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Journal :: 30.05.

Vom ordnungspolitischen Gewissen lese ich in der Zeitung und muss ein bißchen lächeln. Wenn alles, was von den Ideen des 20. Jahrhunderts übrig geblieben ist, sich in einer Handvoll Schlagworte erschöpft, hinter denen sich gleich einer Kulisse aus Pappe nichts mehr verbirgt, was die Macht über das Ja und Nein besäße, ist es so arg schlimm nicht (beschwichtige ich mein unpolitisches Gewissen), nur einmal die Woche oder seltener Zeitung zu lesen, und Nachrichten auf anderen Kanälen so möglich aus dem Weg zu gehen. Mir ist das alles von Herzen gleich.

Ein unendlicher Vorteil, höre ich von manchen, sei die Entkleidung des Staates von leitenden Ideen. Pragmatismus sei es, was verlässlicher leite als das Korsett einer feststehenden Vorstellung, wie Staatlichkeit auszusehen habe und welchen Zwecken der Staat zu dienen bestimmt sei. Doch abseits aller leisen Zweifel, ob Pragmatismus nicht vielleicht doch eher der Frage der richtigen Mittel als des richtigen Zwecks zuzuordnen sei – denn wie soll pragmatisch über die Frage des Wünschenswerten entschieden werden – muss, wie ich annehme, die Ablösung des Staates von einander widerstreitenden, stets konkurrierenden Ideen Staatlichkeit selbst, und nicht nur das staatliche Handeln, verändern:

Ist, so stelle ich mir vor und lasse die Zeitung sinken, der Staat stets eine Einheit gewesen, die nicht identisch mit ihren Repräsentanten war, so wie der Körper des Königs nicht identisch war mit dem Königtum und seiner Macht, so muss es etwas geben, was den Kanzler unterscheidet von der Regierung, den Präsidenten vom Notariat dieses Staates. Solange jeder Politiker – wie unvollkommen auch immer – als Exponent einer Idee, des Konservatismus, der Sozialdemokratie wie auch immer, agiert, bezieht er seinen zweiten Körper aus der überzeitlichen Idee einer gerechten, guten, angemessenen, möglicherweise sogar heilsbringenden Herrschaft. Ruht der Repräsentant von Herrschaft aber nicht mehr auf einer Idee, die dies vermittelt, so bringt er in die Ministerien von Mitte, in all den Stein des Regierungsviertels an der Spree, nicht mehr mit als sich selbst: Zwei Arme, zwei Beine. Mit Glück ein wenig Verstand.

Der überzeitliche, der neuzeitlich-rational überprägt sakrale Corpus jedoch wird nicht ungestraft vergessen. Im Moment der Entscheidung zwischen gleich funktionalen, aber unterschiedlichen Alternativen liegt die Leerstelle frei. Wer kann, wird diese mit Persönlichkeit füllen. Individuelles Charisma jedoch überhöht nur den einen, den persönlichen, den fleischlichen Körper des Politikers, aber schafft keine von individuellen Faktoren unabhängige Idee, was der Staat sein könne und was er ist. Der ideale Exponent dieses Konzepts ist der Fürst der Renaissance, der Freibeuter des Staates.

Die starke Persönlichkeit jedoch ist unwählbar. Sie herrscht nicht von Gottes Gnaden, sondern aus der eigenen Stärke, Ausstrahlung, Gerissenheit und Intelligenz im Umgang mit den Beherrschten heraus. Stellt sie den Standard von Staatlichkeit dar, so wird ein Friedrich Ebert unwählbar, ein Martin Schulz (so heißt der Fraktionsvorsitzender Sozialdemokratischen Parteien im EP) zur lächerlichen Figur. Die starke Persönlichkeit zersetzt damit den demokratischen Glaubenssatz, jeder sei – guter Wille und Können vorausgesetzt – ein denkbarer Herrscher. Wie so etwas schiefgehen kann, beobachte ich – mit viel Vergnügen am Burlesken, wie ich zugeben muss – in Italien. Selbst wenn es gutgeht, wäre ein bißchen Sorge dabei, würde ich über derlei Dinge mehr nachdenken, als ich es tue, die ich nur alle paar Wochen Zeitung lese, wie heute, im Zug heim nach Berlin.

(Und jetzt gehe ich aus.)

Journal :: 29.05.

Alle Schaufenster sind voller Chucks. Meine Chucks indes sind verschwunden, einfach und spurlos weg, und vergeblich frage ich mich, wie ein paar türkisblaue Schuhe sich einfach in Luft auflösen können. Sonderbarerweise ist offenbar genau das passiert.

Weil alle Schaufenster voller Chucks stehen, halte ich das aber für kein Problem. Ich gehe also ins nächste Geschäft, ich frage nach neuen Chucks – beige sollen sie sein, Größe 37 – und sehe die Verkäuferin fragend an. Sie nickt und geht nach hinten. Fünf Minuten später erhalte ich die Auskunft, die Schuhe seien aus. Verkauft, nie bestellt – jedenfalls: Nicht mehr da.

Ich gehe ins nächste Geschäft. Ich frage, die Verkäuferin nickt, alles wiederholt sich: Die Schuhe sind weg. – Bin ich in der DDR?, frage ich mich. Das großartige an der Marktwirtschaft ist doch, dass jeder Nachfrage auch ein Angebot gegenübersteht, aber es bleibt auch im dritten Geschäft dabei: Keine Chucks in beige. Keine Größe 37. Leicht belämmert ziehe ich ab. Vor lauter Frustration kaufe ich eine dieser neuen, taillierten Barbour-Jacken, die viel besser aussehen als die klassischen Jacken, von denen ich eine seit fast zehn Jahren trage, weil sie immer schöner wird mit jedem Jahr. Chucks aber sind hier nicht zu wollen.

Die Marktwirtschaft ist auch nicht mehr das, was sie mal war.

Journal :: 27.05.

Im EC aus Wien gibt es noch Sechserabteile. In den Abteilen gibt es Cordsitze, vor den Abteilen hängen Vorhänge, und im Abteil bin ich ganz allein. Vor mir hat jemand Bier getrunken und die Kronen-Zeitung gelesen, aber bis Hamburg stört niemand meine Ruhe.

Ein bißchen lese ich, ein bißchen singt Lotte Lehmann Richard Strauss, und vor den Fenstern sinkt die Sonne über der unfassbaren Leere hinter Berlin. Schnurgerade streben die Ackerfurchen grau vom Schienenstrang zum Horizont, in strenger Linie reihen sich die Ähren, und selbst die Bäume wirken zurückgenommen und hager. Der Boden staubt.

Wie es wäre, hier zu leben, male ich mir aus und stelle mir etwas Wortloses vor, schmallippig und hart. Was die Leute hier wohl abends machen, wovon sie träumen, was sie sich erhoffen, und ob sie finden, wonach sie suchen, frage ich mich. Man weiß am Ende gar nichts von anderen Menschen, stelle ich fest, und niemand sagt einem, wie es ist, hier groß zu werden, nicht fortzugehen und später hier – was? – zu werden. Was die Menschen, überlege ich weiter, hier hält. Was sie denken über Leute wie mich und meine Freunde. Ob man hier etwas verpasst, was wir finden in den großen Städten, und auch: Was man findet, im Nichts um Berlin, in den Furchen der Äcker und am Rande der stillen Alleen, wovon ich nichts weiß und nichts wissen werde und vielleicht: Nichts wissen kann.

Journal :: 26.05.

Die Straßen sind noch naß, als ich das Büro verlasse. Es ist wärmer, als ich angenommen habe in meinem klimatisierten Büro. Die Luft ist reingewaschen vom Regen, und die Stadt schimmert vor Feuchtigkeit und Frische.

Wie ein Abend am Meer fühlt Berlin sich an, als ich fahre. Windig und weich streicht mir die Luft um die Beine, und die Flusen der Pappeln sind endlich verschwunden. Erleichtert um den Druck des schwül-warmen Morgens lächeln die Radfahrer einander zu an den Ampeln, und der Sommer breitet weit die Arme aus, als sei es abgemachte Sache, dass nach Donner und Blitz, nach Mühen und den Wirren langer Tage ein Fest auf mich wartet, Fontänen und Feuerwerk, und die Blüten der Bäume sich öffnen, voll von Honig, von Duft und saftigen Früchten im Herbst.

Journal :: 23.05.

Keiner weiß, was die Berliner Brasilianerinnen beruflich gemacht haben, bevor eine nach der anderen Enthaarungsstudios eröffnet hat. In jeder Straße gibt es ungefähr zwei. In den meisten Studios werden auch andere kosmetische Behandlungen angeboten, aber keins der Studios, stelle ich fest, will mich verschönern. Zumindest nicht heute: Da, wo ich einen Termin habe, ist die Kosmetikerin erkrankt, da wo ich keinen Termin habe, ist keiner mehr frei, und so sitze ich haarig und mit schief geschnittenen, splitternden Nägeln mit Rillen auf meinem Bett und rufe irgendwo an. Zwischendurch gehe ich eine Stunde zum Pilates, kaufe kurz ein, und dann telefoniere ich weiter. „Ich kann so kaum vor die Tür!“, versuche ich die Angestellten von Kosmetikstudios zu überzeugen, an mir ein wohltätiges Werk zu tun, und schließlich bin ich erfolgreich. Es war das achte Telefonat.

Eigentlich mag ich keine Kosmetikstudios mit medizinischer Aura. Ich mag die Alte-Damen-Läden mit Tüllgardinen und dicken Puderquasten und Zerstäubern aus buntem, geschliffenem Glas, in denen es nach Lavendelwasser riecht. In meiner Situation indes wäre ich sogar in die Charité gefahren, wenn man mir da die Fußnägel schneiden würde. Ich schließe also fest die Augen und überlasse mich in durchaus klinikähnlichem Interieur einer Braslianerin mittleren Alters, die alles über Fernsehserien weiß, in denen Mädchen Models werden wollen. „Ich dachte, Modeln ist seit den Neunzigern vorbei?“, frage ich irgendwann, aber liege offenbar falsch. Die Kosmetikerin findet Models super.

In der Nachbarkabine quatscht ganz offensichtlich eine schon vor zehn Jahren eher mittelmäßg geschätzte Studienkollegin irgendetwas Irrsinniges über Kunst. Die Kosmetikerin spricht über ein Mädchen, das einen Preis für gutes Aussehen gewonnen hat, und in der ZEIT erbost sich Adam Soboczynski über die verderblichen Auswirkungen der Dummheit derjenigen, die sich im Internet äußern, als sei die Dummheit mit dem Netz entstanden, und nicht vom Anbeginn der Welt an dagewesen und artikuliere sich jetzt nur halt etwas lauter. Ein steter Quell des Entzückens über Dummheit und fehlende Distanz zu eigenen Positionen ist mir in diesem Zusammenhang – hier soll es einmal erwähnt werden – übrigens das Kommentatorenwesen auf FAZ.NET: Ein verlässlicher Garant guter Laune.

Wer aber von derlei Dummheit im Internet dümmer wird, denke ich und überlasse meine Füße einer merkwürdigen Maschine, die Hornhaut abflext, darf eigentlich morgens nicht vor die Tür aus Angst, in der U-Bahn pro Fahrt ob der strunzdummen Umgebung bis zu zehn IQ-Einheiten einzubüßen. Dummheit im Netz, überlege ich mir und wähle sorgfältig zwischen unterschiedlichen Nagellackfarben, ist am Ende ähnlich leicht zu umgehen, wie Dummheit an irgendwelchen anderen Orten. Man muss da ja nicht hin.

Dummheit in einem Kosmetiksalon ist allerdings nur dann zu vermeiden, wenn man nicht mit Papierstreifen zwischen den Zehen und einer Feile auf den Fingernägeln auf dem Behandlungsstuhl sitzt. Die Kosmetikerin quatscht trotz Zeitung einfach weiter, lässt sich weder von einem laufenden IPod noch von mehreren mitgeführten Periodika beeindrucken, und so gehen im Zuge der sorgfältigen Hand- und Fußpflege eine Modelshow, die Zeitschrift für Umweltrecht und das Süddeutsche Magazin eine nicht wenig reizvolle Verbindung ein. In der Nachbarkabine schwadroniert meine Ex-Kommilitonin noch immer über Kunst, dass die Schwarte kracht.

Als der Lack auf meinen Nägeln trocken ist, reicht man mir einen Tee. Vorsorglich, und um meine neu erworbene Zehennagelschönheit nicht zu gefährden, wickelt die Kosmetikerin meine Zehen sogar noch in eine Art Klarsichtfolie ein. Dann bin ich entlassen.

Journal :: 22.05.

Der Duschschlauch ist gerissen. Der Duschkopf selbst ist zwar intakt, allerdings geht das obere Ende des Duschschlauchgewindes nicht mehr aus dem Kopf heraus, und außerdem hat der Duschkopf von Anfang an nicht so funktioniert, wie ich mir das vorgestellt hatte. Weil es sich aber ohne Dusche schlecht leben lässt, fahre ich gegen Mittag zum Baumarkt. Aus irgendwelchen Gründen gibt es allerdings im ganzen Prenzlberg keinen Baumarkt, man muss also die Greifswalder Straße ziemlich weit Richtung Norden fahren, am S-Bahnhof vorbei, und dort, wo die Leute schon ganz schön – nun: anders – aussehen, als zwischen Kollwitz- und Helmholtzplatz ist dann der Obi.

Wie alle Baumärkte ist der Obi extrem sachlich gestaltet. Vielleicht hat das Klientel des Obi keinen Sinn für die Bedeutung schön eingerichteter Geschäfte. Vielleicht betrachtet der Kundenkreis eine ansprechende Darbietung der Waren – Werkzeug etwa, Farben, Parkett, Leisten oder Waschbecken – als pekuniäre Verschwendung, aber im bleichen Licht des Baumarkts in einer sehr hohen, an ein Lager erinnernden Halle sehen die angebotenen Duschköpfe und Duschschläuche alle irgendwie dubios und ein bißchen billig aus. Durchaus unschlüssig stehe ich vor dem Regal und kann mir nicht vorstellen, dass irgendetwas hier wirklich funktioniert und sich gut anfühlt. Zudem überfordert mich die Produktpalette. Zwischen € 9,95 und € 99,79 ist hier alles zu haben. Die Duschköpfe sind alle verstellbar, sie tragen alle Namen, die den naturhaften Charakter des durch ihren Einsatz erreichbaren Duscherlebnisses andeuten, wie etwa „Saar“, „Isar“ oder – ganz international – „Amazonas“. Die anderen Namen habe ich vergessen.

Nach fünf Minuten kommt ein Verkäufer zu mir. Er ist vielleicht fünfzig, trägt einen Bart und ist klein und quadratisch. Er rät mir zu „Amazonas“, denn da (junge Frau) hätte ich was Ordentliches und det billije Zeuch sei allet Nippes. Ziemlich teuer ist Amazonas, aber gut, ich habe schließlich keine Vorstellung von den angemessenen Kosten einer Duschvorrichtung, und so schicke ich mich an, mit „Amazonas“ und einem passenden Schlauch zur Kasse zu gehen. In diesem Moment allerdings taucht ein anderer Mann auf, den ich erst für einen Verkäufer ohne Schild und in Zivil halte, dann aber als Kunden identifiziere. „Amazonas“, erfahre ich, sei schlecht. Die Schwägerin des anderen Kunden habe nämlich „Amazonas“ gekauft (nein: sei zu Amazonas überredet worden), und dann habe „Amazonas“ nach nur vier Monaten zudem nicht überzeugender Performance die Funktion eingestellt. Ein längeres Gespräch entspinnt sich über nicht geltend gemachte Garantien und Montagsmodelle. Ansonsten funktioniert „Amazonas“, wie ich vom Verkäufer höre, nämlich sehr gut.

Nach Ansicht eines weiteren, allerdings sofort weiterschlendernden Herrn mit zwei Farbeimern in der Hand sollte ich auf den ganzen Tinnef verzichten. Was er damit meint, bleibt leider offen, weil der unbekannte farbenkaufende Kunde die Kritik nicht mit konstruktiven Vorschlägen verbindet, zu welchem Modell ansonsten zu greifen sei. Mit „Amazonas“ in der einen und einem anderen Modell in der anderen Hand stehe ich, unschlüssiger denn je, vor dem Regal mit dem Sanitärbedarf und schaue mich hilfesuchend um.

Der Verkäufer nimmt einen anderen Duschkopf in die Hand und schüttelt ihn fachmännisch. Meiner Ansicht nach passiert da gar nichts, aber ich scheine mich zu täuschen, denn der Verkäufer und der andere Kunde sprechen über das Ergebnis dieses offenbar auf Qualitätskontrolle ausgelegten Verhaltens, als sei allgemein bekannt, dass man die Güte von Duschköpfen nicht anders prüfen kann als durch energisches Schütteln.

„Ich nehme den.“, schüttele ich daher entschlossen auch „Amazonas“. Nun scheint aber auch der Verkäufer von diesem Duschkopf nicht mehr überzeugt zu sein, denn einladend wird mir ein dritter Duschkopf präsentiert. Er ist gleich teuer und sieht eigentlich identisch aus. „Von mir aus.“, reiße ich mich daher los und stürme zur Kasse. Der Verkäufer und der andere Kunde bleiben bei den Duschköpfen zurück.

(Ansonsten mit dem J. im Anna Blume gefrühstückt. In der Zeit gelesen, dass es tatsächlich – man denke – einen Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Gershon Scholem gab. Mit der C. und dem M. erst in der Oderquelle, dann im Liebling. Wie immer zu viel gegessen. Gelacht.)

Journal :: 21.05.

Die C. geht nach Brüssel. Wenn man macht, was sie macht, sei das der logisch nächste Schritt, und zudem strenge es sie an, die ganze Zeit gefragt zu werden, wieso sie keine Kinder habe mit inzwischen 36, höre ich mit Bedauern. Rund um die C. herum wimmelt es gerade vor kleinen Kindern und schwangeren Frauen.

Im Fleury laufen gleichfalls Kinder en masse herum. Lauter lässige, gut gekleidete Mütter mit teuren Sonnenbrillen und den Tuniken, die im Lafayette kürzlich nicht gekauft habe, weil der J. sie nicht mag, schieben ihre Kinderwagen zwischen den engen Tischen hindurch. Hübsche Kinder haben die fremden Frauen, lockige, kleine Prinzessinnen im Mini-Trenchcoat und blonde Buben im Fischerhemd, die schon mit drei irgendwie pfiffig und sehr, sehr gut gewaschen aussehen, und einen Moment frage ich mich, was man wohl macht, wenn man einsehen muss, dass das eigene Kind optisch deutlich hinter den anderen zurückbleibt, aber wahrscheinlich ist das Quatsch.

Rechts und links kommen und gehen Leute. Die C. und ich sitze fünf Stunden am Fenster im Fleury, bestellen ab und zu etwas nach, ziehen uns die weiß-blauen Kissen so hin, dass wir auf der Bank mehr liegen als sitzen, und sprechen über unsere Jobs, die Männer unseres Lebens, gutes Essen und Reisen und unsere Mütter. Als es aufhört zu regnen, brechen wir auf.

Im Kauf Dich Glücklich essen wir Waffeln. In den letzten Jahren hat das provisorisch anmutende Interieur mancher Cafés etwas Steriles angenommen, fällt mir auf. Die Sperrmüllmöbel haben ihren unschuldigen Charme verloren und wirken nun, als handele es sich um Teile einer ganz besonders raffinierten Inszenierung, und vielleicht ist das auch wahr. Vor uns sitzt eine Handvoll Nachwuchspolitiker der FDP, junge Männer Mitte dreißig in den gekrempelten Hemden der Juristen außer Dienst. Das gut Gewaschene haben sie mit den kleinen Jungs aus dem Fleury gemeinsam, fällt mir auf, aber ich weiß nicht, wie ich das Verbindende benennen kann und lasse es deswegen bleiben. Die C. und ich verabreden uns auf morgen abend oder Sonntag und brechen auf, jeder nach Hause. Inzwischen ist es sieben.

Im fluido drei Stunden später gibt es keine Kinder. Überhaupt hat von meinen engen Freunden niemand ein Kind, aber die M., wie ich höre, überlegt das zu ändern. Ihr Job sei langweilig und ein Jahr Auszeit gar nicht schlecht. „Nicht gerade der beste Grund für Nachwuchs.“, höre ich mich sagen, und der J. und der M. nicken energisch. Der M. habe zudem kein Interesse an dem zusätzlichen zeitlichen Aufwandsposten, fügt er hinzu.

Vielleicht ist es gar nicht das Kind, überlege ich mir und trinke hintereinander einen Tijuana Sling und einen Jaffa Smash Royale und einen Sekt auf Eis. Vielleicht ist es der Neuanfang, den die Leute suchen, die Kinder haben. Vielleicht ist es auch die Pause, das Sabbatical, und die M. ist nur ein bißchen ehrlicher als andere. Vielleicht haben auch andere Leute ihr Leben satt, vielleicht langweilen sich alle Leute über 30 in ihren festgefügten, ordentlichen Existenzen. Vielleicht wachen alle Leute morgens auf wie ich nach manchen Nächten, und fühlen sich leer, weil alle Anfänge längst verbraucht sind, und nichts Neues mehr kommt, was sich nicht anfühlt wie etwas längst Bekanntes. Vielleicht bekommen die Anderen vor lauter Angst vor den ewigen Wiederholungen und der Langeweile Kinder, und dann sehen die Kinder doch nur wieder aus wie die jungen Männer von der FDP.

Journal :: 20.05.

Durch den Abend streifen, im Liebling ein Glas Sekt trinken, im Lass uns Freunde bleiben ein Glas Weißwein, kreuz und quer die Straßen entlang zu laufen, die alle voll sind, so voll, als sei in den Häusern niemand, und die hellen Fenster nichts als Lüge.

Niemals nach Hause zu gehen, stelle ich mir vor, immer weiter zu spazieren durch die Nacht, und dann doch – auf einmal müde von den vielen Stunden am Schreibtisch – aufstehen, heim, im Bett zu liegen, noch ein bißchen zu tippen, und zu spüren, wie die Welt sich verlangsamt, die Fäuste sich öffnen, und die Welt für einen Moment, einen Abend vielleicht, stehen bleibt wie ein Läufer irgendwo entlang des Weges.

Journal :: 19.05.

Die rechte Fahrbahn ist gesperrt, und das Gate schließt in zehn Minuten. Nervös kralle ich meine Fingernägel in die Nackenstütze vor mir. Fahren sie schneller, denke ich erst, dann sage ich es auch, und weil ich wirklich sehr verzweifelt bin, gibt der Taxifahrer tatsächlich Gas. Erst über einen Supermarktplatz, dann über eine Tankstelle. Schließlich über ein Stück Baustelle, ein paar Meter Fahrradweg, und dann geht es wieder voran. Zwanzig Euro werfe ich nach vorn, hasche nach der Quittung und checke in letzter, wirklich allerletzter Minute ein. Es ist morgens, kurz vor zehn. Noch einmal gut gegangen.

Auf dem Rückweg abends um acht ist es dann gemütlich. Langsam schaukelt der Wagen von Tegel in den Prenzlberg, ab und zu fallen mir die Augen vor, und als ich vorm Pappa e Ciccia stehe, zähle ich in aller Ruhe Geld ab, wünsche noch einen schönen Abend und lasse mich auf die Holzbank des Restaurants fallen. Spaghetti Vongole, bestelle ich. Einen Wein. Zur Feier des Tages gibt es eine Crème Caramel.

Um halb elf sitze ich wieder am Schreibtisch.

Journal :: 18.05.

Neun Kilo habe ich seit Weihnachten abgenommen, behauptet die Waage. Leider sieht man nichts. Oder nur ganz wenig. Frisch geduscht stehe ich vor dem Spiegel, kneife mir in die Seiten, beuge mich vor und zurück und frage mich, was man eigentlich machen muss, um so auszusehen, wie man aussehen will, oder ob das gar nicht geht. Irgendwie habe ich am Bauch immer noch mehr Speck als Muskeln.

„Findet ihr, ich mache mir zu viel Gedanken um mein Aussehen?“, frage ich die Lieblingskollegen mittags beim Sushi. Aber nein, sagen beide brav im Chor. Es hört sich irgendwie verdächtig an. Ob eine weitere Gewichtsabnahme empfehlenswert sei, frage ich daher nicht. Als ich nach Hause komme, schaue ich bei Google nach, was man eigentlich idealerweise wiegt, wenn man so groß ist wie ich. Leider ist das Internet bei den wirklich ernsthaften Fragen des Lebens auch diesmal keine große Hilfe.

Nach sechs soll man nichts mehr essen, habe ich gehört. Andere Stimmen dagegen behaupten, die Uhrzeit sei egal. Weil ich eh nie vor neun zu Hause bin, beschließe ich, die zweite Ansicht sei zutreffend, richte Salat mit Huhn an, backe eine Brezel auf, und sollte zu Bett gehen, als ich doch noch – nur für eine halbe Stunde, sage ich mir – ins Lass uns Freunde bleiben gehe, mit dem J. und dem M.2 erst eine Weinschorle und dann einen Sekt trinke, über Politik und Cabrios lache und schließlich zu spät zu Hause bin, wie immer.

Es ist zwanzig nach eins. Der Tag wird lang.