Vom ordnungspolitischen Gewissen lese ich in der Zeitung und muss ein bißchen lächeln. Wenn alles, was von den Ideen des 20. Jahrhunderts übrig geblieben ist, sich in einer Handvoll Schlagworte erschöpft, hinter denen sich gleich einer Kulisse aus Pappe nichts mehr verbirgt, was die Macht über das Ja und Nein besäße, ist es so arg schlimm nicht (beschwichtige ich mein unpolitisches Gewissen), nur einmal die Woche oder seltener Zeitung zu lesen, und Nachrichten auf anderen Kanälen so möglich aus dem Weg zu gehen. Mir ist das alles von Herzen gleich.
Ein unendlicher Vorteil, höre ich von manchen, sei die Entkleidung des Staates von leitenden Ideen. Pragmatismus sei es, was verlässlicher leite als das Korsett einer feststehenden Vorstellung, wie Staatlichkeit auszusehen habe und welchen Zwecken der Staat zu dienen bestimmt sei. Doch abseits aller leisen Zweifel, ob Pragmatismus nicht vielleicht doch eher der Frage der richtigen Mittel als des richtigen Zwecks zuzuordnen sei – denn wie soll pragmatisch über die Frage des Wünschenswerten entschieden werden – muss, wie ich annehme, die Ablösung des Staates von einander widerstreitenden, stets konkurrierenden Ideen Staatlichkeit selbst, und nicht nur das staatliche Handeln, verändern:
Ist, so stelle ich mir vor und lasse die Zeitung sinken, der Staat stets eine Einheit gewesen, die nicht identisch mit ihren Repräsentanten war, so wie der Körper des Königs nicht identisch war mit dem Königtum und seiner Macht, so muss es etwas geben, was den Kanzler unterscheidet von der Regierung, den Präsidenten vom Notariat dieses Staates. Solange jeder Politiker – wie unvollkommen auch immer – als Exponent einer Idee, des Konservatismus, der Sozialdemokratie wie auch immer, agiert, bezieht er seinen zweiten Körper aus der überzeitlichen Idee einer gerechten, guten, angemessenen, möglicherweise sogar heilsbringenden Herrschaft. Ruht der Repräsentant von Herrschaft aber nicht mehr auf einer Idee, die dies vermittelt, so bringt er in die Ministerien von Mitte, in all den Stein des Regierungsviertels an der Spree, nicht mehr mit als sich selbst: Zwei Arme, zwei Beine. Mit Glück ein wenig Verstand.
Der überzeitliche, der neuzeitlich-rational überprägt sakrale Corpus jedoch wird nicht ungestraft vergessen. Im Moment der Entscheidung zwischen gleich funktionalen, aber unterschiedlichen Alternativen liegt die Leerstelle frei. Wer kann, wird diese mit Persönlichkeit füllen. Individuelles Charisma jedoch überhöht nur den einen, den persönlichen, den fleischlichen Körper des Politikers, aber schafft keine von individuellen Faktoren unabhängige Idee, was der Staat sein könne und was er ist. Der ideale Exponent dieses Konzepts ist der Fürst der Renaissance, der Freibeuter des Staates.
Die starke Persönlichkeit jedoch ist unwählbar. Sie herrscht nicht von Gottes Gnaden, sondern aus der eigenen Stärke, Ausstrahlung, Gerissenheit und Intelligenz im Umgang mit den Beherrschten heraus. Stellt sie den Standard von Staatlichkeit dar, so wird ein Friedrich Ebert unwählbar, ein Martin Schulz (so heißt der Fraktionsvorsitzender Sozialdemokratischen Parteien im EP) zur lächerlichen Figur. Die starke Persönlichkeit zersetzt damit den demokratischen Glaubenssatz, jeder sei – guter Wille und Können vorausgesetzt – ein denkbarer Herrscher. Wie so etwas schiefgehen kann, beobachte ich – mit viel Vergnügen am Burlesken, wie ich zugeben muss – in Italien. Selbst wenn es gutgeht, wäre ein bißchen Sorge dabei, würde ich über derlei Dinge mehr nachdenken, als ich es tue, die ich nur alle paar Wochen Zeitung lese, wie heute, im Zug heim nach Berlin.
(Und jetzt gehe ich aus.)