren unter zwei Decken mit der Heizung auf mindestens 3. Träumen vom Sommer, ja: Vom Sommer.

Von der Taubheit

Ein bißchen müde, sage ich, aber das ist es nicht allein. Ein wenig betäubt, nicht sehr, nur, als seien die Füße eingeschlafen und lägen nun schwer und formlos unter dem Tisch.

Vielleicht ist es der Winter. Vielleicht ist es die Dunkelheit, vielleicht die Kälte, vielleicht die Ereignislosigkeit, aber vielleicht sterbe ich auch nur ab, vielleicht höre ich gerade auf mit So-Sein und werde anders, und dann wird es besser, schmerzloser, lichter vielleicht an einem anderen Ort unter Schatten.

Einhergeweht, mein Lieber

Dass man zu schnell lebt, denke ich mir, und sehe aus dem Fenster des Taxis in den Weinbergspark hinein, dem man nicht glaubt, wie warm er werden kann, im Juli, und wie flirrend und rot in der Hitze. Dass man immer ein paar Stunden langsamer ist als man selbst. Dass das Herz stets zu Fuß einhergeschlendert kommt, und nur die Glieder fliegen und fahren so eilig durch die Welt, als sei das zu irgendwas gut: Mittwoch morgen also nach Essen. Zwei Tage am Stück im Kunstlicht gesprochen und mich selbst aufgeführt in einer mittelmäßigen Inszenierung. Das Bühnenbild etwas absurd. Donnerstag abend zurück nach Berlin.

Donnerstag um neun dann am Hauptbahnhof ins Taxi, vom Taxi heim. Umgezogen, losgelaufen, im Klub der Republik Anselm Neft zugehört und trotz Müdigkeit und Schwere gelacht. Mir vorgenommen, viel Werbung für Anselms Buch zu machen. Zu viel Sekt getrunken und darauf gewartet, dass die Verlangsamung eintritt, die mit Sekt einzuhergehen pflegt, dass sich die Muskeln endlich lockern, und die Welt weich wird und warm. Meine Ankunft in mir erwartet wie man auf Züge wartet, bisweilen, in denen Menschen sitzen, die man mag. Auf der Damentoilette gestanden und mich angesehen und mich fremd gefühlt in meiner Haut. Ich hätte vielleicht nicht viel für mich über, träfe ich mich an der Bar.

Menschen getroffen, die ich mag, und andere, die ich vielleicht mögen würde, würde ich sie kennen. Irgendetwas gesprochen und sofort alles vergessen. Viel zu spät heim und Freitag entsetzlich müde. Gekocht, zu zweit, und früh zu Bett.

Am Samstag wieder zum Tierarzt. In Mitte fast einen Hosenanzug gekauft, und dann ganz froh gewesen, dass er nicht passte. In Hosenanzügen, das weiß ich, sehe ich aus wie ein Mann. Im YamYam in Mitte gegessen. Im Deutschen Theater Nina Hoss beim Verrücktwerden zugeschaut und hingerissen gewesen von soviel Kunst. Mit dem W., dem N. und dem J. in Rutz Weinbar gesessen, einen Grauburgunder, einen Bordeaux und einen Saumagenburger bestellt, und zu Fuß durch den Schnee bis nach Hause. „Ich bin noch nicht da“, gedacht. Die Stiefel ausgestopft mit Papier. Mit den Händen die Arme umfasst und gedrückt und sich gefragt, ob wohl andere Leute so ganz identisch mit sich durch die Straßen der Stadt spazieren, und ob das, was die anderen in Spiegeln sehen, von ihnen bewohnt und ausgefüllt wird, als seien sie wirklich das, wovon die Kleider scheinen und nicht irgendwo anders oder gar: Nicht ganz sie selbst.

Sonntag, 07.02.2010

Die Elbe ist schwarz. Irgendwo auf der anderen Seite des Flusses ziehen einsame Lichter weit ausgreifend Kreise durch die eisige Nacht.

Im Abteil aber ist die Luft abgestanden und warm. Neben mir lehnt die J. am Fenster in leichtem, schreckhaften Schlaf. Wir sind kurz vor Bad Schandau. Ein blondes, pausbackiges Mädchen liest der J. gegenüber einen historischen Roman, der schlecht aussieht, grob, bunt und billig, und ein kleiner Junge füllt Sudoku-Quadrate aus und sieht mich gelegentlich ernst und etwas abweisend an. Schöne Augen hat er, fällt mir auf, und ich lächele ihn an, und bedächtig, langsam und mit einer Würde, die älter scheint als er, senkt er den Kopf, um ihn wieder zu heben, und schaut mir prüfend einen Moment in die Augen und nickt.

Samstag, 06.02.2010

Prag ist fast leer. Oder besser: Prag ist ganz normal voll, wie eine hübsche, aber an sich unaufgeregte Stadt eben belebt ist an einem ganz normalen Samstag im Februar, und in den ungezählten Geschäften mit Souvenirs und böhmischem Glas stehen die Verkäuferinnen einsam und schauen an bunten, riesigen Vasen vorbei mit hängenden Armen ins Freie. Langsam wandern die J. und ich die Straßen entlang, vorbei an der Insel Kampa, durch ein paar Gässchen bis zu Národni třida, und dann sitzen wir im Café Louvre und essen Quiche und Salat.

Weil wir viel zu früh aufgestanden sind, alle beide, gähnen wir ab und zu ein bißchen und unterhalten uns mit den langen Pausen, die typisch sind für Leute, die sich schon lange, lange und gut kennen und nicht die ganze Zeit sprechen müssen, um zu demonstrieren, wie gut sie sich doch verstehen. Die J. hat Zahnschmerzen und nimmt ab und zu eine Tablette.

An den Straßen liegt zu Haufen zusammengekehrt alter, schwärzlicher Schnee. Wir zeigen uns gegenseitig besonders absonderliche Gegenstände in Schaufenstern, lachen und schauen uns um. Prag schwingt beidseitig der Moldau ruhig der Dämmerung entgegen, wir nehmen irgendwo auf der Kleinseite einen Aperitif und schauen über die Dächer der Stadt auf den Fluss herab, der Eisschollen führt und das stumpfe Schwarz des alternden Winters.

Im Restaurant Olympia essen wir Suppe und Braten, Rindfleisch in dichten, cremigen Saucen, Knödel und trinken einen weichen, roten, mährischen Wein. Das Essen ist solide, duftend und schwer, und besser als in vielen anderen Lokalen. Satt, sehr, sehr satt, laufen wir die Straßen herab Richtung Smichov.

Ich schlafe sofort. Kein Golem stört meine Träume.

Mittwoch, 03.02.2010

Gegen zehn nach neun treffe ich den R. vor dem Fahrkartenautomat in der U-Bahn. Den R. – obschon an sich gut befreundet – habe ich tagelang nicht gesehen, auch gestern abend war er nicht da, und so stürze ich auf den R. zu, erzähle dies und das und noch ein bißchen mehr, und dann frage ich ihn nach seinen Eltern. Seine Eltern waren zu Besuch, das hatte er uns erzählt letzte Woche, und wie immer winkt der R. ab. Anstrengend sei es gewesen.

Dann steigen wir in die Bahn.

Morgens ist die Bahn voller Leute, die zur Arbeit fahren. Ganz früh kommen die Männer in den Arbeitsjacken und die Frauen in ihren billigen Steppjacken über den Chenillepullovern. Dann tauchen Anzüge auf, die Anzüge werden besser, und dann, ab halb zehn ungefähr, wird es einerseits studentisch und andererseits alt.

Weil es noch nicht halb zehn ist, stehen um uns herum nun auch Leute, die ungefähr so aussehen wie wir. Jüngere Anzugträger, Leute mit Bürojobs, die Wert darauf legen, nicht dasselbe anzuhaben wie die Leute im Büro nebenan. Alles schaut stumpf gegen die schwarzen Fenster.

„Magst du dich setzen?“, fragt der R., und dann sitzen wir beide. „Weißt du eigentlich, wieso meine Eltern da waren?“, fragt der R. auf einmal, und ich schüttele den Kopf. Seine Eltern kommen doch öfter, überlege ich und schaue ihn an. – Er habe geheiratet, sagt der R. dann einfach so, und ich schaue ein wenig entgeistert. Nicht, dass mich so an und für sich wundert, dass der R. und die I. nun doch noch geheiratet haben. Gott, denke ich. Andere Leute heiraten auch. Aber so ganz ohne alles, so ganz ohne Freunde, ohne Feier, ohne Kleid, und nicht einmal mit beiden Eltern? Und wieso eigentlich heiraten, wenn es auch ohne Heiraten sichtlich gut ging die letzten zwanzig Jahre? Warum auch lichtet sich der Kreis der Unverheirateten mehr und mehr, und wie reagiert man eigentlich, wenn man ein klein wenig beleidigt ist, so einerseits, weil einem keiner vorher was sagt, und man andererseits sehr herzlich gratulieren will, weil die Ehe ja generell als erstrebenswert gilt.

„Herzlichen Glückwunsch! Das ist ja toll.“, trompete ich also und freue mich auf die verdutzte Miene des J.

Dienstag, 02.02.2010

Mittags beim Lieblingschinesen an der Jannowitzbrücke: Wasserspinat, Rindfleisch nach Bauern Art (also serviert in einer Schüssel mit heißem, scharf gewürztem Öl) und derjenigen Peking Suppe, die man bekommt, wenn man sie ausdrücklich verlangt. Nach dem Essen auf angenehme Weise schwer wie ein rundlicher, strahlender chinesischer Buddha. Mir selbst Blumen gekauft, weil es sonst keiner tut.

Abends durch die nass-kalte Straßen der Stadt. Gelacht. Auf dem Rückweg zwanzig, dreißig Minuten auf die M 1 gewartet, schließlich mit fast schon nassen Füßen in der Bahn einem Jungen gegenüber gesessen, der hohnvoll, fast verächtlich auf meine schmalen, schwarzen Stiefel aus feinem Leder sieht, auf meine Strumpfhosen und meinen Rock. Am Ende starrt er mir einen Moment ins Gesicht, feindlich fast, sehr von oben herab, und ich frage mich, was er in mir sieht, als ich nach Hause laufe von der Haltestelle um die Ecke durch die Dunkelheit, die Nässe und die fallende Nacht.

Montag, 01.02.2010

Um sieben stehe ich auf, um acht verpacke ich mit dem J. beide Katzen und schleppe die guten Tiere zum Arzt. Den ganzen Tag bin ich müde. So gut wie nie stehe ich vor 8.30 (auch gern einmal später) auf, und so fallen mir schon gegen zehn fast die Augen zu. Gegen eins wache ich kurz auf, um etwas zu essen, und halte mich dann bis gegen neun Uhr abends mühsam wach. Dann gehe ich nach Hause.

Zu Hause sitze ich wie ein Sandsack vor dem Rechner und blinzele den Monitor an. War schon alles einmal besser, werfe ich den Katzen vorwurfsvolle Blicke zu, weil sie schuld sind an dem unnatürlich frühen Tagesbeginn.

„Wir hätten uns das auch sparen können.“, maunzt Tilly zurück. Der J. ist unzufrieden, weil in den Bratnudeln mit Broccoli und Zwiebeln mit Ei kein Fetzen Fleisch und noch nicht einmal Tofu zu finden war, und ich liege dann doch erst nach zwölf im Bett und denke darüber nach, ob es mir so gefällt, das alles, und was wäre, wenn nicht.